Aktenzeichen - Ingeborg Bachmann - Zum 45. Todesjahr
Es ist hier weder Platz noch die geeignete Stelle, Rückschau über das gesamte Werk der internationalbekannten Schriftstellerin und Lyrikerin Ingeborg Bachmann zu halten. Vielmehr soll hier mit Hilfe einer Auswahl von Tondokumenten der Mensch Bachmann hervorgehoben werden: ihre Sehnsucht nach dem Unsagbaren, nach Liebe und Erlösung, ihr enges Verhältnis zu Rom, besonders aber ihre kompromisslose Haltung zur Wahrheit. Das Rom, dass ihren begründeten Ruhm festigte – aber schließlich auch zur Schicksalsstadt im Negativen wurde; zu jener Stadt, in der sie ihren schmerzhaften Tod erfahren sollte.
Anfang Oktober 1973 musste Ingeborg Bachmann in eine römische Klinik eingeliefert werden. Sie war beim Rauchen eingeschlafen. 12 Tage später erlag sie ihren Brandverletzungen. Ihr schreckliches Sterben und endlicher Tod erschütternden weit über das übliche Maß hinaus alle, die sie oder ihre Werke kannten oder schätzten.
Aus dem anfänglichen Wunsch, sich Rom in den 50er-Jahren zwei Monate lang bloß anzusehen, wird eine lebenslange Faszination. Sie führt zunächst zu einem Dreijahresaufenthalt. Rom vermittelt eine neue „Seh“-Erfahrung, wie der Essay „Was ich in Rom sah und hörte“ zur Sprache bringt. In einem gleichzeitigen Interview bekennt die junge Dichterin:
„Am meisten fesselt mich vielleicht die große Vitalität Roms, die das Alte mit dem Neuen auf eine so unbegreifliche Weise zu verbinden versteht. Der wirkliche Grund für das Bleiben ist natürlich nicht zu erklären. Liebe zu einer Stadt und ihren Menschen ist eben Liebe. Ich glaube, ich würde auch hierbleiben, wenn die Stadt einen schlechten Einfluss auf meine Arbeit hätte. Nun stellte aber zu meinem Glück unlängst ein deutscher Kritiker einen positiven Stielwandel seit meinem Italienaufenthalt fest. Er schrieb: ‚Die neuen Gedichte wären besser, unmittelbarer und kräftiger geworden.‘ Ich bin geneigt, ihm Recht zu geben.“
Eine einzigartige Künstlerin und eine außergewöhnliche Frau. Die Dichterin Ingeborg Bachmann hat unglaubliche Schönheiten der Sprache auf uns gebracht - mit dem Mut zur Wahrheit, mit der Anmut der Poesie. Ingeborg Bachmanns Dichtung will verändern. Sie will den Menschen wissende machen über sich selbst. Wenn sie sagt: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, so ist es der Wahrheitsbegriff des Dichters, von dem hier die Rede ist. Und es ist wohl ein anderer, als der Wahrheitsbegriff des Philosophen. Wahrheit ist hier „erkanntes Leben“, das in der dichterischen Gestalt zur Sprache kommt. Hören Sie dazu einen Ausschnitt aus der Rede zur Verleihung des Hörspielpreises „Der Kriegsblinden“, der Ingeborg Bachmann im Jahr 1959 zuerkannt worden war. Es liest Marianne Hoppe – eine große deutsche Schauspielerin ehrt eine große deutsche Dichterin.
„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Der Schriftsteller – und das ist in seiner Natur – wünscht sich Gehör zu verschaffen. Und doch erscheint es ihm eines Tages wunderbar, wenn er fühlt, dass er zu wirken vermach. Umso mehr, wenn er wenig Tröstliches sagen kann vor Menschen, die des Trostes bedürftig sind, wie nur Menschen es sein können. Verletzt, verwundet und voll von dem großen geheimen Schmerz, mit dem der Menschen vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet ist. Es ist eine schreckliche und unbegreifliche Auszeichnung. Wenn das so ist, dass wir sie tragen und mit ihr leben müssen, wie soll denn der Trost aussehen? Und was soll er uns überhaupt? Dann ist es doch, meine ich, unangemessen, ihn durch Worte herstellen zu wollen. Er wäre ja – wie immer er aussehe – zu klein, zu billig, zu vorläufig. So kann es auch nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein, den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen und über ihn hinweg zu täuschen. Er muss ihn – im Gegenteil – wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich. Und insbesondere für die der Wahrheit. Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen Wehen, in denen der Schmerz fruchtbar wird. ,Mir sind die Augen aufgegangen. ' Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zu Wege bringen, dass uns in diesem Sinne die Augen aufgehen. Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht, durch Darstellung, so ermutigen ihn die anderen, wenn sie ihm durch Lob und Tadel verstehen zu geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar. Wer, wenn nicht diejenigen unter ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück. Dass man um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, dass man enttäuscht und das heißt ohne Täuschung zu leben vermag. Ich glaube, dass dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist. Der Stolz dessen, der in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen.“
Das war die Stimme der Schauspielerin Marianne Hoppe. Sie las einen Ausschnitt der Rede zur Verleihung des Hörspielpreises „Der Kriegsblinden“, den Ingeborg Bachmann im Jahr 1959 erhalten hatte. Aber Ingeborg Bachmann ist nicht nur der Meinung, dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist. Sie geht noch weiter und verlangt noch mehr. Sie hält uns an, den Blick auf das Vollkommene zu richten. Das Unmögliche. Das Unerreichbare. – Sie es in der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe, wie sie selbst sagt. Eine utopische Dichtung. In der Utopie jeder nicht als Ziel zu verstehen ist, sondern als Richtung. In welche Richtung, zeigt uns die Künstlerin im folgenden Gedicht auf. Die Aufnahme wurde im Jahr 1957 gemacht. Es spricht Ingeborg Bachmann selbst.
