D: Ethikrat-Mitglied kritisiert Russlands Corona-Plan
DOMRADIO.DE: Wie schätzen Sie das ein? Ist diese russische Zulassung voreilig?
Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl (Professorin für Moraltheologie in Augsburg und Mitglied im Deutschen Ethikrat): Die Frage kann man sich schon stellen. Man kann ganz grundsätzlich konstatieren, dass der von Wladimir Putin genannte Impfstoff Sputnik V ohne die außerordentlich wichtige Phase 3 der klinischen Studien zugelassen wurde. Das stimmt mich als Ethikerin schon sehr nachdenklich, und ich würde sehr vorsichtig sein. Auch das Paul-Ehrlich-Institut in Deutschland hat bereits erhebliche Anfragen an die Sicherheit und die Wirksamkeit dieses russischen Corona-Impfstoffes formuliert.
DOMRADIO.DE: Einerseits könnte diese frühe Zulassung Menschenleben retten, andererseits könnten die nicht erprobten Nebenwirkungen ungeahnte Risiken in sich bergen. Wie wägt man solche Fragen ethisch ab?
Schlögl-Flierl: Ja, das ist natürlich eine sehr schwierige Frage. Jeder lechzt nach diesem Impfstoff. Sie haben da völlig recht. Aber ich würde vor allem das Prinzip des Nichtschadens anführen. Solange die Risiken nicht erforscht sind, kann es keine Zulassung geben. Die Patientensicherheit geht einfach vor.
Vor allem im Feld der Impfung ist das viel schwieriger, weil das Feld sehr emotional und sehr brisant ist. Da gibt es bereits eine Vertrauenszersetzung, vor allem schon in Zeiten von Impfmüdigkeit. Hier sollten eigentlich vertrauensbildende Maßnahmen zur Impfstoffentwicklung und Zulassung gelten.
An sich gelten diese Verfahren, diese Standards, die aber in diesem Fall nicht eingehalten wurden. Ich habe wirklich Angst, dass die Impfung noch ein weiterer Kampfplatz wird. Wenn man bedenkt: Impfung ist eigentlich ein Akt der Solidarität für andere, vor allem für diejenigen, die sich nicht impfen lassen können. Auf diesem Feld sollte sehr vorsichtig agiert werden.
DOMRADIO.DE: Wie verzahnt müssen denn eigentlich Ethik und die Pharmazie sein, damit solche Abläufe reibungslos funktionieren?
Schlögl-Flierl: Ich denke, verzahnt sind die Abläufe schon. Fragen zur Arzneimittelforschung treiben die Ethik vor allem um. Aber vielleicht kann man die Frage so umformulieren und sagen: Zusammenarbeit in Corona-Zeiten ist noch wichtiger geworden. Ich denke, das kann man ganz gut ablesen, gerade an diesen jüngsten Entwicklungen. Nur gemeinsam werden wir es schaffen, diese Pandemie zu bekämpfen.
DOMRADIO.DE: Schauen wir auf die Situation in Deutschland: Welche Kriterien müssen denn bei uns für die Zulassung eines Corona-Impfstoffs erfüllt sein?
Schlögl-Flierl: Es sind meistens drei klinische Prüf-Abschnitte, die erfüllt sein müssen. Daran nehmen die freiwilligen Probanden und Probandinnen in kleinen Gruppen teil. Dabei geht es um Verträglichkeit, häufige Nebenwirkungen und Hinweise auf die mögliche Wirkung. Das sind dann die ersten zwei Phasen. In der dritten, sehr wichtigen Phase, die in Russland ja ausgefallen ist, werden Wirksamkeit und Nebenwirkungen in einer großen Zahl an Freiwilligen erforscht.
Transparenz ist auch ein wichtiger Punkt. Die Ergebnisse müssen publiziert sein, damit man es nachvollziehen kann – was in Russland ja auch noch nicht der Fall ist. Das Forschungsethische wird schon immer angesprochen: Die Probanden und Probanden müssen freiwillig sein. Das würde ich als Ethikerin hier sehr deutlich nach vorne bringen wollen. Und die internationale Vernetzung: Ich finde es eher problematisch, dass wir sozusagen diesen Wettstreit der Nationen haben. Nur gemeinsam könnten wir es schaffen.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen denn Sie vom Deutschen Ethikrat bei diesem Prozess. Sind Sie bisher schon gefragt worden? Werden Sie dann gefragt, wenn der Impfstoff zugelassen werden soll?
Schlögl-Flierl: Ich sehe da zwei Rollen des Deutschen Ethikrates. Ganz grundsätzlich kann man sagen: Wir werden zu vielen verschiedenen Themen gefragt. Aber zwei Rollen sehe ich da insgesamt. Erstens: Mahnerin zur Geduld: Geduld ist angesagt. Ein Impfstoff, eine Entwicklung und dann Zulassung dauert einfach. Zur Geduld aufzurufen und Werte wie Verantwortung und Solidarität nach vorne zu bringen, finde ich sehr wichtig.
Also ist Mahnerin einerseits eine Rolle des Deutschen Ethikrates. Aber andererseits geht es dann auch schon um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Wenn der Impfstoff da ist, gilt es zu fragen: Wie können wir die knappe Ressource möglichst gerecht verteilen? Gibt es Priorisierungsentscheidungen, die dann gemeinsam im gesellschaftlichen Konsens getroffen werden können? Diese Fragen werden sicher kommen. Da stehen wir dann zur Verfügung.
Das Interview führte Hilde Regeniter.
(domradio – mg)
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