Caritas-Chef Neher: Corona hat viele an die Belastungsgrenze gebracht
Gerade aus dem Grund, das Überleben der einzelnen Einrichtungen zu sichern, habe Caritas gemeinschaftlich mit der Diakonie politischen Druck erzeugt, um auch für die sozialen Dienste die staatlichen Schutzmaßnahmen in Anspruch nehmen zu können, berichtet Neher. Vor allem die erste Jahreshälfte über hatte dies, neben den anderen Auswirkungen der Corona-Pandemie, die Arbeit der freien Wohlfahrtsverbände deutlich geprägt:
„Das waren ein intensiver Prozess und intensive Verhandlungen, wo es dann aber letztlich doch auch gelungen ist, zumindest einen Teil der Einnahmeausfälle über diese Schutzschirme zu kompensieren,“ zeigt sich Neher zufrieden. Der Auftrag der Caritas, das ist dem Prälaten wichtig zu betonen, sei immer der Dienst im Sinne des Evangeliums und der prophetischen Tradition, was letztlich den Einsatz für bessere Lebensbedingungen der Menschen bedeute.
Vor diesem Hintergrund würden die staatlichen Schutzmaßnahmen nicht dazu benötigt, „die Einrichtungen als Einrichtungen zu schützen, sondern damit sie für die Menschen da sein können“, meint Neher. „Denn es ist ja unser Anliegen und auch das der Gesellschaft, dass Menschen auch hoffentlich sowohl während, als auch nach Corona noch Beratungsstellen vorfinden, dass es da auch noch Einrichtungen gibt für Menschen mit Behinderung, Sozialstationen, […] damit Menschen diese sozialen Dienste auch weiter in Anspruch nehmen können.“
Eine völlig neue Situation
Im Frühjahr seien die Einrichtungen und Dienste der Caritas in Deutschland „genauso wie alle anderen auch“ mit einer völlig neuen Situation konfrontiert worden, die viele an ihre Grenzen geführt habe, lässt Neher die schwierige Zeit Revue passieren: „Einmal die Sorge und Angst um Ansteckung, dann natürlich, wie können wir unsere Einrichtungen und Dienste aufrechterhalten, was natürlich in der Altenhilfe, in der Pflege, in der ambulanten Pflege, im Krankenhaus und in der Behindertenarbeit noch mal eine ganz andere Herausforderung ist, als die in einem Verwaltungsgebäude.“
Homeoffice sei in der Pflege schließlich schlicht nicht denkbar, gibt der Caritas-Mann zu bedenken, und gerade in der Frühphase der Pandemie habe es an Schutzkleidung, Testmöglichkeiten und schlechterdings Know-How gemangelt. Einrichtungen wie Mutter-Kind-Kurhäuser oder Behindertentagesstätten seien durch den Einbruch ihrer Einkommensmöglichkeiten in massive Probleme geraten, erinnert Neher. Nach den Erfahrungen der ersten Welle sei man in der jetzigen Situation jedoch „deutlicher besser gewappnet“, zeigt sich der Caritas-Chef zuversichtlich:
„Also, ich denke, wir haben natürlich jetzt andere Erfahrungen als im Frühjahr. Da gab es ja zum großen Teil komplett Schließungen einfach aus Sorge und Schutz vor Infektion und dadurch dass wir jetzt auch mit Schutzausrüstung, Schutz-Kleidung und auch mindestens vom Grundsatz her mit mehr Testmöglichkeiten ausgestattet sind ist es zwar nach wie vor so, dass der Schutz des Einzelnen ganz wichtig ist, gleichzeitig aber auch deutlicher als noch im Frühjahr klar ist, Menschen auch in Pflegeheimen brauchen soziale Kontakte. Und es ist wichtig einerseits natürlich sie abzuschirmen, um sie vor Infektionen zu schützen, aber es geht ja auch nicht, dass die Menschen dann des sozialen Todes sterben.“
Die einzelnen Einrichtungen hätten sich mit Kreativität und großem Einsatz um tragfähige Schutzkonzepte gekümmert, so dass auch über Weihnachten „Besuche von Angehörigen in den Häusern“ möglich sein sollten. Doch die ungewohnte Situation, in der der Fantasie freier Lauf gelassen werden musste, habe noch andere Errungenschaften mit sich gebracht:
„Dass man miteinander telefoniert, auch viele der älteren Bewohnerinnen und Bewohner haben ganz neue Zugänge zu WhatsApp, zu Zoom-Konferenzen, was gar nicht vorher denkbar war. Heute habe ich erfahren von jemandem, dessen 94-jährige Oma es sich jetzt tatsächlich mit Zoom beschäftigt und damit in Kontakt ist. Das sind wichtige Ergänzungen und Zugänge, die es jetzt in der zweiten schwierigen Phase doch leichter machen, auch den sozialen Kontakt zu pflegen und den auch aufrechtzuerhalten.“
Doch, kaum zu glauben, die Caritas-Arbeit war zwar deutlich durch Corona geprägt, doch es habe vor allem in der zweiten Jahreshälfte auch andere Schwerpunkte gegeben, unterstreicht Prälat Neher. „Was uns hier nochmal speziell als deutsche Caritas sehr stark beschäftigt, das ist das Thema Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit“.
