Unser Sonntag: In der Schule von Nazareth
Dr. Franz-Josef Overbeck
2. Weihnachtsfeiertag
Lk 2, 41-52
Im Sommer dieses Jahres haben mich, wie gewiss viele Menschen, zwei besondere Ereignisse sehr bewegt.
Das eine war die Flutkatastrophe von Mitte Juli, die viele Orte in Deutschland getroffen hat. So auch das zum Bistum Essen gehörende Märkische Sauerland.
Als ich wenige Tage nach der Katastrophe dorthin kam, sah ich zerstörte Häuser, unterspülte Straßen, blickte in verzweifelte Menschengesichter, in leere Augen und traf nicht wenige Menschen, die fragten: Wie sollen wir leben? Wo haben wir jetzt unser Zuhause?
Zugleich, neben all den Schrecknissen, die auch die wirtschaftliche und die soziale Form des alltäglichen Lebens betrafen, sah ich aber ganz viele Menschen, die helfen. Die Solidarität war immens. Sie war so groß, dass mir die Bürgermeister einiger der Ortschaften, die ich besuchte, erzählten, sie hätten die Menschen gebeten, nichts mehr herbei zu bringen, da sie es nicht mehr gerecht und gut verteilen könnten. Gleichzeitig war ich bewegt von der unendlichen Hilfsbereitschaft so vieler Menschen, die beim Aufräumen halfen, andere Menschen trösteten und ihnen wenigstens übergangsweise ein Dach über dem Kopf gaben.
Das andere schreckliche Ereignis, ich bin auch katholischer Militärbischof für die deutsche Bundeswehr, war die Evakuierung von Menschen aus einem Afghanistan, in dem die bisherige Ordnung ganz schnell unterging, über den Flughafen von Kabul in Richtung Europa.
So manche Bilder von solchen verzweifelten Menschen, die sich an die Flugzeuge klammerten um mitgenommen zu werden, gehen wir nicht mehr aus den Kopf. Ich erinnerte mich an viele der Besuche als Militärbischof dort, in denen mich die Familien mit ausgesprochener Freundlichkeit empfingen und mir religiöse Autoritäten mit viel Ehrfurcht und Höflichkeit begegneten. Für mich war spürbar, dass das menschliche Miteinander trägt. In diesen schrecklichen Bildern des Sommers wurde deutlich, wie viel zerbricht.
Bei beiden katastrophalen Ereignissen kam mir der Gedanke: Wovon leben wir Menschen eigentlich?
Wir leben von Beziehungen, die gelingen. Wir leben von Begegnungen, die stärken.
Und wir wissen, ohne Weggefährtinnen und Weggefährten, die uns beistehen, kommen wir nicht durchs Leben. Der Ort, der uns das am deutlichsten zeigt, ist in der Regel die Familie. Sie ist jener Ort, in denen die allermeisten Menschen hineingeboren werden, groß werden, lernen, im Leben alles zu bestehen, was sich ihnen zeigt, lernen, Rücksicht zu nehmen und Verantwortung zu übernehmen. Sie ist auch ein Ort des Rückzugs, der liebevollen Nähe und der Stille. Familie kann, und so ist es im Leben ja, auch ziemlich anstrengend sein. Auch das gehört zu Begegnungen. Familie ist der Ort der Herausforderung, der Ort der Bewährung und des Wachsens und Reifens.
Heute, am Sonntag nach dem Weihnachtsfest, feiern wir eigentlich das Fest des heiligen Stephanus, des ersten Märtyrers der Kirche. Der 26. Dezember ist der Stephanustag und erinnert uns daran, dass Jesus, Gott, der menschgeworden ist, selbst in einer Familie im Miteinander von Josef und Maria – so berichtet es das heutige Evangelium – groß geworden ist und Halt gefunden hat.
Aber, so zeigen es uns die Texte dieses Jahres, wenn auf Weihnachten gleich der Sonntag folgt, feiern wir das Fest der Heiligen Familie. Im Evangelium wird berichtet, dass Jesus, Maria und Josef zum Tempel nach Jerusalem wallfahrten. Jesus geht im Gedränge der vielen Menschen irgendwann verloren, woraufhin Maria und Josef ihn suchen und schließlich im Tempel wiederfinden. Maria fragt in vorwurfsvoll, warum er denn dort sei. Er antwortet: Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein musste?
Familie ist auch Ort des Reifens, des Erwachsenwerdens
Diesen Text deutend wird verständlich: Die Familie ist zwar der Ort des Geborgenseins, auch der Ort des Lernens von Religion, von Traditionen, von Gebet und von Nähe zu Gott. Aber Familie ist auch der Ort des Reifens, des Heranwachsens, des Erwachsenwerdens und des Erwachsenseins. Das heißt, seinen eigenen Stand zu finden. Und das können wir an Jesus sehen. In einem doppelten Sinne steht er für uns Christen im Tempel und für den Tempel.
Er ist derjenige, der im Schoß seiner Familie in Nazareth gelernt hat, aus der jüdischen Tradition heraus Gott zu verehren und Gott, der sein Vater ist, zu loben zu preisen und ihn zu verkündigen. So ist er derjenige, der im Tempel aus den Büchern der heiligen Schriften vorliest und diese deuten darf. Letztlich ist er für uns Christen selbst der Tempel, von dem wir lernen, wie wir leben sollen.
