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Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz 

Unsere Silvesterbetrachtung von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz war unter anderem mit Lehraufträgen und Lehrstuhlvertretungen in Bayreuth, Tübingen, Eichstätt und München sowie als Professorin in Dresden tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Religionsphilosophie der Moderne, Phänomenologie und die Anthropologie der Geschlechter. Seit 2019 hat sie die Tradition der Silvesterbetrachtungen für uns fortgeführt. Regelmäßigen Hörern ist sie bereits durch ihre äußerst geschätzten Sonntagsbetrachtungen ein Begriff, die sie auch 2020 für uns verfasste.

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Sylvester 2020

Was ist systemrelevant? Bemerkungen zu Corona

„Du krönst das Jahr mit deiner Huld“, sagt der Psalm. Diesem Jahr ist eine besondere Krone aufgesetzt worden, und sie ist noch nicht abgenommen.
Mittlerweile scheint es, daß die Auswirkungen der Pandemie im berechenbaren Griff des Ge-sundheitssystems bleiben, die Erkrankungen und Todesfälle das übliche Maß nicht überschreiten und zudem ein Impfstoff entwickelt wird. Doch bleibt etwas haften, das tiefer zu bedenken ist: der erzwungene Ausfall der christlichen Liturgie und die kirchliche Reaktion darauf.

Zum Nachhören:

Zuerst ein Rückblick. Was den Gewaltsystemen des 20. Jahrhunderts, ob rot oder braun, nicht gelang, gelang mühelos in kürzester Frist durch einen Verwaltungsakt: das Verbot von Gottesdiensten. Und zwar für den Kern des Christentums, die gemeinsame öffentliche Feier von Tod und Auferstehung Christi. Vollständig für die Dauer von insgesamt acht Wochen. Da-nach mit erheblichen Einschränkungen, bis in liturgisches Sprechen und Antworten, Handeln und Vollziehen hinein.

„Schiller: Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“

Es waren erst Stimmen aus der Politik in Deutschland, nämlich vom Bundestagspräsidenten Schäuble, die an den Satz Schillers erinnerten: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“ Hät-te dieser nachdenkliche Satz nicht zuerst und laut aus dem Munde der Hirten, nicht aus dem säkularen Raum kommen müssen?
Der evangelische Erlanger Pastoraltheologe Manfred Seitz sagte 2017: „Der Antichrist ver-körpert, vertritt und verkündigt das, was in der gegenwärtigen Weltstunde das Humane, das Menschliche, das Einleuchtende, das Zustimmungswürdige und das unbedingt Gebotene ist: Das ist das Wesen und Kennzeichnende (...), dass es mit der Maske des Guten, der „Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben“ (Ps 46,2), und des moralisch Einwandfreien auf-tritt.“ Also: Weder Blitz noch Donner sind zu fürchten, sondern die Etablierung eines Ge-sundheitskultes mit dem Mantra „Gesundheit ist das Wichtigste“ und dem moralischen Imperativ „gesund bleiben!“

Sehnsucht nach der Eucharistie

Der Ausfall öffentlicher Liturgien zeitigte freilich noch eine andere Erkenntnis. Anstelle des „Außenraumes“ öffnete sich der Raum christlicher Innerlichkeit. Gemeint ist die „Kammer“ des persönlichen Gebets (Mt 6,6), aber auch die „Kammer“, der Herzraum der Kapellen, Kir-chen und Dome, in deren Mitte vom Altar aus ein einzelner Priester die Messe feierte, sich selbst antwortete, mit einem Kantor oder Ministranten über Meter hinweg nur durch Blick und Wort verbunden war. Und dann stellvertretend das gewandelte Brot, den gewandelten Wein für alle aß und trank, und dabei wurden alte und neue Gebete der geistlichen Kommuni-on vorgetragen, die auch mit neuem Ohr gehört wurden. Anstelle des weithin gedankenlosen Konsums (so der gewohnte Eindruck, auch bei sich selbst) entstand dadurch eine Spannung der Sehnsucht, ein Vermissen, ein Empfinden des Ungesättigtseins. Das allein bedeutete schon eine Reinigung der Abstumpfung: Reinigung durch Entbehrung.
Verbunden war und ist eine solche Reinigung nicht nur mit dem Einzelnen, sondern mit der Kirche als ganzer. Diesmal wurde sie sinnfällig in der besonderen Ankündigung des Segens „urbi et orbi“ außerhalb des üblichen Festrahmens, außerhalb der üblichen Menschenmenge und deren spektakulärem Charakter.

