Unser Buchtipp: Der Skandal der Skandale
Bernd Hagenkord - Vatikanstadt
VN: Herr Lütz, Sie schreiben viele Bücher, die meisten davon sind bekannt dafür, dass sie Bestseller werden, haben meistens auch was mit dem Christentum zu tun, und Sie haben immer eine Perspektive, die ein bisschen gebrochen ist, ein bisschen ironisch, ein bisschen witzig. Ich erinnere mich an „Die kleine Geschichte des Größten“ zum Beispiel. Diese Schriften geben gerne Perspektiven auf die Dinge, die man so nicht gewohnt ist. Jetzt haben Sie ein Buch „Der Skandal der Skandale“ (das Wort des Katholizismus der letzten Jahrzehnte, alles ist skandalisiert) veröffentlicht – Aber Sie sprechen vom Skandal der Skandale. Der Skandal besteht darin, dass die Skandale keine Skandale waren, sondern dass die Skandale skandalisiert werden?
Lütz: Nein, so wäre das nicht. Es sind ja wirklich Skandale in der Kirchengeschichte gewesen. Aber ich finde tatsächlich, dass wenn man die Christentumsgeschichte nur als Skandalgeschichte liest, dass dann das Christentum am Ende ist. Es ist ja so, dass de facto, die Christen sich für ihre eigene Geschichte sicherheitshalber schämen, ohne sie zu kennen. Ich habe selber fünf Jahre Theologie studiert und habe dann vor zehn Jahren das Buch „Toleranz und Gewalt: Das Christentum zwischen Bibel und Schwert“ von Arnold Angenendt, ein brillantes Buch, 800 Seiten stark, 3.000 Anmerkungen, gelesen. Dann bin ich zu verschiedenen Verlegern gegangen und habe gesagt: „Ihr müsst da mal eine Kurzfassung draus machen, nehmt euch einen Historiker, der das kurz fasst, damit das eine breitere Öffentlichkeit erfährt.“ Es geht um Hexenverfolgungen, Kreuzigungen etc. – ich wusste das vielfach selber nicht, obwohl ich mich intensiv mit Kirchengeschichte beschäftigt habe. Da hat mir der Herder Verlag gesagt: „Machen Sie das doch.“ Auf die Idee war ich ehrlich gesagt gar nicht gekommen. Ich habe tatsächlich einige Bestseller geschrieben und habe auch Theologie studiert und interessiere mich immer sehr für historische Zusammenhänge und habe dann, mit Arnold Angenendt zusammen, diese Kurzfassung gemacht, auf 286 Seiten, alle Skandale der Christentumsgeschichte auf dem heutigen Stand der Wissenschaft. Da mir klar war, dass gegebenenfalls auch die Fachwelt über einen Bestseller herfällt, habe ich es von führenden deutschen Historikern lesen lassen, damit auch alles stimmt – aber auch von meinem Friseur, damit es locker bleibt. Denn es wird ja immer gejammert, dass die Menschen so etwas gar nicht mehr lesen. Daher denke ich, dass es auch darauf ankommt, wie man es verpackt und ob es auch Substanz hat. Ich glaube, dass die Menschen interessiert sind an wirklichen Informationen. Es gibt zum Beispiel „Kriminalgeschichte des Christentums“ von Karlheinz Deschner, das kann man machen wissenschaftlich. Man kann – wie er es gemacht hat – alles Kriminelle aus 2000 Jahren akribisch zusammen sammeln. Man kann auch eine Heiligengeschichte des Christentums mit allen Lichtgestalten schreiben. Beides wollte ich eben nicht machen. Sondern ich wollte den heutigen Stand der Forschung über die zentralen Fragen der Christentumsgeschichte, die heute vielfach als Skandale empfunden werden, auch wenn es wirklich Skandale waren, (die Kreuzzüge z.B. waren ein Skandal), wiedergeben.
Was ich beispielsweise nicht wusste und erst bei Angengendt gelernt habe, ist, dass das Christentum in den ersten 1000 Jahren die einzige Religion war, die wegen des Unkraut-Weizen-Gleichnis keine Ketzer getötet hat, wo Jesus sagt, „Ihr dürft das Unkraut nicht hier ausreißen, sondern das müsst ihr dem Lieben Gott am Jüngsten Tag überlassen.“
VN: Sie haben es eben schon versteckt in einem Nebensatz anklingen lassen: Ihre Grundannahme ist ja, dass wir das Christentum gar nicht so richtig kennen und wir uns vorschnell für die Geschichte schämen. Ist das nicht ein bisschen steil zu behaupten, dass die bekannteste Sache in unseren religiösen Haushalten, das Christentum, unbekannt ist?
Lütz: Naja, das hat ja schon Sherlock Holmes gesagt: Die sicherste Stelle, etwas zu verstecken, ist mitten im Raum. Tatsächlich ist das Christentum mitten im Raum, aber es ist unbekannt. Das Buch beginnt mit dem Satz: „Das Christentum ist die unbekannteste Religion der Welt“ und zwar nicht, weil es zu wenig Informationen gibt, sondern es gibt eine Fülle von Informationen, die aber zum großen Teil FakeNews sind. Dem Buch ging es darum, das aufzuklären. Die Reaktionen auf das Buch sind höchstspannend. Es gibt Atheisten, die schreiben im Internet, dass sie normalerweise nur Bücher kritisieren würden, die sie schon gelesen haben, aber hier würden sie eine Ausnahme machen, sie würden es kritisieren, obwohl sie es nicht gelesen hätten, das gehe ja nun gar nicht, dass man irgendetwas rechtfertige. Dabei rechtfertige ich überhaupt nichts. Sondern ich zitiere, nach Angenendt, die führenden Forscher (das sind häufig atheistische Forscher), die zum Beispiel feststellen, dass die Hexenprozesse vor weltlichen Gerichten stattfanden und die Kirche versucht hat, es zu verhindern und im Mittelalter konnte sie es auch verhindern, aber in der Neuzeit nicht mehr.
