Unser Sonntag: Die Wüste 'Corona'
Rainer Maria Kardinal Woelki
2. Advent (Mk 1,1-8)
Es gibt Menschen, die fallen einfach auf, sei es durch ihr Äußeres, sei es durch ihre Worte. Unwillkürlich schaut man hin oder geht hin und hört ihnen zu.
Johannes der Täufer zählt offensichtlich dazu. War sein markantes Outfit schon ungewöhnlich, waren es seine Worte noch viel mehr. Nicht nur die Evangelien präsentieren ihn uns als einen Menschen, der die Scharen anzog.
Auch der römisch- jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus bestätigt dieses Bild: Johannes zog die Massen an. Sein hartnäckiger Einsatz für die Gerechtigkeit ließ aufhorchen. Aus Sorge, im Gericht Gottes nicht bestehen zu können, kamen die Städter und Landbewohner in großen Mengen zum Täufer, um zu hören, was sie vor dem Untergang im Gericht Gottes bewahren könnte.
Das Markusevangelium stellt uns Johannes den Täufer als einen Wüstenmenschen vor. Dabei meint die Wüste hier den Landstreifen zwischen unbewohnbarer Steinwüste auf der einen Seite und dem mit Dörfern und Städten besiedelten Kulturland auf der anderen Seite.
Er befindet sich nördlich des Toten Meeres auf der heute zu Jordanien gehörenden Seite des Jordan. Das Leben in dieser Steppenlandschaft mit hartem Gras und niedrigem Gebüsch, aber auch mit Zugang zum Wasser, ist möglich, doch kärglich und anstrengend. Heuschrecken und wilder Honig passen als Nahrungsmittel in diese rauhe Landschaft und geben Zeugnis vom asketischen Leben des Täufers. Mit dem schlichten Gewand aus Kamelfell und Gürtel hat Markus jedoch mehr im Sinn als die Beschreibung eines Aussteiger-Outfits. Fellüberwurf und Gürtel kennzeichnen Johannes als Propheten und verweisen konkret auf den alttestamentlichen Propheten Elija, der die gleiche Kleidung trägt. Sie ist so auffällig, dass sie fast wie ein Personalausweis funktioniert: Als man einst dem König Ahasja mitteilte, eine beobachtete Person trage „einen Mantel aus Ziegenhaaren und einen ledernen Gurt um die Hüften“, antwortet dieser spontan: „Das war Elija aus Tischbe“ (2 Kön 1,8). Dieser Ort Tischbe liegt übrigens dort, wo auch Johannes der Täufer wirkte: auf der östlichen Jordanseite. Offensichtlich will Markus eine Verbindung zwischen Johannes und Elija herstellen. Der Hintergrund ist Elijas Tod, der im Alten Testament als Himmelfahrt mit einem feurigen Reiterwagen beschrieben wird (vgl. 2 Kön 2,11).
Mit der Wiederkunft des Propheten hört alle Spaltung auf
Diese Darstellung erlaubte es dem Judentum, mit einer Wiederkunft des Propheten zu rechnen. Mit ihr wird alle Spaltung aufhören und zerstrittene Generationen werden sich miteinander versöhnen – so hält es das letzte Buch des Alten Testaments am Schluss fest. Es ist das Prophetenbuch Maleachi, an welches das heutige Evangelium mit den Worten „Seht, ich sende meinen Boten“ wörtlich anschließt (vgl. Mal 3,1.23-24).
Markus versteht Johannes als den wiedergekommenen Propheten Elija und stellt ihn als Verkünder im Dienste der Versöhnung dar: Deshalb betont er so sehr, dass Johannes von Umkehr und Vergebung gesprochen habe. Das schreckte die Menschen damals keineswegs ab, sondern alarmierte sie eher. Sie hatten ein Ohr für diese Botschaft und waren auch bereit zu einem bis dahin unbekannten Zeichen der inneren Umkehr: Sie stiegen in den Jordan und ließen sich von Johannes untertauchen.
Jesus selbst ist die Versöhnung Gottes mit den Menschen
Das Vorbild zur christlichen Taufe in ihrer ursprünglichen Form des Untertauchens ist offensichtlich. Aber Markus benennt durch den Mund des Johannes den entscheidenden Unterschied: Nach dem Täufer wird einer kommen, der nicht nur im Auftrag Gottes einen Wasserritus vollzieht. Sondern in ihm, dessen Name Jesus noch erwartungsvoll ausgespart wird, ist Gott selber mit seinem Geist, mit seiner schöpferischen, Leben erhaltenden und Sünde wegnehmenden Kraft und Stärke am Werk. Der, den Johannes damals noch erwartet, auf den wir heute aber ebenso zurückschauen wie wir ihn unter uns gegenwärtig glauben dürfen – dieser Jesus spricht nicht nur von Versöhnung, sondern er ist selbst die Versöhnung Gottes mit den Menschen.
Doch bleiben wir bei Johannes dem Täufer. Markus lässt es gar nicht zu, ihm auszuweichen. Wie eine unübersehbare und nicht zu umgehende Wegmarkierung stellt er ihn an den „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn“.
„Stimme eines Rufers in der Wüste“ nennt ihn der Evangelist und zitiert damit leicht verändert das Buch Jesaja, wo es heißt: „Stimme eines Rufers: Bereitet dem HERRN in der Wüste den Weg“ (Jes 40,3). Es ist also gar nicht so eindeutig, wer sich in der Wüste befindet: der Rufer oder diejenigen, zu denen er spricht.