„Urbi et Orbi März 2020: im regennassen Schimmer die Weihrauchbecken, das alte Pestkreuz, das ehrwürdige Bildnis der Madonna des Heils“

Auf dem völlig leeren, geradezu verwaisten Petersplatz rief Ende März ein einsamer Papst nach dem Kommen Christi, mit den klassischen Worten: „Wir gehen zugrunde“. Dazu im regennassen Schimmer die Weihrauchbecken, das alte Pestkreuz, das ehrwürdige Bildnis der Madonna des „Heils“, zuletzt das weiße kleine Brot in der Monstranz - umgeben von Stille und wenigen Worten. Nichts von dem sonstigen Gepränge, und gerade deswegen angekommen im Eindrücklichen. Es hat das Unwesentliche beseitigt und das Wesentliche sichtbar gemacht.

Liturgie ist keine Spielwiese der Politik

Trotzdem: Der Ausfall öffentlicher Gottesdienste und der Kommunionspendung sollte sich in dieser Weise nicht wiederholen; darauf könnten die jeweiligen Bischofskonferenzen in Berufung auf die staatliche Garantie freier Religionsausübung dringen. Ebensowenig dürfen Priester in Altenheimen und Krankenhäusern weiter an ihrem Dienst gehindert werden. Nämlich an jenen Kranken und Sterbenden, die dringend nach den Sakramenten verlangen. Gefährdungen beider Seiten können minimiert werden. Zumal bei anderen „systemrelevanten“ Einrichtungen (U-Bahn!) selbst die Mindestforderungen kaum einzuhalten sind. Der innerste Auftrag der Kirche, Christus zu den Hungernden und Dürstenden zu bringen, muß verteidigt werden. Grundsätzlich: Liturgie ist keine Spielwiese der Politik. Bestimmte Worte zu verbieten, nämlich im Mai 2020 bei der Kommunion-Austeilung die Worte „Leib Christi - amen!“, ist eine erstaunliche politische Machtanmaßung - und noch verblüffender, daß sie klaglos angenommen wurde. Ein Ostberliner Bekannter schrieb mir: „Ob ‚wir’ Katholiken nicht etwas von der kraftvollen Widerborstigkeit verloren haben, die - ich spreche von meinen Erfahrungen - in der DDR-Zeit durchaus lebendig war?“

Die Speise der Unsterblichkeit in Todesangst

Das Kriterium, unter dem die Kirche verstummte, lautete: „systemrelevant“. System bedeutet damit klarerweise etwas, worin Christentum oder Religion vollständig entbehrlich sind. Die Eilfertigkeit der Kirche(n), womit der Ausschluss hingenommen wurde, spricht ihre eigene erstaunliche Sprache. Das trauervolle Erstaunen hielt an, denn als in Deutschland Anfang Mai die Rückkehr zu den Gottesdiensten unter Auflagen wieder möglich wurde, blieben Eucharis-tiefeiern, auch am Sonntag und erst recht am Werktag, immer noch selten. Die Austeilung der Kommunion wurde von mutlosen? einfallslosen? Klerikern auch nach der Lockerung der Vorschriften nicht vorgesehen, von einem deutschen Bischof sogar bis Pfingsten verboten.
Welcher Art Theologie entspricht eine solche freiwillige Verabschiedung von der Eucharistie? Unvorstellbare Frage. „Dein Verderben, Israel, ist aus dir selbst.“ (Hos 13,9)

