Unser Sonntag: Die Krise heilt
Dr. Michael Max, Rektor der Anima, Rom
Joh 3,14-21
4. Fastensonntag
Wahrscheinlich gab es noch nie so viele Menschen, die genau wussten, wie eine Impfung funktioniert. Vereinfacht könnte man vielleicht sagen: Anhand einer Virusattrappe lernt der Körper, sein Abwehrsystem so einzustellen, dass es auch auf den echten Virus reagieren kann. Durch die Impfung wird sozusagen eine kontrollierte Krise in unserer Gesundheit ausgelöst, durch die, wenn sie überstanden ist, auch eine sonst schwere Infektion ausgehalten werden kann.
Vielleicht kann man auch die Fastenzeit in diese Richtung verstehen: Sie ist Jahr für Jahr, vierzig Tage lang eine Art kontrollierte Krise, in der wir lernen können, wie wir auch große, nicht mehr so leicht kontrollierbare Lebenskrisen bewältigen können.
Das Wort „Krise“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet zunächst einfach nur „Unterscheidung“. Daher gibt es etwa Kriterien, anhand derer etwas von etwas anderem unterschieden werden kann. Ein Zeitlimit ist zum Beispiel ein Kriterium, mit dem ein Unterschied gemacht wird zwischen denen, die sich für einen nächsten Durchgang qualifizieren oder nicht.
Das Gute an einer Krise ist also, dass sie zu Klarheit führt, das Schmerzhafte daran ist aber auch, dass sie zu einer Klarheit führt. Ausreden helfen dann nicht mehr, ein Aufschub ist nicht mehr möglich. Es hat nicht gereicht, der Ansatz war falsch gewählt, das Kriterium wurde nicht erfüllt. Dagegen kann man sich wehren, man kann es bestreiten, man kann sich daran abarbeiten und vielleicht auch aufreiben. Am Ende bleibt die Klarheit, dass ein anderer Weg eingeschlagen werden muss. Nur durch die Krise hindurch kann ein neuer Anfang gefunden werden. Solange ich mich dem verschließe, gehe ich im Kreis.
Der vierte Fastensonntag trägt in der liturgischen Tradition der Kirche seit alters her den Namen „Laetare“. Nach dem ersten Wort seines Eingangsverses, der mit „Freue dich, Stadt Jerusalem!“ beginnt. Das Evangelium für diesen Sonntag ist im Lesejahr B aus dem dritten Kapitel des Johannesevangeliums genommen.
Nikodemus sucht Klarheit
Dort wird zunächst geschildert, wie einer der führenden Männer unter den Juden, Nikodemus, der Tradition nach auch ein Ratsherr aus dem hohen Rat in Jerusalem, in der Nacht Jesus aufsucht. Sich mit Jesus nach dem Skandal der Tempelreinigung öffentlich und bei Tageslicht zu treffen, traut er sich wahrscheinlich nicht. Er beginnt mit Jesus ein Gespräch, stellt ihm Fragen, versucht Klarheit zu finden über jenen Mann, über den wohl auch in seiner Umgebung viel gesprochen wird. Nikodemus sucht die Unterscheidung, sucht Kriterien anhand derer er Jesus einordnen kann. Das Gespräch als Krise im besten Sinn des Wortes. Jesus antwortet auf die Fragen des Nikodemus.
Aber viel grundsätzlicher und umfassender als dieser es sich, oder wir Leserinnen und Leser heute uns das vielleicht erwarten. Ein typisches Kennzeichen für den Ansatz des Johannesevangeliums: Rein menschliches Verstehen wollen geht ins Leere. Was uns hier entgegenkommt ist göttliche Wahrheit. Nicht nur das heimliche Gespräch zwischen Nikodemus und Jesus sucht Klarheit. Das ganze Leben, eine gesamte menschliche Existenz steht auf dem Prüfstand. Was im nächtlichen Gedankenaustausch an Erkenntnis gesucht wird, muss als Wahrheit auch Bestand haben können am helllichten Tag. Mitten darin beginnt unser Evangliumsabschnitt. „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.“
Die Bewegung geht von Gott aus
Damit ist das entscheidende Kriterium genannt. Die Bewegung geht von Gott aus. Er wendet sich der Welt zu, er verschenkt sich im Sohn an sie und holt so die Welt aus ihrer Gottferne heim in seine Liebe. Daran unterscheiden sich: finden und verlieren, retten und richten, Finsternis und Licht, Böses und Gutes. Das Kommen Gottes in die Welt wird zur entscheidenden Krise, durch die die letzte Wahrheit aufgedeckt wird. „Was ist Wahrheit?“ werden wir am Karfreitag Pilatus fragen hören. Was ist Wahrheit? Die Macht des Pilatus über Leben und Tod, oder die Ohnmacht des geschundenen und verspotteten Jesus aus Nazareth. Die Macht, deren Kriterium ihr eigener Erhalt ist, oder die Ohnmacht, deren Kriterium die Hingabe bis in die letzte Verlassenheit hinein ist. Die Macht, deren Nutzen letztlich nur ein einziger hat, oder die Ohnmacht, die den Weg in die Wohnung beim Vater für alle öffnet. Wir erfahren nicht, wie Nikodemus von diesem Gespräch wegging. Ob es ihm den entsprechenden Erkenntnisgewinn brachte oder nicht. Er wird uns ebenfalls am Karfreitag wieder begegnen. Am Ende der Leidensgeschichte und abermals in der Abenddämmerung. Dort wird er es sein, der die teuren Salböle für das Begräbnis Jesu bereitstellt.