VN: Nun ist das Wort Skandal ja belastet. Gucken wir von heute: Also wir haben ja relativ viele davon in der letzten Zeit gehabt. Die meisten hatten mit sexueller Gewalt zu tun oder mit dem Thema Geld – Inwieweit hat das die Themenauswahl gefärbt?
Lütz: Da haben Sie völlig Recht. Das war dann auch das, was ich noch zusätzlich inhaltlich beigetragen habe. Angenendt ist Historiker und beschreibt die historischen Vorgänge, aber wenn ich das Buch „Der Skandal der Skandale – Die geheime Geschichte des Christentums“ nenne, dann muss ich natürlich noch andere Skandale erwähnen, zum Beispiel den Missbrauchsskandal. Ich habe mich selber mit der Frage beschäftigt, habe 2003 im Vatikan einen Kongress dazu organisiert, zusammen mit der Glaubenskongregation, mit internationalen Fachleuten. Zeitweilig habe ich die Bischofskonferenz beraten und bekomme auch heute diese Dinge mit. Ich finde, der Missbrauch eines Jugendlichen durch einen katholischen Priester ist absolut pervers. Das ist viel schlimmer, als der Missbrauch durch andere Menschen, weil hier ja nicht nur das Vertrauen tief erschüttert wird, und die Menschen traumatisiert werden, sondern für viele Opfer wird ja auch das Vertrauen in Gott erschüttert, die dann nie mehr einen wirklichen guten Kontakt zu Gott bekommen und das muss für uns Christen natürlich noch einmal zusätzlich schlimm sein.
VN: Ich nehme das auch deshalb als Beispiel, weil wir ja vielfach aus Kirchenkreisen hören, das sein kein Skandal, egal ob es nun sexuelle Gewalt oder Geld ist, sondern werde nur zu einem Skandal hochgespielt. Nun könnte man von außen vermuten, dass Sie die Absicht haben, etwas rein zu waschen?
Lütz: Ja, das ist ganz interessant, dazu gibt es einige Kommentare, die sagen „Der will Schönfärberei betreiben“, „Der will das Weißwaschen“ und so weiter, aber ich bin kein Schönredner und ich verstehe auch nicht die Motivation: Warum soll ich denn, als Katholik, die Unwahrheit über die Christentumsgeschichte sagen? Das müsste ich machen, wenn ich Müllermilch verkaufen will und ich weiß, dass sie Mist ist, aber ich will es trotzdem verkaufen – dann muss ich vielleicht solche Sachen sagen (Ich will nichts gegen Müllermilch sagen, das soll nur ein Beispiel sein). Ich will nur sagen: Wenn ich wirklich Christ bin, dann muss ich mich der Wahrheit stellen, auch der Wahrheit in der Geschichte, und dann ist Reinwaschen absolut verboten. Aber ich finde, wir brauchen Aufklärung auch über die Christentumsgeschichte. Ich finde es ganz spannend, dass es offensichtlich atheistische Mythen gibt, bei denen, wenn man die mit Aufklärung und Wissenschaft angreift, reagieren die Atheisten genauso empfindlich, wie Christen im 18. Jahrhundert reagiert haben, als die Aufklärung christliche Mythen angegriffen hat. Wir brauchen also offensichtliche eine Ent-Mythologisierung des Atheismus. Das ist mir jetzt erst aufgefallen, durch die Reaktionen, die ich auf das Buch erlebt habe.
VN: Wie waren die Reaktionen? Waren sie überwiegend positiv oder überwiegend negativ, oder sind Sie einfach nur froh, dass drüber geredet wird?
Lütz: Natürlich bin ich froh, dass über das Buch geredet wird. Ich glaube, die Menschen haben eine Sensibilität dafür, dass es ein wichtiges Thema ist. Ich habe das Buch in Berlin von Gregor Gysi und Jens Spahn vorstellen lassen und Heinz Schilling, dem Lutherbiographen, weil es sich um eine politische Debatte handelt: wir reden vom christlichen Menschenbild, vom christlichen Abendland, von christlichen Werten, aber keiner weiß eigentlich genau, was das ist und jeder okkupiert das Wort „christlich“ für sich. Dabei gibt es eine Methode, festzustellen, was christlich wirklich ist. Diese Methode ist nicht beliebig, es handelt sich um die Geschichte: „Wie haben die Christen selber 2000 Jahre das Christentum verstanden?“ Das ist maßgeblich. Da habe ich bei Angenendt gelernt, dass das Christentum die Toleranz erfunden hat. Klingt wie eine steile These, aber tolerantia hieß im klassischen Latein (steht bei Angenendt) „Lasten tragen, Baumstämme tragen“ und die Christen haben daraus gemacht: „Menschen anderer Meinung ertragen“. Welcher Christ weiß das schon? Das muss man doch wissen, da kann man doch stolz drauf sein. Auch Internationalität z.B. ist eine christliche Erfindung. Bei den Stammesreligionen galt nur der eigene Stamm, auch bei den Römern. Die Christen sagen: Es gibt nur einen Gott, der hat alle Völker erschaffen. Das heißt, Leute, die das christliche Abendland hochleben lassen und gleichzeitig brüllen „Deutschland, Deutschland über alles“, die haben keine falsche Meinung, sondern sind schlicht und einfach nicht informiert. Sie müssen das Buch lesen.
Zum Mitschreiben: Wer mehr wissen will über das Christentum, das doch nicht so bekannt ist, wie wir immer dachten:
Manfred Lütz: „Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums“, erschienen bei Herder.
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