Menschen in der Zeit - Kardinal Karl Lehmann
Kardinal Karl Lehmann wurde am 16. Mai 1936 in Sigmaringen geboren und verstarb 81-jährig in diesem Jahr am 11. März in Mainz. Das theologhische Schwergewicht wurde mit vielen Etiketten versehen – am häufigsten mit dem Titel: Der "Brückenbauer”. Auch wir bezeichneten ihn als solchen an seinem 75. Geburtstag in einem Gespräch, das er uns – wie eine Art Testament – hinterlassen hat und das wir am kommenden Sonntag in der Reihe “Menschen in der Zeit” in Auszügen wiedergeben.
Karl Lehman wurde am 6. Mai 1936 in Sigmaringen als Sohn des Volksschullehrers Karl Lehmann und seiner Frau Margarete geboren. Nach seiner Schulzeit studierte Lehmann zwischen 1956 und 1964 Philosophie und Theologie in Freiburg und in Rom. 1963 wurde er in der Ewigen Stadt von Julius Kardinal Döpfner zum Priester geweiht. Karl Lehmann erwarb sich Doktortitel in Philosophie und Theologie. Als Assistent von Karl Rahner arbeitete er an den Universitäten München und Münster, erlebte aber auch das Zweite Vatikanische Konzil in Rom aus nächster Nähe. 1983 wurde Prof. Dr. Karl Lehmann zum Bischof von Mainz geweiht und vier Jahre später zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gewählt. Ein Amt, das er ununterbrochen bis heute wahrnimmt. 2001 wurde Bischof Karl Lehmann von Papst Johannes Paul II. zum Kardinal ernannt.
*Herr Kardinal, Sie kennen die Zeichen der Zeit besser als viele andere Menschen. Was brauchen die Menschen, um sich von der Kirche angezogen zu fühlen, sich in ihr womöglich geborgen zu fühlen? Wie stehen die Chancen, dass die Kirche heute wieder zur ersten Adresse wird?
Die Menschen spüren, dass wir mit vielen Wandlungen unseres gesellschaftlichen und individuellen Lebens rechnen müssen. Vieles wird anders, es wird vieles vielleicht auch etwas enger. Es wird mancher Verzicht dann auch abverlangt, und deshalb kommt die Frage etwas dringlicher: Was macht eigentlich unser Leben überhaupt aus? Was ist der Sinn des Lebens? Man sucht inmitten dieser vielen Wandlungen auch nach einer verlässlichen Orientierung, und da glaube ich hat die Religion eine reelle Chance, zumal man ja auch sieht, dass es Lebensrätsel gibt wie Leid und Tod, aber auch Glück und vieles andere, was in einem größeren Zusammenhang gesehen werden muss.
*Herr Kardinal, Ihr Wahlspruch lautet: State in fide – Steht fest im Glauben. Ist dieser Leitspruch auch heute noch der Schlüssel zu Ihrem Suchen und Finden?
Ich glaube, dass man sehen muss, dass eine Ermutigung, im Glauben zu bleiben und auch den Glauben immer wieder zu vertiefen – denn bleiben kann man nur, wenn man ihn vertieft –unbedingt notwendig ist. Und auch, dass der Mensch selbst wenn er mal durch eine Zeit geht, wo ihm der Glaube schwerfällt, er ihm dann doch treubleibt. Für die große christliche Tradition war es eigentlich immer ein Stück weit auch selbstverständlich, dass der Mensch mal durch die Nacht geht, durch die Wüste geht, dass er Entbehrungen und Verzicht sieht, dass Gott dem einzelnen Menschen auch mal verborgen sein kann. Gott suchen ist eine ganz entscheidende Aufgabe im Alten Testament, und auch in der Mystik und dergleichen, so dass ich sagen würde, „Steht fest im Glauben“ ist eine notwendige Ermutigung für uns.
*Zu Ihrem 75. Geburtstag, Herr Kardinal, eine ganz besondere Frage: Die Frage nach dem Glück. Sie haben darüber gerade einen Essay geschrieben. Sagen Sie uns, was das ist, wonach sich alle Menschen sehnen. Was ist das, das Glück?