„Was sollen wir tun? Ein neues Wissen von der Gegenwart des Herrn unter uns einleiten“

Nun aber zur Zukunft. Was sollen wir tun? Ein neues Wissen von der Gegenwart des Herrn unter uns einleiten. Kurz: Anbetung halten und Eucharistie feiern. Die Speise der Unsterblichkeit essen. Gerade in Zeiten der Todesangst.
Die mythische Überlieferung zeigt in vielen Religionen ein Essen, das gottnah macht. Schon das Essen des Pflanzen- oder Tier-Opfers vom Opfertisch führt an die Gemeinschaft mit den Göttern heran. Dass aber die Gottheit sich selbst unmittelbar zu essen gibt, gehört nicht zum gewöhnlichen Material der Religionsgeschichte. Nektar und Ambrosia bei den Griechen oder die keltischen Nüsse der Weisheit, die der Held essen kann, sind nicht Gott selbst.
Aber im Christentum findet ein Sprung statt, ein doppelter Sprung: Die Speise der Eucharistie macht unsterblich und: Gott gibt sich selbst zu essen. „Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.“ (Joh 13,54) Bei der verbotenen Frucht im Paradies hieß es umgekehrt: „Wenn ihr davon eßt, werdet ihr sterben.“ (Gen 1,17) Eucharistie aber ist die Rückkehr ins Paradies zum Baum des Lebens.
In den Evangelien wird mehrfach vom großen Hochzeitsmahl als Besiegelung der Gottwerdung des Menschen, der Einswerdung von Gott und Mensch gesprochen.

Mit der Eucharistie Corona überleben

Ewiges Leben ist Genuß des göttlichen Lebens. Paulus hält unmissverständlich fest: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendsten unter allen Menschen. (…) Denn dies Verwesliche muss anziehen die Unverweslichkeit und dies Sterbliche muss anziehen die Unsterblichkeit. Wenn aber dies Verwesliche anziehen wird die Unverweslichkeit und dies Sterbliche anziehen wird die Unsterblichkeit, dann wird erfüllt werden das Wort, das ge-schrieben steht (Jes 25,8; Jos 13,14): ‚Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?’“
Das „Fleisch“, das in allen Kulturen für Vergänglichkeit und Verwesung steht, wird durch den Genuß des göttlichen Fleisches, des göttlichen Blutes zum „leidenthobenen Leib“ gewandelt. Diese Lehre ist von Grund auf Angstüberwindung. Sie ist systemrelevant.
„Brot ist uns Christus geworden und Wein. Speise und Trank. Essen dürfen wir ihn und trinken. Brot ist Treue und standhafte Festigkeit. Wein ist Kühnheit, Freude über alles Erdenmaß, Duft und Schönheit, Weite und Gewähren ohne Grenzen. Rausch des Lebens und Besitzens und Spendens…“
Ein solches Geheimnis begreift man nicht, man wird darin heimisch. Mit dem göttlichen Brot und Wein werden wir Corona überleben, entweder auf dieser Seite des Lebens oder auf der anderen, endlich vollkommenen Seite. Wenn wir uns um Brot und Wein versammeln und davon nicht abhalten lassen, „krönst Du auch das Jahr 2021 mit Deiner Huld“.

(radio vatikan in Kooperation mit K-TV, katholisches Fernsehen, Claudia Kaminski)

[1] 1 Kor 15,19. 51-55.

[1] Notkeri poetae liber ymnorum/Notker des Dichters Hymnenbuch, hg. v. Wolfram von den Steinen, Bern/München 1960, 31: Feria II/Die Montagshymne: „Resurgens et impassibile corpus sumpsit“.

[1] R. Guardini, Brot und Wein, in: des., Heilige Zeichen (1927), Mainz o.J., 39.

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31. Dezember 2020, 11:00