Mertes: Der Hilfeschrei der Obervertuscher
Christina Höfferer - Vatikanstadt
Im Interview mit dem Domradio betont Mertes, dass es in der Debatte neben den körperlichen Übergriffen vor allem auch um den geistlichen Missbrauch gehen sollte: „Dahinter steht letztlich der Missbrauch des Namens Jesu oder des Namens Gottes, im Sinne des 1. Gebotes. Dieser Name Jesu ist missbraucht worden, um Nähe zu gewinnen.“
Viele der Betroffenen waren tiefgläubige Menschen, fasst Mertes seine Erkenntnis zusammen. Die vernichtende Erfahrung der Manipulation bis hin zu offener sexualisierter Gewalt endete für viele im Suizid. Es handle sich immer um eine schwärende Wunde, die durch die Übergriffe aufgerissen werde und die bis zum Ende des Lebens bleibe.
Schlüsselbegriffe der christlichen Lehre und des Evangeliums würden instrumentalisiert. Unter den Schlagwörtern Gehorsam, Lebenshingabe oder Kreuzesübernahme werde Druck zur sexualisierten Unterwerfung ausgeübt, wobei es am Ende darum gehe, autoritäre Beziehungsstrukturen zu legitimieren. Mittlerweile seien Schlüsselbegriffe der Theologie kontaminiert worden durch den Missbrauch, so Mertes weiter:
Die Begriffe neu denken
„Ein Mensch, der arbeitsmäßig, finanziell, psychologisch und am Ende auch sexuell ausgebeutet worden ist, und das Ganze ist mit dem Begriff der Hingabe sozusagen legitimiert worden, wird den Begriff der Hingabe, der nach wie vor ein Schlüsselwort ist für das christliche Selbstverständnis, mit anderen Ohren hören, wenn die Rede ist von der Lebenshingabe Christi.“
Die Kirche müsse jetzt die Begriffe neu denken, klassische Begriffe mit neuem Leben erfüllen und abgrenzen von ihrem Zusammenhang mit dem Missbrauch. Weiter unterstreicht Mertens, dass Missbrauch kein Problem der einzelnen Akteure sei, sondern vielmehr systemisch gesehen werden müsse. Er macht dies am Beispiel der Hamburger Sankt-Ansgar-Schule fest. Dorthin wurde 1983 ein Priester geschickt, um die geistliche Leitung zu übernehmen. Diese musste durch ein Votum der Jugendlichen anerkannt werden. Der Pater stellte sich auf den Standpunkt, er habe ein geistliches Amt inne, und ließe sich daher nicht wählen. Daraufhin wählten die Jugendlichen ihn nicht. 2010 stellte sich heraus, dass dieser Pater eben auch in Missbrauchsberichten als Täter vorkommt.
„Das heißt, eine partizipative Struktur stärkt den Schutz; auch dann wenn die Jugendlichen gar nichts von diesem Kontext der Biographie dieses Paters gewusst haben, haben sie etwas gespürt. Nämlich: Der lässt sich nicht auf Partizipation ein. Der ist nicht bereit, sich einem Votum zu stellen und sich eventuell auch zu fügen und seine Legitimation aus einem Votum von unten her zu bekommen, weil er die Weihe ja von oben hat. “
Ein systemisches Problem
Dieses Beispiel zeige, wie eine Struktur Schutz erzeugen kann. Wenn aber die Legitimation ausschließlich von oben komme, dann bestehe ein systemisches Problem. Anders wäre es, wenn in Pfarreien der Gemeinderat ein Votum abgeben könnte, bevor ein Pfarrer nominiert wird, oder ein Bischof.
„Ich sage es mal hart: Johannes Paul II. hat einen Missbrauchstäter zum Kardinal in Wien ernannt. Er wusste natürlich nicht, dass dieser Kardinal gerne jungen Männern ans Gemächt greift. Aber die Destination von Kardinal Groer nach Wien, die verlief gegen den Willen der großen Mehrheit der damaligen Bischofskonferenz und auch des großen Teils des Klerus.“
Die Macht von oben überspiele die Kontrollmechanismen, darin bestehe der systemische Aspekt des Problems, bei dem es letztendlich immer um Macht gehe. Die Sexualität werde ein Mittel, um Macht auszuüben. Die Allmachtsphantasie werde im Akt der Unterwerfung des anderen mit Lust kombiniert.
Warum habe ich das damals nicht gesehen?
Bei den Tätertypen spiele der Narzissmus eine große Rolle. Über Machtpositionen gewinne man eine spezielle Lust, indem man angeschaut werde. Der Verlust von Beachtung tue weh. Es tue auch weh, wenn man sieht, dass die eigenen Lehrer in Missbrauch-Berichten auftauchen, sagt Klaus Mertes: „Ich musste mich auch intensiv mit der Frage befassen, warum habe ich das damals nicht gesehen. Ich habe über Jahre das Gefühl gehabt, eine ganz glückliche Schulzeit gehabt zu haben, und nun merke ich, dass es neben mir Unglückliche gab.“
Vieles ist passiert, seit Klaus Mertes 2010 seinen folgenschweren Brief an die ehemaligen Schüler des Canisius Kollegs geschrieben hat. Mertes resümiert, der Aufklärungsdruck sei inzwischen ganz oben angekommen:
„Man merkt inzwischen, die Hierarchen zerfleischen einander gegenseitig, sie kämpfen gegeneinander. Als 2010 Kardinal Schönborn öffentlich Kardinal Sodano wegen seiner Vertuschungssprache kritisierte, ist Schönborn damals in Gegenwart von Papst Benedikt gedemütigt worden, weil ein Kardinal den anderen nicht öffentlich kritisiert. Inzwischen kritisieren Kardinäle den Papst, Kardinäle kritisieren einander untereinander, werfen einander gegenseitig Vertuschung vor. Ich glaube, dass das damit zusammenhängt, dass die Angst größer wird. Wenn Viganò den Papst kritisiert, wenn Obervertuscher anfangen, anderen die Vertuschung vorzuwerfen, dann ist das ein Hilfeschrei. Die haben richtig Angst. Deshalb müssen sie brüllen: Haltet den Dieb, um nicht selbst angegriffen zu werden.“
(domradio/vatican news)
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