Misereor: COVAX-Initiative verzeichnet „gewisse Fortschritte“
Anne Preckel - Vatikanstadt
Klatte geht im Interview mit Radio Vatikan zugleich auf den aktuellen Stand der COVAX-Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein. Hier seien inzwischen „gewisse Fortschritte“ zu verzeichnen, so die Corona-Beauftragte bei Misereor. So könne in Afrika dank bald 32 Millionen zur Verfügung stehender Impfdosen jetzt immerhin das Gesundheitspersonal immunisiert werden. Die COVAX-Impfkampagne soll global eine gerechte Verteilung von Corona-Impfstoffen gewährleisten. Beteiligt sind etwa 190 Staaten, die Hälfte davon ärmere Länder.
Radio Vatikan: Die USA will neuerdings eine zeitlich befristete Aufhebung des Patentschutzes auf Corona-Impfstoffe unterstützten und schlägt sich damit in der Frage auf die Seite ärmerer bzw. benachteiligter Länder. Der Vatikan und Hilfsorganisationen hatten schon früh so etwas gefordert. Kann der Schritt das Blatt wenden im Kampf gegen Corona – vor allem in den ärmeren Regionen der Welt?
Klatte (Misereor): „Ja, wir halten das für ein sehr positives Signal, was im Sinne des Rechts auf Gesundheit für alle Bewegung in die Debatte bringen kann! Wie Sie wissen, haben ja die beiden Länder Südafrika und Indien bereits im Oktober einen Antrag auf temporäre Aussetzung der Patente gestellt und durch die Unterstützung, die jetzt hier durch die USA hereinkommt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Welthandelsorganisation (WTO) sich auch darauf einlassen wird. Wir halten das für ein wichtiges Hoffnungszeichen, weil durch eine temporäre Aussetzung der Patente eine schnellere Produktion und Verteilung von Impfstoffen in Aussicht gestellt wird. Ich möchte gleichzeitig mit darauf hinweisen, dass allein diese Maßnahme nicht reichen wird - also aus unserer Sicht und auch aus der Sicht vieler anderer Hilfswerke ist es auch notwendig, den Zugang zu Medikamenten, zu technologischen Innovationen und zu Fortschritt auch etwas breiter zu sehen, damit wir die Pandemie auch angemessen beantworten können. All dies ist insbesondere im aktuellen Kontext der Inzidenzen-Entwicklungen weltweit zu sehen, die ja immer deutlicher macht das niemand sicher ist, wenn nicht alle sicher sind.“
Radio Vatikan: Würde die Aufhebung der Patente denn automatisch mehr Impfstoff bringen?
Klatte: „Ich glaube, dass die reine Aussetzung der Patente noch nicht die Antwort ist. Wir wissen ja alle, dass Impfstoffe auch nicht überall in der Welt produziert werden können. Aber durch die Aussetzung der Patente wird einfach die Möglichkeit von mehr Produktionsstandorten erhöht, und allein dadurch steigt die Impfstoffproduktion. Und das muss dann aber auch mit einer gerechteren und faireren Verteilung verbunden sein. Also wenn wir jetzt auf die aktuelle Situation schauen, dann haben wir mit Afrika einen Kontinent, der zu 90 Prozent auf Importe von Impfstoffen angewiesen ist. Und darin zeigt sich schon, dass eine reine Patent-Aussetzung und Produktionsstandort-Ausweitung nicht ausreichen wird, um der Herausforderung zu begegnen.“
Radio Vatikan: Wichtige Herkunftsländer der Pharmaindustrie wie die USA blockierten zunächst den Vorschlag, die Patente aufzuheben, der ursprünglich von Südafrika und Indien gemacht wurde. Wie ist die Wende der USA in der Frage zu erklären?
Klatte: „Ja, die Vermutung liegt nahe, dass die USA nach einer gewissen Besserung ihrer eigenen Situation sich diesem Vorschlag geöffnet haben. Wie man weiß erfolgen die Impfungen in den USA ja relativ gut in den letzten Monaten, da ist eine recht hohe Quote inzwischen erreicht, und das mag neben natürlich dem gesamten Politikwechsel, den wir nach der Ära Trump zu verzeichnen haben, dazu beigetragen haben, dass die USA jetzt wieder stärker auch auf die globale Ebene der Impfgerechtigkeit schauen.
Radio Vatikan: Die Herstellung von Corona-Impfstoffen ist kostenintensiv und komplex. Können Sie die Gegenargumente der Pharma-Industrien verstehen, die gegen eine Aufhebung des Patentschutzes sind?
