Unser Sonntag: Die Einladung, ein anderer Christus zu werden
Pater Norbert Johannes Hofmann
Lk 6,39-45 Lesejahr C
Was würden Sie wohl auf die Frage Jesu im heutigen Evangelium antworten, wenn er fragt: „Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen?“ (Lk 6,39) Wahrscheinlich würden Sie ganz bestimmt mit NEIN antworten. Einer zumindest sollte doch den Weg kennen und mit eigenen Augen sehen können, wohin es konkret geht.
Die Frage Jesu scheint auch keine echte, sondern eine so genannte „rhetorische Frage“ zu sein, bei der die Antwort schon von vorneherein angezielt wird und feststeht. Im Nachsatz sagt er dann ja auch: „Werden nicht beide in eine Grube fallen?“ (Lk 6,39). Wer will denn schon in eine Grube fallen? Um also einen Blinden zu führen, braucht es einen Sehenden. Meint aber Jesus hier wirklich das Augenlicht, oder spricht er im übertragenen Sinn von Blinden, die unfähig sind, bestimmte Sachverhalte entsprechend zu erkennen und sich demgemäß richtig zu verhalten?
Evangelien als Identitätsgeschichten
Die Evangelien können durchaus als Identitätsgeschichten betrachtet werden, das heißt, es geht darum, wer denn genau dieser Jesus von Nazareth ist. Blind ist dann der, der nicht erkennt, dass Jesus der verheißene Christus ist, mit dem selbst das Reich Gottes schon angebrochen ist. Wer also erkennt und bekennt, dass Jesus der von Gott Bevollmächtigte ist, den Menschen das wahre Heil zu bringen, der ist wirklich sehend. Der Nachsatz in unserem heutigen Evangelium legt diese Zusammenhänge nahe, denn es geht um das Verhältnis von Meister und Jünger. Der Meister kennt sich normalerweise in allem aus, der Jünger aber hat alles vom Meister zu lernen.
Der Meister ist der wahrhaft Sehende
So ist der Meister der wahrhaft Sehende, während der Jünger auf dem Weg von der Blindheit zum Sehen ist, je nachdem wie die Lernprozesse verlaufen. Jesus meint aber, dass der Jünger dem Meister gleichkommen kann, wenn er alles gelernt hat. Insofern sind alle dazu berufen, Sehende zu werden, falls sie bereit sind, sich an den Meister Jesus zu halten, auf ihn zu hören und ihn nachzuahmen. Darum geht es ja eigentlich in der christlichen Spiritualität, die „imitatio Christi“ zu praktizieren, sich nicht nur an seinem Wort festzumachen, sondern das Beispiel Jesu als Anleitung zur eigenen Lebenspraxis herzunehmen.
Insofern ist der wahre Christ eingeladen, ein „alter Christus“, ein anderer Christus, zu werden. Ist das nicht zu hoch gegriffen, ist das vielleicht nur den Heiligen möglich? Wir alle, so wird es im ersten Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher zum Ausdruck gebracht, sind berufen, heilig zu werden (vgl. 1Thess 4, 1-12). Die Heiligen sind im Neuen Testament die Mitglieder der christlichen Gemeinde, die, die zu Jesus Christus gehören und sich zu ihm als den Heilsbringer Gottes bekennen. Insofern sollte unsere eigene Heiligkeit durchaus im Horizont unseres christlichen Lebens stehen, wenngleich sie natürlich nicht von der Heiligsprechungskongregation im Vatikan festgestellt und bekräftigt werden muss. Gott allein weiß wirklich, wer heilig ist, wer zu seiner Sphäre der Heiligkeit gehört. Im Alten Testament ist der alleinige Heilige Gott selbst, die Menschen aber können derart an ihm Anteil bekommen, dass ein Strahl seiner Heiligkeit sie heiligen kann.
Jeder kehre zuerst vor der eigenen Haustür
Wie auch immer, der christliche Jünger sollte sehend werden, Jesus als Messias Israels und Sohn Gottes bekennen und dadurch Anteil bekommen an der Heiligkeit Gottes. Um das Sehen geht es auch in den nächsten Versen unseres Evangeliums (vgl. Lk 6,41-42), genauer um den Splitter im Auge des Bruders. Wenn man selbst einen Balken im eigenen Auge hat, sollte man sich hüten, auf den Splitter im Auge des Bruders hinzuweisen. Jeder kehre zuerst vor der eigenen Haustür! Jesus bezieht hier ganz entschieden Stellung gegen jede Art von Heuchelei. Die eigenen Fehler sollte man zuerst erkennen und nicht die der Nächsten. Wenn man mit dem Zeigefinger auf jemanden deutet, so muss man sich dessen bewusst sein, dass mindestens drei weitere Finger auf einen selber zeigen. Ein Kollege hatte mir einmal angesichts des Verblassens des Bußsakraments in unseren Tagen gesagt: „Die Beichtpraxis würde wahrscheinlich dann florieren, wenn die Leute die Sünden der anderen bekennen dürften; hingegen zu den eigenen zu stehen und um Vergebung zu bitten, das fällt vielen schwer“.