Dabei gehe es nicht nur um die schon seit langem bekannte Tatsache, dass durch die Naturkatastrophen, die wegen der Klimaveränderungen ausgelöst würden, vor allem Menschen in prekären Lebenssituationen besonders betroffen seien. Denn: „Das ist nicht nur irgendwo in Asien oder Afrika so, das ist auch in Europa und in Deutschland so, denn Menschen mit schwierigeren Einkommensverhältnissen leben in der Regel in Wohnungen, die schlecht isoliert sind, die im Winter zu kalt und im Sommer zu heiß sind, sie leben häufig in Wohnungen an Ausfallstraßen der großen Städte mit einer hohen Lärmbelastung und hohen Schmutz-Belastung, das heißt Klimapolitik ist eigentlich mittlerweile Sozialpolitik und die Enzyklika von Papst Franziskus, Laudato Si ist für uns hier eine ganz ganz wichtige Grundlage.“
Schließlich wolle man kein „katholisches Greenpeace“ sein, bringt es Neher auf den Punkt: „Greenpeace ist gut, aber wir sind ein katholischer Sozialverband, und genau dieser Zusammenhang von Klimagerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit ist ein herausforderndes Thema, dem in unserer Delegiertenversammlung als oberstem Gremium der deutschen Caritas im Oktober große Bedeutung beigemessen wurde. Und jetzt sind wir dabei, Schritte zur Umsetzung zu gehen, wie wir den Verband hier mitnehmen können im Bereich Immobiliensanierung, Mobilität, Eintreten für kostenfreie Tickets für den öffentlichen Personennahverkehr...“ Diese Themenpalette werde auch im kommenden Jahr auf der Agenda bleiben, „auch im Hinblick auf die anstehende Bundestagswahl“.
Soziale Themen an die Politik herantragen
Ein anderes Thema, das die Caritas schon lange bearbeite und das durch die Corona-Pandemie nochmals verschärft worden sei, sei die Tatsache, dass in Deutschland „wie in kaum in einem anderen europäischen Land“ die Schulbildung von der sozialen Herkunft abhänge. „Es ist ein Unterschied, ob jemand in einer 80 Quadratmeter Wohnung mit drei Kindern im Homeoffice arbeiten muss und dann auch noch Homeschooling machen muss, oder ob er in einem Reihenhäuschen mit Garten wohnt“, betont Neher.
„Also als Thema Wohnungssituation, oder das Thema Ausstattung. Kinder aus Familien in prekären Verhältnissen haben einfach gar nicht die digitale Ausstattung, die notwendig wäre zum Teil, damit überhaupt Home-Schooling gelingt. Also, das ist ein wichtiges Thema, wie können wir hier an der Stelle auch in Deutschland schauen, dass Menschen nicht weiter abgehängt werden, weil sie aus schwierigeren Einkommensverhältnissen kommen.“
Kinderarmut und Pflegesituation
Insgesamt liege der Caritas als katholischem Wohlfahrtsverband naturgemäß das Thema Familie und Kinderarmut besonders am Herzen. Zwar sei es in Deutschland „seit vielen Jahren bekannt, dass wir einen hohen Anteil von Kindern haben, die in prekären Lebensverhältnissen leben“, und die Politik habe einige positive Korrektive in die Wege geleitet, „aber das wirkt nicht von heute auf morgen“, fasst Neher die Problematik zusammen:
„Und einen letzten Bereich möchte ich noch nennen, das ist natürlich das Thema Pflege. In Deutschland müssen wir dringend drauf achten, dass genügend Personal vorhanden ist, was derzeit das schwierigste Problem ist. Dass also die nötigen Kolleginnen und Kollegen da sind, die sich in der Pflege engagieren und sich dafür einsetzen, dass Bedingungen herrschen, dass der Beruf auch attraktiv ist - den ich persönlich für ein ganz ganz spannenden Beruf halte. Wenn jedoch die Rahmenbedingungen dergestalt sind, wie sie zum Teil herrschen, dass die Kollegen eben nicht genügend Zeit mit den Patientinnen und Patienten haben, dass viele an Burnout leiden und nach wenigen Jahren ihre Arbeit aufgeben, dann zeigt es, wie dringend hier jetzt die eingeleiteten Schritte von der Politik auch umgesetzt werden müssen. Und das werden wir natürlich im Hinblick auf die Bundestagswahl klar zum Thema machen - da besteht ja jetzt die Chance, dass die Politik da vielleicht noch etwas aufmerksamer zuhört.“
Dabei gehe es keineswegs um das wilde Aufstellen von „Wunschlisten“ an die Politiker, sondern um den Einsatz dafür, das Menschen gut leben können: „Und das sind eben die genannten Bereiche. Das ist der Bereich Schule, der natürlich stark Ländersache in Deutschland ist, das ist der Bereich Pflege, den wir aufmerksam im Auge behalten müssen, das ist die Armutsfrage, weil wir müssen aufpassen, dass nicht ganze Bevölkerungsschichten abgehängt werden.“