Klatte: „Verstehen im Sinne von sachlich nachvollziehen kann man das, aber die Argumente sind nicht haltbar. Letztlich ist die Forderung die an die Welthandelsorganisation gestellt wurde, die Patente auszusetzen, sogar ,in line‘ mit einer weltweiten Verabredung das in Zeiten der Pandemie Schutz globaler Gesundheitsansprüche Vorrang haben muss. Und vor diesem Hintergrund, also vor dem Hintergrund der vielen Verstorbenen infolge der Pandemie und der ungleichen Verteilung guter Gesundheitssysteme in der Welt muss jetzt das humanitäre Argument in den Vordergrund gerückt werden vor dem Argument einer Forschungs- und wirtschaftlichen Interessenlage.
Radio Vatikan: Ein Konsens in der Frage der Aufhebung von Patenten ist international noch nicht in Sicht; die EU hat sich immerhin „gesprächsbereit“ gezeigt, um es mal positiv zu formulieren. Wie realistisch ist es, dass der Corona-Patentschutz tatsächlich bald aufgehoben wird?
Klatte: „Ja, da ist das ist eine gute Frage, die ich auch nicht im Sinne einer Glaskugel-Antwort zu beantworten vermag. Aber ich hoffe doch sehr, dass durch diese Richtungsentscheidung, die jetzt mit den USA in die Debatte gekommen ist, auch etwa die deutsche Bundesregierung insbesondere, aber auch die von Ihnen schon angesprochen EU-Kommission, sich einlassen und die Thematik noch mal mit anderer Dringlichkeit betrachtet werden. Wie gesagt, es ist erforderlich - wir haben eine Pandemie, die die gesamte Gesundheitsproblematik betrifft, und hier reichen keine an Eigeninteressen orientierten oder auch an wirtschaftlichen Faktoren orientierten Antworten aus. Da ist eine Umkehr und eine Umsetzung dessen, was man auch in viel allgemeineren Abfällen vereinbart hat, sehr dringend erforderlich.“
Radio Vatikan: Der Papst und der Vatikan haben immer wieder zu einer globalen Impfkampagne und zu mehr Impfgerechtigkeit aufgerufen und es auch selbst vorgemacht, etwa durch die Vergabe von Impfstoffen an Obdachlose, Spenden und das Versenden von medizinischem Materials in alle Welt sowie der Einrichtung einer Taskforce, die die Folgen der Pandemie vor allem für die Ärmsten in den Blick nimmt. Meinen Sie, diese Schritte haben andere globale Player beeinflusst und waren beispielgebend?
Klatte: „Ich würde das auf jeden Fall bejahen. Der Heilige Stuhl hat ein Wort, das in der Welt gehört wird, das auch in der Wirtschaft gehört wird. Wir haben das ja auch in anderen Situationen gesehen. Mir fällt da spontan die Situation von Flüchtlingen 2015 ein. Da haben wir erlebt, dass Worte des Papstes und des Heiligen Stuhles globalpolitische Debatten sehr dringend beeinflussen können. Ich erinnere an die Lampedusa-Rede, in deren Folge ein ganz anderer und dringend notwendiger Diskurs entstanden ist. Ich könnte mir vorstellen, dass das klare Plädoyer des Heiligen Stuhles auch im Zuge der Impfgerechtigkeitsdebatte eine wichtige Rolle spielt. Hier würde ich gerne ergänzen wollen, dass Äußerungen des Papstes zum Thema Impfgerechtigkeit und der Notwendigkeit zu impfen auch im globalpolitischen Kontext deshalb wichtig sind, weil wir ja gerade in fragilen Ländern und Regionen dieser Welt sehr viele kirchliche Gesundheitseinrichtungen haben, und da spielt eben diese Orientierung aus Rom in der Politikentscheidung darüber, Aufklärungskampagnen zu Impfungen zu verbreiten und damit auch die Impfprozesse zu beschleunigen, eine sehr wichtige Rolle.
Radio Vatikan: Bislang hat die Weltgemeinschaft ja über die sog. COVAX-Initiative der WHO versucht, in Ansätzen so etwas wie eine globale Impfkampagne voranzutreiben. Frau Klatte, bei unserem letzten Gespräch Anfang des Jahres sah es für dieses Projekt noch nicht besonders gut aus: die reichen Länder haben wenig Geld dafür gegeben und sogar Impfstoffe gehortet. Wie ist der aktuelle Stand von COVAX?
