Deutsche berät Vatikan: Corona mit Gemeinschaftssinn meistern
Allmendinger ist seit 17 Jahren Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin. Wie sie diesen Berliner Blick in den römischen Kontext einbringen will, haben wir sie unter anderem gefragt:
Radio Vatikan: Was würden Sie gerne als neues Mitglied in der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften einbringen?
Prof. Allmendinger: Ich habe den großen Vorteil und den Luxus in vielen Akademien in Deutschland sein zu dürfen: in der Leopoldina; in der Deutschen Akademie der Wissenschaften; in der Bayerischen Akademie, aber auch in der Brandenburgischen Akademie. In diesen Akademien haben wir sehr viele Arbeitsgruppen: zu Fragen des Gemeinwohls, des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Zukunft der Arbeit. Ich möchte diese ganzen Diskussionen bündeln und möchte Vorschläge machen, was auch die katholische Kirche tun kann, um mehr Menschen, die sich normalerweise gar nicht treffen, zusammenzubringen. Auf diese Weise können wir ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen, denn wir brauchen eine Gemeinschaft mindestens genauso viel, wie eine Gesellschaft oder noch mehr. Ansonsten werden wir die großen Herausforderungen überhaupt nicht gemeinsam meistern können. Ich hoffe, dass ich von daher auch ein Beitrag leisten kann, dazu dass die Kirche wieder ein größeres Vertrauen genießt.
Radio Vatikan: Die Akademie sowie andere vatikanische Einrichtungen kümmern sich derzeit viel um die Aufarbeitung der Corona-Pandemie und es werden viele Vorschläge zu ihrem Überwinden und für die Zeit nach der Pandemie gemacht. Gerade im soziologischen Bereich gibt es viele Themen, die noch zu forschen und erarbeiten sind. Wie sehen Sie die derzeitige Lage in Europa aus sozialethischer Sicht? Wie gehen die europäischen Gesellschaften mit der Krise um?
Viele ethische Fragen
Prof. Allmendinger: Es stellen sich in dieser Corona-Pandemie, die ich selbst sehr genau untersuche und zu der ich sehr viele eigene Erhebungen mache und Ergebnisse überblicke, natürlich zunächst mal die Fragen: Wie gehen wir jetzt mit jeweils neuen Entwicklungen um? Wie gehen wir damit um, dass wir Schutzkleidungen beispielsweise hatten für einige, aber nicht für alle? Wie diskriminieren wir hier? Wie gehen wir damit um, dass wir medizinische Möglichkeiten nur für ein Teil der Schwererkrankten haben? Das ist eine zutiefst ethische Frage. Im Moment behandeln wir lange und eingehend auch die Frage, wie mit den bereits Geimpften umgehen - im Vergleich zu jenen, die überhaupt noch gar keinen Zugang zum Impfen haben? Sollen die Geimpften Sonderrechte haben? Sollen sie sich wieder treffen können? Das ist etwas, was er gerade für ältere Leute, also diejenigen, die zuerst geimpft wurden, ganz außerordentlich wichtig ist: wieder das Gespür von Gemeinschaft und von Gesellschaft zu haben.
Bereitschaft der Umverteilung erhöhen
Das sind sozusagen ethische Fragen im engeren Sinne. Ethische Fragen im weiteren Sinne betreffen die Ungleichheit, die durch die Pandemie entstanden ist im Allgemeinen. Und hier sehen wir in allen Ländern, die Ungleichheit zwischen Leuten, die die Wahl haben, die Geld besitzen und Bildung genießen, und jenen, die keine Optionen haben, weil sie eine niedrige Bildung haben, oder weil sie ihren Job verloren haben. Das kann auch sein, weil sie in Bereichen arbeiten, die so nie wieder sein werden. Denken Sie an die ganze Kohleindustrie oder andere Industriebereiche. Da müssen wir etwas tun, damit alle Menschen Zuversicht erhalten, was die Bereitschaft der Umverteilung erhöht und das ist etwas was mich besonders interessiert, das in der Päpstlichen Akademie diskutieren zu dürfen.
Radio Vatikan: Papst Franziskus weist auch immer wieder auf die Bedeutung von Bildung hin. Die heutige Jugend, aber auch Kleinkinder, haben sehr stark unter dem Lockdown gelitten. Geschlossene Schulen und Bildung auf Distanz kamen nicht immer gut an. Wie könnte man Bildung unter den gegeben Umständen am besten durchführen? Gibt es Lehren aus der jüngsten Erfahrung bzw. aus den eventuellen Fehlern, die begangen wurden?