Gesamtgesellschaftlich sei mit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum assistierten Suizid jedoch ein Thema geschaffen worden, „was uns jetzt noch mal ganz neu beschäftigen wird“, erläutert Neher, der das Urteil, „wonach das Selbstbestimmungsrecht des Menschen nun eigentlich als oberste Norm gilt für alle anderen Normen“, ohne Umschweife als „inakzeptabel“ bezeichnet: „Das ist Gesetzeslage und wir müssen schauen, wie wir in diesem Spannungsfeld tatsächlich unsere Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen Mitarbeiter an der Stelle stützen und gleichzeitig natürlich respektieren, wenn ein Mensch diesen Wunsch hat, dass er trotzdem auch den Anspruch auf Pflege und Seelsorge bis zum Schluss hat.“
Urteil zum assistierten Suizid „inakzeptabel“
Ein klares Nein kommt von Neher als Präsident der katholischen Caritas zu Rassismus und Antisemitismus, der sich mittlerweile in Deutschland als neue Herausforderung darstelle. Doch eines liegt dem Priester neben den gesellschaftlichen Problemen, die die Caritas in Angriff nimmt, besonders am Herzen:
„Das ist das ganze Thema sexueller Missbrauch, wo wir einfach als kirchliche Organisation mit betroffen sind und mitleiden und uns mit schämen.“ Das Leiden der Opfer sei unsäglich, so Neher, dem das Thema spürbar unter die Haut geht. Doch neben diesem schrecklichen Leiden hätten allein die Nachrichten über die Übeltaten gravierende Auswirkungen für die Arbeit der vielen Helferinnen und Helfer in den Caritas-Einrichtungen, die zuweilen mit den Missbrauchstätern in einen Topf geworfen würden, gibt der Caritas-Chef zu bedenken. Dabei hält er mit Kritik an Entscheidungsträgern nicht hinter dem Berg: „Auch der Bereich der ganzen Kirche wird durch dieses wirklich unsägliche Lavieren von manchen Bischöfen und Kardinälen in Misskredit gezogen und das ist es, was mir auf der Seele weh tut, weil damit ja einfach die ganze Arbeit diskreditiert wird.“
Missbrauch: „Unsägliches Lavieren von manchen Bischöfen und Kardinälen“
Weihnachten selbst werde er, wie jedes Jahr, mit einer Pfarrgemeinde feiern, wo er seit vielen Jahren am Heiligabend die Christmette feiere, verrät uns Neher noch. Anschließend werde er im bescheidenen Rahmen daheim feiern, bevor er am ersten Weihnachtstag wieder eine Eucharistiefeier halten werde. Die Einschränkungen in diesem Pandemie-Jahr seien trotzdem schmerzlich spürbar, bemerkt Neher.
„Ja, das ist schon eine schwierige Situation, wir dürfen keine Weihnachtslieder singen, wir müssen mit Maske feiern und die Teilnehmer müssen sich voranmelden... Aber gleichzeitig bin ich froh, dass wir Gottesdienste halten dürfen im Gegensatz zu Ostern und da freue ich mich sehr drüber, wenngleich ich vermute, dass wahrscheinlich die Zahl der Teilnehmenden schon begrenzt sein wird, weil einfach viele Menschen Angst haben, tatsächlich unter andere Menschen zu gehen, trotz aller Schutzkonzepte, die bei Gottesdiensten greifen“.
Besonders schade sei es für ihn persönlich, die liturgische Feier zum Jahresabschluss diesmal nicht in seiner Heimat, in einer Allgäuer Bergkapelle, zelebrieren zu können. „Aber ich denke, das müssen wir so nehmen, wie es jetzt uns eben aufgetragen ist. Wichtig ist mir gerade von Weihnachten her heuer besonders die Botschaft der Engel an die Hirten: Fürchtet euch nicht!, und das ist mir persönlich eine große Botschaft des Trostes bei all den Sorgen und Nöten, die wir in diesem Jahr hatten und die uns sicherlich auch noch im kommenden Jahr prägen werden, weil auch mit Impfung Corona nicht einfach verschwunden sein wird.“
Insbesondere die Tatsache, dass „Gott ausgerechnet im Stall von Bethlehem in das Menschsein hineingeht“, sei in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll, unterstreicht Neher: „Ich selber komme aus ländlicher Gegend und da weiß ich, was ein Stall ist, und ein Stall ist in der Regel nicht klinisch rein, der Stall ist schmutzig, da riecht es auch nicht sonderlich gut und das glaube ich kann man ganz gut übertragen, dass Gott in diese Situation hinein geht. Er ist sich nicht zu schade, auch in all dieses unangenehme Schlamassel, was uns so bewegt und bedrängt hineinzugehen: dort wird er Mensch und das gilt auch im Jahre 2020/2021, das ist für mich ein großer Trost und das möchte ich auch in meiner Verkündigung in den Weihnachtstagen sehr deutlich zur Sprache bringen.“
(vatican news - cs)
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