Kontinuität im Wandel: Die Kirche und ihre Lehre
Es war einmal vor gar nicht langer, langer Zeit, da war die Todesstrafe in der Kirche zumindest geduldet. Sie war eine Möglichkeit der Strafe, klare Bedingungen wie rechtsstaatlicher Prozess und so weiter vorausgesetzt. Von der Kirche gebilligt, gab es die Todesstrafe auch in katholischen Ländern. Selbst der Kirchenstaat praktizierte bis 1868 Hinrichtungen.
Papst Franziskus hat im Oktober vergangenen Jahres angekündigt, den Katechismus mit einem klaren Nein zur Todessstrafe zu versehen. Seit einer Woche ist es nun soweit, die Todesstrafe ist aus katholischer Sicht unter allen Umständen unzulässig. Hat sich hier oder wurde hier kirchliche Lehre geändert? Das hat Vatican News Michael Seewald gefragt. Er lehrt Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Münster und hat unter anderem ein Buch mit dem Titel geschrieben „Dogma im Wandel: Wie Glaubenslehren sich entwickeln“.
Seewald: „Die Lehre wurde nicht im strengen Sinne geändert, sondern eine gewisse Offenheit, welche die kirchliche Lehre hatte, wurde geschlossen hin zu einer größeren Eindeutigkeit. Diese Eindeutigkeit besagt nun, dass die Todesstrafe aus kirchlicher und theologischer Sicht unter keinen Umständen als adäquates Mittel der Bestrafung angesehen wird.“
Vatican News: Die Neuformulierung des Katechismus beginnt mit „lange Zeit wurde ...". Ist Lehre der Zeit ‚unterworfen'? Der ‚Einsicht'? Muss sie also immer wieder angepasst werden?
Seewald: „Die Kirche versteht sich selber nicht als statische Gesellschaft, sondern als eine dynamische Gemeinschaft, die lebt aus dem Umgang und der Beziehung mit Gott, aus dem Umgang und der Beziehung zum Evangelium und natürlich auch aus dem Umgang und der Beziehung mit ihrer Zeit. Aus dieser Dreieckskonstellation ergeben sich immer wieder Verschiebungen und dadurch auch Korrekturen kirchlicher Lehrpositionen.“
Vatican News: Wie bleibt dann das Glaubensgut erhalten, das uns weiter zu geben aufgetragen ist? Wie kann ich mich überhaupt noch darauf verlassen, dass nicht vielleicht ein Papst etwas ändert?
Seewald: „Die Kirche hat verbindliche und normative Strukturen herausgebildet, mit denen sie versucht, Lehre festzuschreiben. Gleichzeitig muss man aber sagen, dass sich gewisse Festschreibungen nicht nur über die Zeit hinweg präzisiert haben, sondern über bestimmte Zeiten auch verändert haben. Und das betrifft unter Umständen auch ganz zentrale Dinge.
Papst Pius XII. hatte noch gelehrt, dass die Evolutionstheorie kirchlicherseits nur dann anzuwenden ist, wenn sie darauf hinausläuft, dass alle Menschen von dem einen Paar Adam und Eva im biologischen Sinne abstammen. Das war eine zentrale Angelegenheit, um die Lehre über die Erbsünde zu schützen. Nun ist das, was wir heute evolutionsbiologisch wissen, natürlich ganz anders als das, was Pius XII. damals gesagt hat, so dass hier eine mit hoher Verbindlichkeit eingeschärfte Lehre im Nachhinein gar nicht mehr weiter verfolgt wurde, sondern einfach ausgelaufen ist, könnte man sagen. Sie wird im Katechismus von 1992 gar nicht mehr erwähnt.
Das ist ein signifikantes Beispiel dafür, dass auch verbindliche Dinge in der Kirche mit der Zeit besserer Einsicht weichen können. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Lehren wo wir sagen, dass hier Dinge am Werk sind, wo man eine vertiefende Einsicht gewinnen kann, die aber keiner Korrektur oder einem historischen Verfallsdatum unterworfen sind. ‚Jesus Christus, die lebendige Offenbarung Gottes, die den Menschen anspricht‘ - da ist es nicht vorstellbar, dass man in zehn oder zwanzig Jahren sagt, dass wir das falsch verstanden haben und nun anders machen müssen.“
Vatican News: Wie unterscheide ich das dann? Wie kann ich sagen, dass eine Sache für alle Menschen gilt, und dass etwas für verschiedene Kulturen nur eingeschränkt gilt? Andere und vor allem nichteuropäische Kulturen werden da ihre eigenen Ansichten und Prägungen haben.
Seewald: „Wie man das unterscheidet, ist immer eine Gratwanderung. Grundsätzlich muss man Entstehungs- und Erkenntniszusammenhänge unterscheiden von Geltungszusammenhängen. Natürlich ist die Idee von Menschenrechten in einem ganz konkreten kulturellen Zusammenhang entstanden, der übrigens nicht nur ein christlicher war, sondern der sich auch vom Christentum abgesetzt hat. Das Verhältnis der Kirche zu den Menschenrechten ist kein erfreuliches Thema für die Dogmengeschichte.
Diese Rechte sind also in ganz konkreten Kontexten entstanden, was aber nicht bedeutet, dass die Geltungsansprüche, welche diese Rechte haben, nicht über diese Kontexte hinausgehen. Das ist jeweils die Gratwanderung, welche die Theologie und die Reflexion zu vollziehen hat: Was sind nun partikulare kulturelle Normen, die hier anders sein können als dort, und was sind Fragen universeller Verbindlichkeit, in der die Kirche auch als weltumspannende Gemeinschaft gefragt ist, um gewisse ethische Standards durchzusetzen und zu befördern.
Die Fragen stellte Pater Bernd Hagenkord (Vatican News)
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