Unser Sonntag: Wider die Gleichgültigkeit
Sr. M. Ursula Hertewich, OP
Mt 18, 15-20
„Die kann mich mal.“ Auch wenn ich mir bewusst bin, dass es sich dabei keineswegs um einen tugendhaft-klösterlichen Gedanken handelt, so muss ich doch gestehen, dass mir diese Reaktion auf Verletzungen durchaus vertraut ist. Manchmal geschieht es im Alltag, dass beispielsweise in einer Auseinandersetzung mit einer Mitschwester ein Wort das andere ergibt, ein Streit entbrennt, ich mich ungerecht behandelt oder nicht richtig wahrgenommen fühle und ich mich am Ende beleidigt in mein inneres Schneckenhaus zurückziehe.
Oder noch schlimmer: Situationen, in denen ich merke, dass mir tatsächlich jemand übel mitspielen will, schlecht über mich redet, Halbwahrheiten verbreitet oder in einer Beziehung spürbar Neid und Eifersucht das Zepter übernehmen.
Auch da ist die Gefahr groß, dass dieses „Der oder die kann mich mal“ im Herzen laut wird. Im ersten Moment kommt mir dieses Ausfahren der inneren Stacheln zuweilen als die einzig angemessene Antwort auf eine erfahrene Verletzung vor. Und es ist ja auch eine bequeme Antwort, denn sie macht innerlich nicht viel Arbeit und ich schütze mich so davor, in der Beziehung zu dieser unmöglichen Person weiteren Schaden zu nehmen. Die kann mich mal. Das lasse ich mir nicht gefallen. Punkt. Aus. Schluss. Glücklicherweise dauert diese „Eiszeit“ im Herzen bei mir meist nicht lange an. Auf der einen Seite, weil ich Gott sei Dank von Natur aus nicht sehr nachtragend bin, auf der anderen Seite, weil mir sehr wohl bewusst ist, wie schnell aus diesem harmlosen „Die kann mich mal“ ein vernichtendes „Die ist für mich gestorben“ werden kann.
Spannungen aufgrund unterschiedlicher Sozialisierung
Auf dem Arenberg lebe ich im Mutterhaus unserer Gemeinschaft zusammen mit 45 vorwiegend älteren Mitschwestern auf relativ engem Raum zusammen. Wir alle haben einander nicht ausgesucht. Wir kommen aus unterschiedlichen Gegenden, sind unterschiedlich geprägt und religiös sozialisiert durch Erfahrungen in unserer Kindheit und Jugend, haben wunde Punkte, von denen wir manchmal nichts wissen und sind nebenbei auch nur Menschen. Prinzipiell pflegen wir ein gutes Miteinander, aber ist es klar, dass es in einem solchen Kontext fast täglich zu zwischenmenschlichen Zusammenstößen kommt, und zwar ohne, dass eine die andere bewusst verletzen will. Wie schnell würde da unsere Gemeinschaft von innen heraus sterben, würden wir es bei einem „die kann mich mal“ stehen lassen!
Klare Anweisungen Jesu im Evangelium
Im heutigen Evangelium gibt Jesus seinen Jüngern klare Anweisungen, wie sie sich im Konfliktfall zu verhalten haben: „Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde! Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.“ Es ist beeindruckend, dass sich diese Worte Jesu im Matthäusevangelium unmittelbar anschließen an das Gleichnis vom verlorenen Schaf: „Was meint ihr?“, fragt Jesus seine Jünger da, „Wenn jemand hundert Schafe hat und eines von ihnen sich verirrt, lässt er dann nicht die neunundneunzig auf den Bergen zurück, geht hin, und sucht das verirrte?“
Brüderliche Zurechtweisung
Wenn ich diese Worte Jesu im Zusammenhang mit der Aufforderung zur brüderlichen Zurechtweisung betrachte, wird mir schmerzhaft bewusst, wie schnell auch ich selbst manchmal damit bin, einen Bruder oder eine Schwester „verloren zu geben“, anstatt mich mit ganzer Kraft dafür einzusetzen, sie zurück zu gewinnen. Ist es nicht so, dass wir oft genau den umgekehrten Weg wählen, indem wir die Sünden oder Fehltritte der anderen zuerst in der Gemeinde herausposaunen, bevor wir das persönliche Gespräch suchen? Ist es nicht so, dass wir uns viel zu schnell daran gewöhnen, dass ein Bruder oder eine Schwester auf Abwege geraten ist, sich verirrt hat und sie innerlich abschreiben? Ich habe ja schließlich noch genug andere Schwestern, mit denen es zwischenmenschlich besser läuft, warum soll mir den Stress machen, der einen hinterher zu laufen, die mich doch so verletzt hat? Und das auch noch auf die Gefahr hin, dass ich mir wieder ein blaues Auge einfange, wenn ich mit offenen Karten spiele und mich in ihrer Gegenwart verletzlich zeige? Nein, da bleibe ich doch lieber in meiner Komfortzone und kümmere mich nicht mehr um sie.