Klatte: „Die COVAX-Initiative ist weiterhin von sehr großer Bedeutung. Und wir können nach Informationen des Missionsärztlichen Institutes (MI) sagen, dass - wenn man jetzt z.B. auf Afrika schaut - gewisse Fortschritte erkennbar sind. Also die COVAX-Anteile, die in Afrika gelandet sind, führen jetzt langsam dazu, dass insgesamt 32 Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen. Und wenn die verteilt werden, dann hat das unter anderem eine besonders wichtige Wirkung auch auf die Gesundheitsfachkräfte, die ja besonders dem Risiko einer Ansteckung ausgesetzt sind, und wenn die entsprechend der Impfkriteriologie der WHO schnell geimpft werden, dann ist damit schon viel gewonnen! Nichtsdestotrotz sind die angestrebten zwei Milliarden Impfdosen durch die COVAX-Initiative noch nicht vorhanden und auch noch nicht verteilt. Also hier bleibt nach wie vor eine große Aufgabe, die nicht zuletzt auch weiterer Finanzierung durch die wohlhabenderen Staaten bedarf, also das ist sehr wichtig weiterhin. Ein aktuelles Problem ist die Tatsache, dass der indische Impfstofflieferant aufgrund der verheerenden Situation im eigenen Land derzeit ja einen Exportstopp de facto ausgesprochen hat. Und der indische Impfstoff war einer der wichtigsten für die COVAX-Initiative - deswegen wird auch jetzt weiterhin versucht, andere Impfstoffe mit noch stärker in die COVAX- Initiative mit hineinzunehmen, aber wie Sie hören, bleiben Herausforderungen…“
Gerechte Produktion und Verteilung von Impfstoffen
Radio Vatikan: De facto bleiben ärmere Länder über den COVAX-Mechanismus ja weiter abhängig vom Gutwillen der reicheren, in der Coronakrise besser gewappneten Staaten. Gerechtigkeit würde ja eigentlich Chancengleichheit bedeuten in der Möglichkeit, sich selbst retten zu können. Wenn wir über COVAX hinausblicken, wie könnte dann ein gerechter, globaler Ansatz für die Produktion und Verteilung von Impfstoffen aussehen?
Klatte: Die Frage, die Sie stellen, weist schon weit über die aktuelle Pandemie-Situation hinaus. Das ist im Grunde genommen eine Frage, die sich nur mit der Forderung nach global gerechteren Gesundheitssystem-Verteilungsstrukturen beantworten lässt. Mit anderen Worten: Wir brauchen, um eine Resilienz gegenüber Pandemien zu stärken, ein System, was globale Gesundheit als eine gemeinwohlorientierte gemeinschaftliche Aufgabe begreift und entsprechend nicht nur Impfstoffe, sondern auch technisches Know-how, Forschungsinnovation und Medikamente zur Behandlung von Krankheiten auch jenseits von Covid-19 fair zugänglich macht, für alle Gesundheitssysteme in der Welt. Man hat schon die Ebola-Krise 2014 zum Anlass genommen, diese politische Forderung zu stellen. Bisher ist da allerdings zu wenig passiert. Zu den Antworten würde gehören nicht zuletzt eine deutliche Stärkung der Weltgesundheitsorganisation als Akteur.
Radio Vatikan: Viele der wichtigsten Spenderländer, die etwas zu COVAX beisteuern, bauen auf das globale System des geistigen Eigentums und haben de facto kein Interesse an einer Aufhebung von Patenten. Wird hier mit Covax gegen eine Aufhebung von Patenten argumentiert?
Klatte: „Das könnte sein. Also ich würde das nicht so als eine Entweder-oder-Frage in dem Sinne sehen, aber es kann natürlich sein, dass der Eindruck entsteht, dass manche Länder durch Zuwendung zu COVAX Initiative ihren Teil geleistet sehen. Dass das nicht so ist, sehen wir an der Gesamtentwicklung der Pandemie: Also es muss, um dieser humanitären Krise angemessen zu begegnen, an mehreren Stellen gearbeitet werden. Bzw. es müssen mehrere Politik-Entscheidung getroffen werden, um das zu erreichen. COVAX alleine wird nicht reichen – es sind neben der Aufhebung von Patenten eine ganze Reihe weiterer Schritte nötig, um der Herausforderung der Pandemie angemessen zu begegnen. Und da dürfen wirtschaftspolitische oder auch Eigenschutz-orientierte Interessen nicht dominieren, weil die Pandemie ein globales Handeln erfordert, solange der Grundsatz gilt, dass niemand sicher ist, wenn nicht alle sicher nicht.
Die Fragen stellte Anne Preckel.
(vatican news – pr)
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