Das ist natürlich zunächst einmal die Erfüllung der verschiedenen Sehnsüchte des Menschen. Und man möchte eine Erfüllung haben, die bleibt, die einem nicht wieder genommen werden kann. Man weiß ja auch um das Zufällige und das Okkasionelle des Glücks. Augustinus sagt in einer seiner Schriften, dass es schon zu seiner Zeit 188 verschiedene Definitionen von Glück gegeben hätte. Wenn es in dieser Zeit schon eine solche Vielfalt von Glück gegeben hat, um wie viel mehr haben wir dann heute eine unglaubliche Bandbreite des Glückverlangens! Mir kommt es auch darauf an, dass man das kleine Glück des Menschen nicht schlechtredet. Wenn einer am Abend im Alltag seines Lebens zufrieden sein kann, wenn er Freude hat an Kindern, wenn er Freude hat am Gelingen seiner Arbeit, wenn er Freude hat zusammen beim Mahl mit Freunden, wenn er auch getragen wird von der Liebe in einer Ehe und einer Familie. Dieses kleine Glück ist für die allermeisten Menschen zunächst der Boden, wo sie Glück erfahren. Und wenn dieses Glück gut ist, dann kann es auch helfen, das große Glück sozusagen nicht aus dem Auge zu verlieren, das große Glück, das darin besteht, dass wir einmal nicht mehr enttäuscht werden, dass wir einmal nicht mehr bloß glücklich sind für den Moment, sondern selig für immer.
*Hatten Sie in Ihrer Jugend jemals den Wunsch verspürt, etwas anderes zu werden? Sie sind ein bedeutender Kirchenmann geworden, Herr Kardinal, aber hatten Sie noch andere Ziele vor Augen?
Ja, ich habe bis ein halbes Jahr vor dem Abitur eigentlich noch nicht gewusst, dass ich Priester werden will. Ich wusste, dass ich einen Beruf ausüben möchte mit zwei Zielen: erstens, ich wollte konkret mit Menschen und mit jungen Menschen zusammenarbeiten. Mein Vater war zeitlebens ein begeisterter Lehrer, davon habe ich also irgendwo etwas mitbekommen. Und zweitens, ich wollte einen Beruf ausüben, wo es um die Sinnfragen des Menschen geht: woher kommt der Mensch, wohin geht der Mensch, was ist mit dem Leid, was ist mit dem Bösen, wie wird der Mensch glücklich und dergleichen. Ich hatte einen wunderbaren Lehrer in Deutsch, Philosophie und Französisch, und von dem habe ich diese Fragen fast mehr gelernt als in der Religion allein. Ich hätte also auch Philosophie studieren, Lehrer werden können, aber dann hatte ich eines Tages den Eindruck: diese beiden Dinge, die ich eigentlich verlange – Nähe zu Menschen und Sinnfrage – kannst du vielleicht doch am besten erreichen, wenn du Priester wirst.
*Muss im Leben eigentlich alles mit Vernunft hinterfragt werden oder gibt es auch etwas, das einfach ohne kritische Nachfrage angenommen werden kann, Herr Kardinal?
Für mich ist beides wichtig. Für mich ist wichtig, dass man ein Fundament hat, auf dem man steht, was den ganzen Menschen angeht: Das sind die Emotionen, das ist die Vernunft, das ist der Wille, das ist das Handeln. Und dazu gehört von Kindheit an schon das, was die Psychologie in unserer Zeit als Urvertrauen des Menschen bezeichnet. Ich brauche eine Urzuversicht zum Leben, ein Ja zum Leben. Das ist ein Geschenk, wenn man als Mensch immer wieder Ja sagen und das auch behalten kann trotz gegenteiliger Erfahrungen. Und für mich ist natürlich wichtig, dass das nicht nur so ein Gefühl aus dem Bauch heraus ist, dass das auch nicht einfach nur Lebensinstinkt ist, sondern dass man das auch begründen kann, dass man danach fragen, anderen Auskunft geben kann. Alles, was mir wichtig ist, möchte ich auch, dass andere es kennenlernen. Und deshalb gehört für mich – ohne zu glauben, man könne alles schnöd hinterfragen – das Begründen und das Verstehen zum Menschen.
*Zu Ihrer Biographie gehört auch Ihr besonders Verhältnis zum Vatikan. Wie fühlt sich ein Bischof, wenn er in Rom manchmal eine andere Haltung vorfindet als die eigene? Ich spreche hier etwa Ihre Positionen zu den Themen Kommunion, Wiederverheiratete, die Schwangerenberatung Domus Vitae an, die seinerzeit als Hindernis für Ihre dann später erfolgte Kardinalswürde interpretiert wurden.