„Wenn du auferstehst. Wenn ich auferstehe. Hängt der Henker am Tor. Sinkt der Hammer ins Meer. Einmal muss das Fest ja kommen. Heiliger Antonius, der du gelitten hast. Heiliger Leonhard, der du gelitten hast. Heiliger Vitus, der du gelitten hast. Platz unseren Bitten. Platz den Betern. Platz der Musik und der Freude. Wir haben Einfahrt gelernt. Wir singen im Chor der Zikaden. Wir essen und trinken. Die mageren Katzen streichen um unseren Tisch. Bis die Abendmesse beginnt, halt ich dich an der Hand mit den Augen. Und ein ruhiges, mutiges Herz opfert dir seine Wünsche. Jetzt seid standhaft durch die Heilige. Sagt dem Festland, dass die Krater nicht ruhen. Heiliger Rochus, der du gelitten hast. Und der du gelitten hast, heiliger Franz.“
In einer Zeit, in der der Dichter sich selbst den moralischen Auftrag erteilen muss, zur Rechtfertigung seiner Existenz, kann er nicht vorbei an der Konfrontation mit der jüngsten politischen Vergangenheit und ihren Folgen für uns alle. Ingeborg Bachmann ist bis zuletzt von der Frage beunruhigt, wohin das Virus Verbrechen verschwunden ist, seit damals im Dritten Reich der Mord ausgezeichnet, verlangt, mit Orden bedacht und unterstützt wurde. Leiser, jedoch nicht weniger eindringlich hören wir die gleiche Frage in dem Gedicht: „Früher Mittag“ von 1952.
„Sieben Jahre später, in einem Totenhaus, trinken die Henker von gestern den goldenen Becher aus. Die Augen täten dir sinken.“
Was wir eine bittere Parodie auf ein altes Volkslied von Eichendorff anmuten könnte, ist in Wahrheit das Entsetzen darüber, dass die Vergangenheit gespenstergleich die Gegenwart beherrscht, weil das Geschehene unerhellt in ihr fortwirkt.
Der Essay „Was ich in Rom sah und hörte“, entstand 1954 als ein Versuch, Botschaften dieser Stadt aufzuzeichnen aus Vergangenheit und Gegenwart, wie Ingeborg Bachmann sie aufnahm, als sie hier zu leben begann. Genaueste Beobachtungen der Realität hält in dieser Prosa das Gleichgewicht mit visionärer Beschwörung, so dass inmitten der realen Bilder von der Stadt Rom und ihren Alltagshandlungen sich unvermittelt ein magischer Raum auftut, in dem längst Geschehenes noch immer geschieht. Nichts ist der Zeit verfallen. Hören wir nochmals die Dichterin selbst. Die Aufnahme stammt aus dem Jahre 1957 vom ORF-Studio Tirol.