Umkehr meint, den Blick auf Gott zu lenken
Als Jesus am Anfang seiner Sendung im Markusevangelium auftritt und die Nähe des Reiches Gottes verkündet, gibt er eine genaue Anleitung, wie dieses ins Visier zu nehmen ist: „Kehrt um und glaubt an des Evangelium“ (Mk 1,15). Angesichts des in Jesus hereingebrochenen, aber noch zur Vollvollendung ausstehenden Reiches Gottes, ruft er also zur Umkehr auf. Diese Umkehr ist persönlich und soll nicht zuerst von den anderen eingefordert werden, wenngleich Jesus hier in der Mehrzahl alle anspricht. Ein authentischer Christ schaut zuerst auf sich selbst, seine eigenen Fehler und Schwächen, und versucht, sich mit der Hilfe Gottes zu bessern, von ihm her die Kraft zur Umkehr zu empfangen. Umkehr meint, den Blick auf Gott zu lenken, ihn in die Mitte des eigenen Lebens zu stellen, sich selbst aber zurückzunehmen und angesichts der Heiligkeit Gottes zu versuchen, ein besseres Leben zu führen.
Er hilft uns schon, wir sind nicht allein auf uns selbst angewiesen. Insofern sollten die wahren Christen die anderen nicht kritisieren, wenn sie vorher nicht mit sich selbst und Gott im Reinen sind. Dass sie natürlich die Sünde und Böses beim Namen nennen dürfen und sollen, ist damit nicht ausgeschlossen. Christen machen sich niemals zu Komplizen der Sünde oder des Bösen, wenngleich ihnen Jesus den Rat gibt: „Seid daher klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben!“ (Mt 10,16). Unnötiges Provozieren, ständiges Lamentieren und Jammern, stets den Finger in die Wunden zu legen, das scheint nicht christlich zu sein. Es geht vielmehr darum, den anderen anzunehmen, wie er ist, zwar seine Fehler und Schwächen zu sehen, ihn aber als Geschöpf Gottes zu betrachten, und zu versuchen, ihn zu lieben, so wie Gott ihn liebt.
Der heilige Papst Johannes XXIII. hatte einmal bezüglich seines Umgangs mit den eigenen Mitarbeitern gesagt: „Alles sehen, vieles übersehen, wenig tadeln“ und der heilige Franz von Sales meinte einmal „Man fängt Fliegen besser mit einem kleinen Tropfen Honig als mit einem ganzen Fass voll Essig“. Auch in der Erziehung von Kindern wirkt eine positive Verstärkung oft mehr als ein ständiges Herumkritisieren und Herumnörgeln. Wir Menschen sind wahrscheinlich so gemacht, dass wir lieber Positives hören und erleben wollen als ständig mit dem Negativen konfrontiert zu werden. Das Bild vom Splitter im Auge des Bruders und des Balkens im eigenen Auge mahnt uns also, zuerst auf uns selbst zu schauen, bereit zur eigenen Umkehr zu sein und die anderen im Guten zu ermutigen, in ihnen das Gute zu sehen.
Konsequenzen
Und darum geht es auch in den weiteren Versen des Evangeliums: wie man in einem Menschen das Gute sehen kann, an was man allgemein einen guten Menschen erkennt. Jesus benutzt zunächst das Bild vom Baum: ein guter kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter keine guten. Auf die Früchte kommt es aber im letzten an! Dieses Bild ermutigt uns, in dem Sinn gute Menschen zu werden, dass wir durch unsere Taten Jesus als Sohn Gottes bekennen und uns allein an ihm festmachen. Das sollte dann Konsequenzen im eigenen Verhalten haben, dass wir nämlich bereit sind, so zu leben wie Jesus gelebt hat. Ein guter Mensch ist sicher schon der, der strikt die „Zehn Gebote“ hält, aber damit ist erst das Mindestmaß der Liebe garantiert.
Du sollst den Herrn deinen Gott lieben
Jesus geht es in seinen ethischen bzw. moralischen Weisungen zu einen gelungenen Leben im Verhältnis zu Gott und dem Nächsten um mehr, nämlich um die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Auf die Frage eines Schriftgelehrten, welches Gebot denn nun das erste wäre, antwortet er: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ (Mk 12,29-31) Das „Doppelgebot der Liebe“ bildet also das Herzzentrum seiner ethischen Weisungen, auf sie allein kommt es an. Diesbezüglich sollte man bedenken, dass diese beiden Gebote schon im Alten Testament entdeckt werden können (vgl. Dtn 6,4-5; Lev 19,18), also der vorgängigen jüdischen Tradition entstammen, allerdings findet man sie dort noch nicht zusammengebunden.
Jesus steht für die Liebe Gottes
Erst Jesus und vielleicht mit ihm Rabbiner, die zu seiner Zeit gelebt haben, kombinieren diese beiden Gebote zu einem einzigen großen Liebesgebot. Auf die Liebe kommt es an, und nach ihr werden wir auch am Ende unserer Tage gerichtet werden. Da spielen dann keine Verdienste mehr eine Rolle, die bei uns Menschen so wichtig sind, wie der Titel, die berufliche Position, das Ansehen, die Machtoptionen, das Vermögen oder der politische Einfluss. Jesus selbst steht für die Liebe Gottes, von dem im ersten Johannesbrief ausgesagt wird, dass er selbst die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,8.16).
Unser Evangelium von heute wird mit einer tiefen Weisheit abgeschlossen, die bei uns gleichsam zum Sprichwort geworden ist: „Wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund“ (Lk 6,45). Unser Herz sollte also überfließen von den Heilstaten Gottes, die seiner Liebe entspringen und uns durch Jesus offenbar gemacht worden sind. Es sollte überfließen von der Liebe Christi, die er uns immer neu – jeden Tag – zu schenken bereit ist, sofern wir uns an ihn und sein Lebensbeispiel halten.
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.