Also für mich liegt das natürlich sehr viel tiefer. Ich habe in den Jahren 1957 bis 1964 in Rom studiert. Ich habe den Aufbruch hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil als junger Mensch mitbekommen. Der Aufbruch war genauso wichtig wie das Konzil selber. Ich habe das Glück gehabt, dass ich dann ein Jahr lang Pius XII., die ganze Zeit von Johannes XXIII., Paul VI. sofort erleben konnte. Dadurch, dass ich gleich Assistent wurde bei Karl Rahner habe ich auch das Glück gehabt, dass ich vom Konzil etwas mehr mitbekommen konnte aus einer gewissen Nähe, wenn auch nicht aus einer intimen Kenntnis. Und von da aus gesehen hat sich mein Verständnis von Theologie und von Kirche eigentlich von Anfang an an der Weltkirche orientiert, zu der selbstverständlich der Papst ganz zentral gehört. Wenn es also gelegentlich – ich würde es eigentlich gar nicht „Konflikte“ nennen, sondern Meinungsverschiedenheiten gab über die Gestaltung einzelner Fragen und Probleme, dann darf das den ganz fundamentalen Konsens, den ich mit der Kirche, den ich mit den Päpsten, den ich mit den Verantwortlichen hier in Rom habe, nicht verdecken. Das wäre einfach gar nicht wahr, denn für die Medien sind natürlich nur schlechte Nachrichten interessant, und deswegen steht das dann wieder im Vordergrund. Ich war mir aber etwa bei der Schwangerenberatung oder bei der Frage „geschiedene Wiederverheiratete“ immer klar, dass wir mal einen Vorschlag machen, dass wir aber nicht letztgültig entscheiden über diesen Vorschlag, und dass ich auch weiß, dass man uns Einwände machen kann. Und deswegen habe ich in jeder Pressekonferenz vor der endgültigen Entscheidung immer gesagt, ich weiß auch, dass anders entschieden werden könnte als ich das so sehe. Aber ich empfand es auch als meine Aufgabe, und meine Sendung, bestimmte Dinge, die den Menschen auf den Nägeln brennen, ans Bewusstsein zu bringen und dann auch Vorschläge zu machen, und ich bin auch sehr gut damit gefahren. Der Papst, also der verstorbene Papst und der jetzige Papst, haben es mir nie übelgenommen, dass ich Freiheit und Respekt schließlich auch im Gehorsam gesucht habe, aber auch die Entscheidung dann angenommen habe, und das beides zusammen gehört für mich zur richtigen Kirchlichkeit.
*Die Kirche gibt dem Gewissen eine Stimme. Dieser bildhafte Ausdruck klingt wie ein Fanal, und stammt aus einer Ansprache von Papst Benedikt XVI. Welche Stimme muss oder soll dieses Gewissen im neuen Jahrtausend haben?
Das Gewissen ist, so sagt das Vatikanische Konzil einmal, das Heiligtum des Menschen. Und deswegen ist die Pflege des Gewissens, das Wachrütteln des Gewissens, das Schärfen des Gewissens, eine ganz wichtige Aufgabe der Kirche. Das Gewissen ist zwar unvertretbar, keiner kann an meiner Stelle entscheiden, wenn es ums Gewissen geht. Keine Autorität in der Welt kann das. Und ich finde es großartig, dass es in der Geschichte der Kirche und in der Geschichte des Denkens so ist, dass auch ein irriges Gewissen bindet, und dass die Kirche sich dazu stellen konnte, – gerade Thomas von Aquin – zu sagen: auch ein irriges Gewissen bindet, das zeigt, wie hoch man das Gewissen als Heiligtum des Menschen geschätzt hat. Aber auch im Gewissen ist man nicht ein Robinson im Meer der Welt, sondern da muss man sich orientieren, sensibel werden. Deswegen gibt es die 10 Gebote, deswegen gibt es viele andere Gesetze – ich sage nicht so gern „Gesetze“, das Wort hat einen schlechten Klang. Aber im Alten Testament sind alle Gesetze Weisungen, Pfade zum Leben, und nicht einfach nur Verbote usw. Und das braucht man, um das Gewissen gerade auch in seiner Einmaligkeit nicht verkommen zu lassen. Auch das Gewissen muss sich orientieren, auch das Gewissen braucht Leuchttürme, dann erst kann es wirklich auch gelingen, einen einmaligen Spruch des Gewissens zu vollziehen.
*Zum Spruch dieses Gesprächs, Herr Kardinal, vielleicht die allerwichtigste Frage: Worin besteht das bleibende Geheimnis Gottes?
Das bleibende Geheimnis Gottes besteht für mich eigentlich darin, dass er immer frischer und immer reicher ist als alles, was in unserem Leben auf uns zukommt und was uns vielleicht manchmal im Augenblick etwas behext, und vielleicht im Augenblick etwas einnimmt. Zu wissen, besonders Gottes Liebe zum Menschen, dass er ja besonders in seinem Sohn eigentlich zu uns gesprochen hat, das kann nicht überholt werden. Da bin ich also in dem Sinne konservativ, dass ich sage: Jesu Leben, sein Wort und sein Werk sind das äußerste und das unüberholbare Zeichen Gottes für die Welt, und dafür sich einzusetzen, ist ein Leben wert.
Wir danken für dieses Gespräch, Herr Kardinal
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