Prof. Allmendinger: Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich sagen, dass ich sehr genau zugehört habe und sehr genau gelesen habe, was der Papst gesagt zum Thema Bildung. Es hat mich sehr gefreut, dass er einen sehr breiten Bildungsbegriff verwendet hat. Bildung hat er nicht nur auf Abschlüsse, Noten oder gelernten Stoff bezogen, sondern auch darauf, wie wichtig die psychische und psychologische Entwicklung von kleinen Kindern ist. Und er hat darauf hingewiesen, wie sehr sie andere Kinder brauchen, wie sehr sie die Reibungen brauchen und überhaupt gesellschaftliche Normen, Umgangsformen, Verhaltensweisen, Toleranz und Respekt. All das gehört dazu, aber natürlich auch Resilienz lernen zu können und das ist für mich eigentlich das Entscheidende:
Wir müssen jetzt ausbilden, damit mehr Personen als in dieser Krise durch die nächste Krise kommen - weil sie noch Hoffnung haben und weil sie denken, dass man hier nicht irgendwelchen fremden Mächten ausgeliefert ist und dass sie Optimismus in sich tragen. Dazu brauchen wir Schulen. Was mich stört an der Diskussion und wo auch die Kirche mithelfen kann, ist, dass wir in einem entweder oder sprechen. Entweder sind die Schulen offen oder geschlossen. Oder die Schulen bieten digitalen Unterricht zu Hause und die Eltern machen eben Homeoffice und auch Homeschooling. Dieses Entweder-Oder ist für mich nicht naturgegeben, wir haben die Möglichkeit leerstehende Hotels zu benutzen mit viel Fläche, wo wir Kinder in wesentlich kleineren Gruppen unterbringen.
Wir hätten die Möglichkeit, Studierende oder andere Personen einzubeziehen, die jetzt in Kurzarbeit sind, weil sie gar nicht zur Arbeit gehen dürfen. Die Geschäfte sind geschlossen, die Studenten, die oft eine Nebenerwerbstätigkeit brauchen, um das Studium finanzieren zu können, die könnten zu diesen Familien gehen. Natürlich müssten sie getestet werden. Man könnte sagen wir sie 3-4 Stunden mit diesen Kindern beschäftigen, dass sie ihnen etwas beibringen oder einfach auch nur miteinander interagieren, nach draußen gehen, mit ihnen spazieren etwa in den Wald. Dass sie ihnen die Natur zeigen oder auch städtische Kontexte. Warum wir diesen mittleren Weg zu zaghaft angehen, wo wir auf der anderen Seite technische Innovationen massiv befördern, denken Sie nur an die Entwicklung von Impfstoffen, dafür habe ich kein Verständnis. Das ist einer der Gründe, warum ich voller Dankbarkeit diesem Ruf gefolgt bin, weil man tatsächlich auch durch solche kirchlichen Aktivitäten viele, viele Leute erreichen und helfen kann.
Radio Vatikan: Inwieweit spielt die religiöse Dimension eine Rolle in der heutigen europäischen Gesellschaft? Haben die christlichen Kirchen noch eine soziale Funktion? Und hat die Pandemie diesen gesellschaftlichen Halt in irgendeiner Weise berührt?
Prof. Allmendinger: Natürlich haben die christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften eine unglaubliche Funktion. Wenn Sie an die Tafel denken, wenn sie an Hilfssysteme denken, dann sind es zu einem großen Teil immer noch kirchlich getragene. Ich habe viel zu Obdachlosigkeit gearbeitet, das wäre doch gar nicht anders möglich. Da ist es Gott sei Dank auch so, dass Kirchen auch inklusiver geworden sind, sie schließen sich mit anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammen, aber das alles ist nicht wegzudenken. Wir wissen auch, dass insbesondere in Krisensituationen Menschen besonderen Halt brauchen. Es ist Halt durch Leute, die extra dafür da sind, aber auch einfach durch ihre Mitmenschen. Von daher finde ich jede Art von Miteinander sehr wichtig. Wenn es nicht anders geht auch nur digital. Da sollte es aber die Möglichkeit geben, jemanden anrufen zu können. Dies ist heute wichtiger als vor einem Jahr, ohne jede Frage.
Radio Vatikan: Nochmals nachgehackt, weshalb ist es für Sie wichtig, gerade in der Päpstlichen Akademie dabei zu sein?
Den Spiegel hinhalten
Prof. Allmendinger: Ich bin ja schon in vielen Akademien dabei und da ist schon eine Frage, ob ich überhaupt die zeitlichen Ressourcen habe, noch in eine Päpstliche Akademie zu gehen. Und: Habe ich überhaupt eine Motivation, als Protestantin, als eine Person, die sich zwar für die christlichen Religionen interessiert, aber jetzt nicht so in der katholischen Soziallehre beispielsweise steckt, wie viele andere? Ich denke, dass gerade dieses ein bisschen entfernt sein, also ein Spiegel herhalten zu können und Außenansichten einbringen zu können von Vorteil sein kann.
Was mich unglaublich gereizt hat und was dazu geführt hat, diese Position dankend anzunehmen, ist auch die unglaubliche internationale Zusammenstellung und - wenn ich das so ausdrücken darf - auch die intersektorale Zusammenstellung. Hier sind ehemalige Politikerinnen und Politiker, dann haben wir Personen aus der Wissenschaft, Leute aus der Wirtschaft, aus der Zivilgesellschaft. Dieses interdisziplinäre und diese unterschiedlichen Altersbereiche, die Unterschiede in der Religionszugehörigkeit sowie die große Internationalität, das finde ich ganz vorbildlich für Akademien und deshalb freue ich mich sehr und bin außerordentlich dankbar, dabei sein zu dürfen.
Das Gespräch führte Mario Galgano.
(vatican news – mg)
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