Kain und Abel - Neid und Eifersucht
„Bin ich der Hüter meines Bruders?“, mit dieser Frage antwortet Kain im ersten Buch der Bibel auf die Frage Gottes: „Wo ist Abel, dein Bruder?“ In dieser Ignoranz gipfelt eine vollkommen unselige Geschichte von Neid und Eifersucht. Kain, völlig gefangen in sich selbst, wird zum Opfer seiner aufwallenden Gefühle, so dass er nicht mehr in der Lage ist, seinen Bruder neben sich am Leben zu lassen - er wird zum Brudermörder: „Der ist für mich gestorben…“
„Nicht der Hass, sondern die Gleichgültigkeit ist das Gegenteil der Liebe. (…) Liebe ist, wenn du dein Herz für andere auf die Probe stellst.“, mit diesen aufrüttelnden Worten hat es Papst Franziskus vor einiger Zeit in einer Ansprache auf den Punkt gebracht. Unmissverständlich macht er immer wieder deutlich, welch vernichtende Auswirkungen Gleichgültigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen haben kann. Es geht nicht darum, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, und sich in einem Scheinfrieden zu suhlen, sondern wir sind aufgefordert, uns in unseren Beziehungen füreinander abzumühen, auch auf die Gefahr hin, nochmals Unverständnis zu ernten und verletzt zu werden.
Wenn Jesus im heutigen Evangelium sagt: „Alles, was ihr auf Erden binden werdet, wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.“, macht er uns deutlich, wie groß die Verantwortung ist, die wir füreinander tragen. Ja, wir sind die Hüter und Hüterinnen unserer Brüder und Schwestern, wir sind aufeinander verwiesen, wir haben darauf zu achten, dass niemand von uns verloren geht. Der Bruder, die Schwester darf mir nicht egal sein, weil niemand von uns Gott egal ist – das Mühen umeinander sind wir einander schuldig.
Keine Frage, die Worte Jesu sind herausfordernd, je nach Lebenssituation vielleicht sogar überfordernd. Jedoch empfinde ich diese Vorgehensweise auch aus den Erfahrungen meines eigenen Alltags heraus als wegweisend und notwendig, wenn ich mit meinen Mitmenschen im Frieden leben will. Zumal Jesus ja am Ende auch eine deutliche Grenze setzt: „Hört er auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder Zöllner.“ Nebenbei bemerkt nicht: „Dann sei er für dich gestorben!“ Dort, wo alle Vermittlungsversuche scheitern, dort wo ein Mensch nicht mehr hören kann oder will, da dürfen meine persönlichen und die gemeinschaftlichen Bemühungen ein Ende finden. Für diese Kategorie ist dann endgültig DER verantwortlich, den schon seine Zeitgenossen als „Freund der Zöllner und Sünder“ betitelt haben. Und IHM ist ja bekanntermaßen nichts unmöglich.
Für Gott ist nichts unmöglich
Es ist bereits einige Jahre her, als ich in unserer Gemeinschaft eine spannende Erfahrung machen durfte. Im Noviziat lebten wir zusammen mit einigen älteren Schwestern in einem kleinen Kloster in der Schweiz. Eine dieser Schwestern und ich, wir beide waren wie Katz und Maus. Obwohl sie satte fünfzig Jahre älter war als ich, gab es kaum einen Tag, an dem wir uns nicht gegenseitig auf die Füße traten. Mal hat sie mich verletzt, mal ich sie, wir beide schenkten uns nichts. Dann kam das Jahr 2009 – ich feierte meine erste Profess und sie ihr Goldenes Professjubiläum. Wie immer begann das neue Jahr in der Gemeinschaft mit der Ziehung der „Beterinnen“. Dabei handelt es sich um eine alte Tradition, bei dem jeweils zwei Schwesternnamen aus einem großen Topf gezogen werden, und diese beiden Schwestern bekommen den Auftrag, ein Jahr lang besonders füreinander zu beten. Das Entsetzen stand uns beiden ins Gesicht geschrieben, als wir ausgerechnet in diesem für uns so bedeutsamen Jahr einander zugeteilt – oder soll ich besser sagen: zugemutet? – wurden. Mein erster Gedanke war: Mist. Und ich wage zu behaupten, dass der betagten Mitschwester Ähnliches im Kopf herum ging.
Doch dann rauften wir uns zusammen und versuchten es. Zunächst kam es zum Waffenstillstand, dann, als wir nach unserem gemeinsamen Festtag in verschiedene Konvente versetzt wurden, nahmen wir sogar freiwillig per Post miteinander Kontakt auf und schrieben uns sogar ganz regelmäßig liebevolle Briefe an unsere neuen Lebensorte. Was sich am Anfang als stures, etwas verkrampftes Füreinander-Beten anfühlte, mündete Ende des Jahres in wirklichen Frieden, der bis heute andauert.
„Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Mit diesen tröstlichen, ermutigenden Worten endet das heutige Evangelium. Vielleicht sollten wir uns im Konfliktfall viel öfter einfach an IHN wenden, der uns den Frieden schenken kann, den wir trotz all unserer Bemühungen selbst nicht machen können.
(radio vatikan - claudia kaminski)
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