„In Rom sah ich, dass dem Palazzo Cenci, in dem die unglückliche Beatrice vor ihrer Hinrichtung lebte, viele Häuser gleichen. Die Preise sind hoch und die Spuren der Barbarei überall. Auf den Terrassen morschen die Oleanderkübel zu Gunsten der weißen und roten Blüten. Sie möchten fortfliegen, denn sie kommen gegen den Geruch von Unrat und Verwesung nicht an, der die Vergangenheit lebendiger macht, als Denkmäler es vermöchten. In Rom sah ich im Ghetto, dass noch nicht aller Tage Abend ist. Aber am Tag des Versöhnungsfestes wird für ein Jahr jedem im Voraus verziehen. Nahe der Synagoge ist in einer Trattoria die Tafel gerichtet und die kleinen rötlichen Mittelmeerfische kommen mit Begnolien und Rosinen gewürzt auf den Tisch. Ich sah auf dem Campo de’ Fiori, dass Giordano Bruno noch immer verbrannt wird. Jeden Sonnabend, wenn um ihn herum die Buden abgerissen werden, und nur noch die Blumenfrauen zurückbleiben, wenn der Gestank von Fisch, Klo und verfaultem Obst auf dem Platz verebbt, tragen die Männer den Abfall, der geblieben ist, nach dem alles gefeilscht wurde, vor seinen Augen zusammen und zünden den Haufen an. Wieder steigt Rauch auf und die Flammen drehen sich in der Luft. Eine Frau schreit und die anderen schreien mit. Weil die Flammen farblos sind in dem starken Licht, sieht man nicht wie weit sie reichen und wonach sie schlagen. Aber der Mann auf dem Sockel weiß es und widerruft dennoch nicht. In Rom sah ich, dass alles einen Namen hat und man den Namen kennen muss. Selbst Dinge wollen gerufen werden. Der ludowistische Thron ist nicht mit dem letzten Gekrönten gefallen. Säulen sind vom Tempel der Venus stehengeblieben - von diesem Tempel und keinem anderen. Der Kopf der heiligen Agnes ist geschrumpft, aber nicht zu dem einer Lederpuppe geworden. Nach vielen Päpsten wird dieser Papst in der Sänfte getragen und der Segen gilt „urbi et orbi“. Die Geschlechter heißen Ruspoli und Odescalchi, Farnese und Barberini, Aldobrandini. Sie heißen noch so, wenn in einem Campagna-Schloss die Obdachlosen ihre Eisenbetten aufstellen und die Wasserbehälter auf den Sarkophagen stapeln. Der letzte der Familie ist längst weggezogen.“
Nobelpreisträger Heinrich Böll schreibt in seinem Nachruf auf die Dichterin in ihrem Todesjahr 1973 im „Spiegel“ unter anderem:
„Man hat, wie es zur Grausamkeit der literarischen Szene zu gehören scheint, ohnehin den Schmerz und die ebenso hohe Abstraktheit wie Sinnlichkeit ihrer Poesie zu sehr literarisiert. Man hat aus der Anrufung den Ruf der zum Schrei wurde nicht hören wollen. Man hat Ingeborg Bachmann selbst zur Literatur gemacht. Zu einem Bild, einem Mythos, verloren in und an Rom. Diese österreichische Protestantin, die als Mädchen auszog, die höchsten intellektuellen Abenteuer zu suchen, sie bestand und dann anfing, den großen Bären und die Heiligen anzurufen, weil sie gelitten haben.“
„Anrufung des großen Bären. Großer Bär, komm herab. Zottige Nacht. Wolkenpelztier mit den alten Augen. Sternenaugen. Durch das Dickicht brechen schimmernd deine Pfoten mit den Krallen. Sternenkrallen. Wachsam halten wir die Herden, doch gebannt von dir und misstrauen deinen müden Flanken und den scharfen halbentblößten Zähnen. Alter Bär. Ein Zapfen eure Welt. Ihr, die Schuppen dran. Ich treib sie, roll sie. Von den Tannen im Anfang zu den Tannen am Ende. Schnaub sie an. Prüf sie im Maul. Und pack zu mit den Tatzen. Fürchtet euch oder fürchtete euch nicht. Zahl in den Klingelbeutel und dem gebt dem blinden Mann ein gutes Wort, dass er den Bären an der Leine hält. Und würzt die Lämmer gut. Es könnte sein, dass dieser Bär sich losreißt. Nicht mehr droht. Und alle Zapfen jagt, die von den Tannen gefallen sind. Den großen, geflügelten, die aus dem Paradiese stützten.“
Marianne Hoppe verlas das Gedicht „Anrufung des großen Bären“ von Ingeborg Bachmann. Verehrte Hörerinnen und Hörer, wir sagten eingangs, Ingeborg Bachmanns Dichtung wolle verändern. Sie wolle den Menschen wissend machen über sich selbst. Wenn sie sagt, die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, so ist es der Wahrheitsbegriff des Dichters. Aber ist er vom Wahrheitsbegriff des Philosophen, des Theologen tatsächlich so weit entfernt? Ist nicht der eine wie der andere auf der Suche nach dem selben Ziel? Versuchen nicht beide, der Dichter wie der Philosoph, die Wirklichkeit zu erkennen und zu ergreifen? – Jeder auf seine autonome Weise? Ingeborg Bachmann gibt auch darauf die Antwort.
„Dichter wird man in der Stille gerecht, denn wenn alle Deutungen veraltet und alle Erklärungen verbraucht sind, erklärt sich ihr Werk aus der unverbrauchbaren Wahrheit, der es sich verdankt.“
Eine Sendung von Aldo Parmeggiani.
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