Als Botschaft ist er selbst sein in unser Menschenherz geschriebenes Wort, das wir als Gesetz über unser Leben erkennen – die Liebe zu leben, die größer ist als alles, was wir sonst kennen. Im Idealfall kann die Familie ein solcher Ort sein, ganz menschlich. Und darum ist es auch so wichtig, dass Familien beieinander bleiben. Wenn am Flughafen von Kabul Menschen und Familien weggerissen werden von denen, zu denen sie gehören, ist das mehr als nur ein traumatisches Erlebnis. Wenn, wie in unserem märkischen Sauerland in unserem Bistum Essen, Menschen ihre Heimat verlieren, ihnen das Dach über dem Kopf weggerissen und sprichwörtlich der Boden unter den Füßen entzogen wird, ist das ein ganz eigener Verlust.
Er blieb bei ihnen und wurde in Nazareth groß
Wir lernen daran, was für uns Menschen nötig ist. Wenn wir heute dieses Fest feiern, nicht in einem nostalgischen Sinne und mit sehr unterschiedlichen, lebensnahen Erfahrungen von Familie, lade ich ein, es mit der Nüchternheit des heutigen Evangeliums zu tun, das sehr wohl zeigt, wie Maria, Josef und Jesus zusammengehören. So wird am Schluss auch gesagt, dass er bei ihnen bleibt und in Nazareth groß wird. Aber der Text lehrt uns auch, freizulassen hin auf ein Leben mit Gott und vor allen Dingen für Gott. Das wird bei Jesus sehr deutlich.
Niemand soll allein bleiben
Das hat wiederum zu tun mit dem, was die meisten Menschen mit dem zweiten Weihnachtsfeiertag heute verbinden, mit dem Stephanusfest. Es geht darum, Zeugen zu sein und Zeugenschaft zu üben. Zu den wichtigsten Orten von Familie gehört das Begleiten von Menschen in allen Lebensphasen, vom Anfang bis zum Ende. Niemand soll allein bleiben und so wird auch niemand allein auf diese Welt kommen.
Hoffentlich dürfen auch die allermeisten Menschen nicht allein, sondern an der Hand von Menschen aus diesem Leben gehen. Dafür steht das heutige Evangelium. Jesus wird an die Hand genommen in Nazareth. Papst Paul VI. hat bei seinem ersten Israel-Besuch im Januar 1964, ein halbes Jahr nach seiner Wahl zum Papst, auch einen Besuch in Nazareth gemacht und in einer beeindruckenden, schönen Predigt davon gesprochen, wie wichtig es sei, in die Schule von Nazareth zu gehen. Das gehört eben zum Leben der Heiligen Familie.
Jesus: von seinen familiären Wurzeln emanzipiert
Nicht in einem naiven Sinn, sondern als Ort – wie der Papst es damals formuliert hat – des Gebetes, der Nähe und der Arbeit. Aber wir sehen eben auch, dass Jesus im Tempel zu Jerusalem sich gleichsam von seinen familiären Wurzeln emanzipiert, indem er ganz für Gott, seinen Vater, lebt.
Und so gehört auch das zur Familie – erwachsen zu sein, einen Selbststand zu gewinnen und doch nie zu vergessen, woher wir stammen, wohin wir gehen und was uns trägt. Das wünsche ich allen, die in diesen Tagen Weihnachten feiern. In unserer langen Tradition, vor allen Dingen in der Volkskirche der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte, ist es ein Familienfest. So ist es auch fest in unser Herz eingeschrieben. Und darum sind fehlende Begegnungen, fehlende Kontakte, fehlende Selbstverständlichkeiten des Getragenwerdens in diesen Tagen besonders schmerzhaft.
Schule von Nazareth: Gebet, Arbeit, Nähe
Aber es ist auch eine Einladung, finde ich, darüber hinaus zu blicken und zu wissen, dass – wie im Lukasevangelium deutlich wird – die Christen diejenigen sind, die sich bekehren. In der Gemeinschaft der Kirche lernen wir mit Gott, dass wir als Gemeinschaft der Glaubenden eine Familie sind, die stärkt und stützt. So können wir jeden Tag in die Schule von Nazareth gehen, von Gebet, von Arbeit und von Nähe.
Im besten Sinn des Wortes hat sich im Märkischen Sauerland und an vielen anderen Orten Deutschlands, die auch die so schlimm von der Flutkatastrophe des vergangenen Julis getroffen wurden, gezeigt, was diese Nähe, was aber auch Gebet und Arbeit bedeuten kann, nämlich Menschenleben zu retten.
Und auf der anderen Seite haben die schlimmen Szenen auf dem Flughafen von Kabul in Afghanistan mich gelehrt, alles dafür zu tun, damit Familien zusammenbleiben und eine Heimat haben können. Wir sind eine Menschheitsfamilie, die Verantwortung füreinander hat. Und von daher ist die Familie immer auch, im besten Sinne des Wortes, sozial zu denken.
Es gehört zu den Ordnungsfragen unseres Lebens, dass wir so – weit über uns hinaus – wissen, wir gehören mit vielen zusammen. Letztlich sind wir, christlich gedeutet, die Familie Gottes.
Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne einen gesegneten zweiten Feiertag, den ich auch mit dem Wunsch verbinde: Gehen Sie in die Schule von Nazareth!
(radio vatikan - claudia kaminski)
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