Missbrauch: Symbolfoto Missbrauch: Symbolfoto 

Missbrauch: Expertin fordert „Kultur der Achtsamkeit“

Um künftig sexuellem Missbrauch adäquat vorzubeugen, braucht die katholische Kirche dringend eine neue „Kultur der Achtsamkeit“. Die Verantwortlichen hätten zu wenig hingehört und sich vom Leid der Opfer nicht berühren lassen.

Das hat die deutsche Missbrauchsexpertin Mary Hallay-Witte am Montagabend an der Universität Wien eingemahnt. Hallay-Witte eröffnete die im Wintersemster 2019/20 laufende Ringvorlesung über Missbrauchsfälle und Kirche.

Die Missbrauchskrise gehöre „weltweit zu den schwärzesten Kapiteln der römisch-katholischen Kirche“ und habe u.a. zu einem dramatischen Vertrauensverlust in die Institution Kirche geführt. Unzählige Kinder, Jugendliche und Erwachsene seien in ihrer Menschenwürde zutiefst verletzt worden und die Verantwortlichen hätten dies allzu lange ignoriert bzw. verschwiegen. Doch alles, „was aktiv zu unterdrücken versucht wurde, kommt mit größerer Wucht wie ein Bumerang zurück und wirkt umso zerstörerischer“, so die Expertin.

Normen und Richtlinien reichen nicht aus

Viele Menschen hätten Sehnsucht, wieder Vertrauen in die Kirche fassen zu können, doch dafür bedürfte es einer uneingeschränkten öffentlichen Verantwortungsübernahme der Verantwortlichen, sichtbarer Konsequenzen und Verhaltensänderungen.

Normen und Richtlinien allein würden dafür nicht ausreichen und könnten weiteren sexuellen Missbrauch nicht verhindern. Dies gehe nur „mit einer gesamtinstitutionellen Haltung, gemeinsamen Werten und der festen Überzeugung der Verantwortungsträger, in der eigenen Institution alles tun zu wollen, damit sexueller Missbrauch in den eigenen Reihen verhindert werden kann“. Zu einer „Kultur der Achtsamkeit“ gehöre es, „sich den Verwundungen der Opfer auszusetzen“. Oberstes Ziel müsse es sein, dass die Betroffenen ihre Würde zurückbekommen und zu ihren Rechten kommen.

Die klerikalen autoritären kirchlichen Strukturen seien der Nährboden für sexuellen Missbrauch und würden diesen begünstigen. Es gehe beim sexuellen Missbrauch in der Kirche nicht um Einzelfälle, sondern um ein systemisches und strukturelles Versagen.

„Der soziale Pakt des Schweigens“

Hallay-Witte sprach von „strukturellem Machtmissbrauch“, der dringend angegangen werden müsse. Statt sich für die Opfer einzusetzen, würden dabei die Täter geschützt. Das Image der Institution Kirche, Vertuschung und die Loyalität zum eigenen Priesterstand hätten Vorrang vor dem Mitgefühl für die Opfer, gehöre doch das Mitgefühl vielmehr zuerst dem beschuldigten Mitbruder. Die Expertin sprach in diesem Zusammenhang auch vom „sozialen Pakt des Schweigens“ innerhalb der priesterlichen Gemeinschaft und von „unheilvollen Allianzen“. Zum Thema Zölibat befand sie, dieser sei nicht Ursache, aber ein Risikofaktor für sexuellen Missbrauch.

Scharf kritisierte die Expertin auch die „Verantwortungsabwehr“ von Seiten der kirchlich Verantwortlichen. Es wurde demnach „geleugnet, verharmlost und abgestritten und nur das eingeräumt, was unter öffentlichem Druck eingeräumt werden musste“. Kein Verantwortlicher - und damit meinte Hallay-Witte in erster Linie die Bischöfe - habe persönliche Verantwortung übernommen.

Die Expertin räumte ein, dass die Medien teilweise nicht fair berichtet hätten. Vieles, was nun an Positivem geschehe, werde nicht entsprechend medial transportiert, zugleich wären allerdings auch viele der notwendigen innerkirchlichen Schritte ohne den Druck der Medien wohl nicht angegangen worden.

Angstfreie Atmosphäre nötig

Hallay-Witte mahnte eine Atmosphäre und Kultur im kirchlichen Raum ein, „die es möglich macht, offen und angstfrei kritische Themen zu benennen und konstruktiv mit Fehlern umzugehen“. Solche Themen seien etwa das Verständnis des Priesteramtes, die Sexualmoral, der Zölibat, Homosexualität oder auch die Zulassung von Frauen zum Weiheamt.

Die Hamburger Missbrauchsexpertin räumte in ihrem Vortrag mit weiteren „Irrtümern“ auf. So seien die meisten Täter nicht pädophil, sondern würden Sexualität als Mittel der Machtausübung einsetzen. Und zugleich seien jene, die sich nun als Betroffene melden, sehr selten Trittbrettfahrer - Hallay-Witte zufolge nicht häufiger als in fünf Prozent der Fälle. Sexueller Missbrauch sei auch nicht auf die römisch-katholische Kirche beschränkt, „es gibt ihn auch in den evangelischen Kirchen und nicht nur im Westen, sondern in allen Kontinenten“.

Vorsichtiger Optimismus

Die deutsche katholische Bischofskonferenz hat sich bei ihrer jüngsten Herbstvollversammlung in Fulda für eine Weiterentwicklung des bestehenden Modells zur Entschädigung von Opfern sexuellen Missbrauchs ausgesprochen. Zugleich waren erstmals Betroffenen selbst geladen, um vor den versammelten Bischöfen zu sprechen. Hallay-Witte meinte dazu, dass diese Schritte noch vor einigen Jahren so nicht denkbar gewesen wären. Insofern gebe es durchaus Grund für vorsichtigen Optimismus, dass sich die Kirche in die richtige Richtung bewegt - womöglich könne man auch von einem „Meilenstein“ sprechen. Missbrauch werde sich allerdings nie zu 100 Prozent vermeiden lassen, räumte die Expertin ein.

Hallay-Witte war an der im Herbst 2018 veröffentlichten Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz beteiligt. Laut dieser Studie wurden in den kirchlichen Akten der Jahre 1946 bis 2014 Hinweise auf deutschlandweit 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe und auf rund 1.670 beschuldigte Priester, Diakone und Ordensleute gefunden.

Ein neues Institut der katholischen Kirche in Deutschland soll nun einheitliche Standards bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs entwickeln: das „Institut für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt“ (IPA). Dieses hat Mitte September seine Arbeit aufgenommen. Auch in diesem Institut arbeitet Hallay-Witte mit.

(kap – sk)
 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

08. Oktober 2019, 12:30