Beides trifft zu. Denn die Wüste ist biblisch nicht nur eine Landschaft, sondern vor allem der Ort des Ausgesetztseins, des Ringens um die Beziehung des Menschen mit seinem Gott, der Versuchbarkeit durch gott-lose Lösungen von existentiellen Nöten. Diese Wüste bleibt niemandem erspart, weder dem Verkünder noch denen, die ihm zuhören. Mose gerät ebenso in die Wüste des Ringens mit Gott um die eigene Berufung wie das murrende Volk Israel oder wie auch der bereits genannte Elija, der Gott unerwartet im „feinen Schweigen“ in der Horebwüste entdecken muss. Ganz zu schweigen von Jesus selbst, dem Satan in der Wüste vierzigtägigen Hungers begegnet. Alle entscheiden sich für Gott.
Jetzt wird auch erkennbar, warum selbst ein Steppengebiet biblisch als Wüste bezeichnet werden kann. Es geht nicht so sehr um Geographie. Wüste steht vielmehr für den Ort und den Zeitpunkt, wenn der Mensch ganz und gar auf sich gestellt mit der existentiellen Entscheidung für oder gegen Gott konfrontiert wird. Hierin kommen alle Wüstenerzählungen der Bibel zusammen. Für Johannes der Täufer war diese Wüste das ostjordanische Steppenland. Dort hat er sich Gott gestellt und sich für ihn entschieden. Aber zugleich wird er zum Opfer einer einsamen Wüsten-Entscheidung gegen Gott: Sein Landesvater, Herodes Antipas, stimmt wohl nicht nur aus einer Trinklaune heraus, sondern auch aus Angst um Ansehens- und Machtverlust, der Enthauptung des Propheten zu. Wer in seiner inneren Wüste keinen Lebensquell findet, kann zum Verwüster werden.
Johannes ließ seine Zuhörer die Wüste in ihrem Inneren erkennen
Doch zuvor führte Johannes der Täufer mit seiner Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes und dem Aufweis des menschlichen ungerechten Handelns die Bewohner der Städte und Dörfer in die Wüste. Dies gilt im wörtlichen Sinne, aber auch im übertragenen: Er ließ seine Zuhörer die Wüste in ihrem Inneren erkennen: die Wüste eigenen Versagens, die Wüste der Entscheidungsfindungen ohne Gott, die Wüste der Sündhaftigkeit, zu der das Unterdrückungssystem Roms durchaus führen konnte.
Und da rückt unser Evangelium auf einmal ganz nah an uns heran. Heute lautet eine der Wüsten, in die hinein die Botschaft vom „stärkeren“ Gott trifft, der sich in Jesus Christus gezeigt hat: Corona. Diese Wüste zeigt sich in den zahlreichen Entscheidungssituationen, in die die COVID-Krise hineinführt: Wie gehe ich um mit der erzwungenen Einsamkeit, die verbittern und ungerecht machen kann oder nur noch sich selbst sehen lässt? Was stelle ich der Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit entgegen, da sich nichts zu ändern scheint? Wie reagiere ich auf die Wüste der Ohnmacht, hilflos den Tücken eines Virus ausgesetzt zu sein? Wie durchwandere ich die Wüste der Traurigkeit, dass die Zahl der Kirchenbesuche nun weiter und viel schneller als vorhergesehen geschrumpft ist? Jenseits von Corona leben wir alle in der Wüste unzählbar vieler Alternativen, die uns oft orientierungslos machen. Woher kommt wirklich Nahrung und Leben? Von woher könnte wirklich ein Neuanfang kommen?
Genau in diese Wüste hinein erklingt noch immer der Ruf der Wüstenstimme: „Bereitet dem HERRN den Weg!“ Er, dessen Geburtsfest wir erwarten, der aber in Wirklichkeit schon längst angekommen ist; er, der zu Johannes in die Wüste kommen wird – er erwartet uns in der Wüste. Er will sich gerade dort als der erweisen, der stärker ist als wir; der stärker ist als alle Versuchungen zu schwachen Lösungen, die Christus aussparen und eher auf Kosten Anderer gehen; Lösungen, die eher aus dem Trockenland eigener Ängste oder der Selbstüberschätzung erwachsen als aus dem ermutigenden Zuspruch Jesu. Sein erstes Wort im Markusevangelium – wenige Verse nach dem heutigen Abschnitt – lautet: „Das Reich Gottes ist nahe.“ und: „Glaubt an das Evangelium!“
Glaubt an die Nähe Gottes
Das heißt: „Glaubt an diese gute Botschaft der Nähe Gottes, in allen Wüsten und gegen alles, was dagegen zu sprechen scheint. Und ihr werdet den Geist, die Kraft und Dynamik Gottes, der alles ins Dasein gerufen hat, am Leben erhält und vollenden wird, in euch verspüren. Und sucht auf diesem Fundament nach Gott-vollen Lösungen, die auch Umkehr von bisherigen Wegen verlangen.“ Und vielleicht ist dabei die wichtigste Umkehr, abzulassen vom Wahn
der Unverwundbarkeit und der Machbarkeit, der sich besonders seit dem letzten Jahrhundert aufgebaut und auf vielfältige Weisen Wüsten in dieser Welt geschaffen hat.
Der zweite Adventssonntag lädt Sie und mich ein, dem Ruf des Rufers aus der Wüste erneut zu trauen und uns auf den Weg der Umkehr zu machen – gestärkt mit dem Geist Gottes, den wir in Taufe und Firmung empfangen haben.
(radio vatikan - claudia kaminski)
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