Wollen wir die Kriterien eines neuen Lebens?
In diesem Abschnitt aus dem Johannesevangelium wird deutlich, dass die Vierzig-Tage-Zeit vor Ostern diesen Charakter der Krise trägt. Zunächst ist das ja die Zeit der unmittelbaren Vorbereitung auf die Taufe zu Ostern. All jene, die sich darauf einlassen möchten, ihr Dasein letztlich ganz auf Christus auszurichten, dürfen sich entscheidend fragen, ob sie das wirklich wollen, ob sie ihr altes Leben hinter sich lassen und ein neues beginnen wollen, ob sie die Kriterien eines Lebens ausgerichtet am Wort Gottes und in der Gemeinschaft der Kirche erfüllen. Eine Gemeinschaft, die sie auf diesem Weg begleitet, die sie mitnimmt und einführt, und die so diese Zeit selbst Jahr für Jahr als eine Möglichkeit durchlebt, das Leben neu an Christus auszurichten. Damit sind wir bei der zweiten Dimension der Fastenzeit, die wir meist aus Ermangelung an Taufwerbern als die einzige wahrnehmen: Für uns Christinnen und Christen gilt es, bei Gott den neu zu finden, der das, was aus dem Ruder gelaufen ist, wieder ins Lot bringt. Wir entdecken, wo Versöhnung heilsamer ist als einander aus dem Weg zu gehen.
Wider die tödliche Ignoranz
Wir nehmen wahr, dass Hilfe und füreinander da sein ein mehr an Leben schenkt als tödliche Ignoranz. Wir trauen uns Liebgewordenes, aber Nutzloses loszulassen, um Herz und Hände frei zu bekommen dort, wo ihr Einsatz wirklich gefragt ist. Mühsam vielleicht, schmerzhaft dann und wann. Eine kontrollierte Krise in Verzicht, Umkehr und Gebet, die aber die nötige Klarheit bringt für das, was Ostern und neues Leben in Christus bedeuten. Denn Ostern heißt letztlich mit ihm selbst durch die größte Krise, die letzte große Unterscheidung: durch den Tod siegreich hindurch zu gehen.
„Laetare – freue dich Stadt Jerusalem“, dieser aufmunternde Zuruf gilt der ganzen Kirche. In all den Nöten der Zeit darf sie aus der Erfahrung leben, dass Gott in ihr alle Menschen sammeln möchte. Sie trägt schon das Bild des himmlischen Jerusalem in sich. Auch wenn ihre Glieder oft genug dazu beitragen, dieses Bild zu verdunkeln oder unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Und doch stehen ihre Tore allen offen, die Durst haben nach dem Leben, denen Trauer und Angst die Hoffnung nehmen. In ihr finden sich die ein, die wie Nikodemus den Schritt hinauswagen, den Mut haben Fragen zu stellen und der Krise, die dadurch ausgelöst wird, nicht ausweichen. „Freut euch und trinkt euch satt an der Quelle göttlicher Tröstung“, heißt es abschließend im Eingangsvers, der aus dem Buch Jesaja stammt. So sehr liebt Gott die Welt, dass er nicht aufhört, sich in Christus an uns zu verschenken. Das ist die Quelle des Heils, die unaufhörlich fließt.
Das eigene Herz in der Fastenzeit prüfen
In meiner Heimatstadt, in Gmunden am Traunsee, ist es am Sonntag Laetare seit Jahrhunderten der Brauch Herzen aus Lebkuchen zu verschenken. Was aus Lebkuchen gebacken ist, steht für die Mitte der eigenen Existenz: Mein Herz. Das ist die eigentliche Motivation, sein Herz in der Fastenzeit zu prüfen, und es durch Krisen hindurch zu stärken: Um es anschließend verschenken zu können. Wer aber bereit ist, das eigene Herz zu verschenken, dem gilt aus dem Evangelium dieses Sonntages heraus die Zusage, dass er dabei auch Gottes Herz mitschenkt.
Wir Christen und Christinnen werden in der österlichen Taufe nicht mit allen Wassern gewaschen, sondern wir werden dort selbst zur Quelle eines Lebens, das sich schenkt. Und so werden wir auch in der kontrollierten Krise der Fastenzeit nicht gegen alles geimpft und immunisiert, was das Leben in Frage stellt. Aber wir können in diesen Tagen für andere ein Kriterium werden, das die Freude am Leben von der Angst davor unterscheidet.
(radio vatikan - claudia kaminski)
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