Unser Sonntag: Im Notleidenden das Angesicht Christi
Msgr. Joachim Schroedel
Lk 10,25-37 Lesejahr C
In Ägypten, dem Land, in dem ich seit fast 27 Jahren als Priester tätig bin, gibt es ein altägyptisches Schriftzeichen, das bald jeder Tourist kennt. Es ist das Zeichen „Anch“. Es sieht aus wie ein Kreuz, dessen oberer Teil sich in einem Oval öffnet, fast dem Umrissen eines Kopfes gleich. „Anch“, diese Hieroglyphe, die schon 5000 und mehr Jahre alt ist, bedeutet: Leben!
Touristenführer nennen dieses Zeichen auch „Lebensschlüssel“. Viele Ausländer kaufen sich ein solches Zeichen aus Silber oder Gold, und sie tragen es wie ein Kreuz um den Hals.
Wie ein Kreuz? In der Tat wurde von den ersten Christen Ägyptens, die nach der Tradition durch den Evangelisten Markus getauft und gesammelt worden waren, das „Anch“ – Zeichen zum „Kreuz der frühen ägyptischen Christenheit“. Sie kannten die ägyptische Sprache noch, ja, sie führten sie in der koptischen Sprache weiter.
Das Kreuz ist Leben
Anch heißt Leben, Anch ist das Kreuz, das Kreuz ist Leben! Ja: Es ist der Schlüssel zu einem gelingenden, richtigen Leben.
Der Gesetzeslehrer im heutigen Evangelium stellt Jesus eine Frage, die wohl DIE Grundfrage eines jeden menschlichen Lebens ist: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Die Frage, ob dieses Leben mit dem Tode schlichtweg „vorbei“ ist, oder ob es „ein Leben nach dem Tode“ gibt, wird bei den meisten Religionen, so auch bei der Mehrheit im Judentum, eindeutig beantwortet: Das Leben ist mit dem körperlichen Tode nicht zu Ende, das „ewige Leben“ steht bevor. Aber: Wie gelange ich dort hin? Muss ich nicht jede Anstrengung unternehmen, dass ich dieses Leben auch „verdiene“?
Glauben wir an das ewige Leben - bei Gott?
Und die Fragestellung für den heutigen Menschen stellt sich noch differenzierter: Haben etwa die fernöstlichen Religionen nicht recht? Gutes Karma, gute Wiedergeburt; schlechtes Karma, schlechte Wiedergeburt? Umfragen zeigen, dass selbst Christen eher an eine Wiedergeburt glauben, als an ein ewiges, diese Welt transzendierendes Leben. Dieser Kreislauf des Lebens wird von nicht wenigen Menschen als eine „weitere Chance“ gesehen. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied etwa zum Buddhismus, der das Nirvana, also das Eins-Werden mit dem All-Einen und damit die Auflösung der Individualität erstrebt.
Jesus verweist auf die Heilige Schrift
Wie dem auch sei: Jesus verweist auf die Heilige Schrift. Und damit erweist er sich als gesetzestreuer Jude, der nicht eigene Ideen verbreitet, sondern aus dem Wort Gottes leben will.
In beispielhafter Weise antwortet der Gesetzeslehrer mit zwei Geboten, die er verschränkt zum Doppelgebot: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst Du lieben wie Dich selbst“. (Dtn 6,5, Lev 18/19)
Diese Weisungen, beide zitiert aus der Bibel des Judentums, das wir „Altes Testament“ nennen, verschränkt Gottes- und Nächstenliebe zu einem Kreuz! Die Vertikale, von Oben nach Unten, weist auf die Gottesliebe, die Horizontale von Mensch zu Mensch.
Gottesliebe und Liebe zum Nächsten sind der Schlüssel zum Ewigen Leben. Wir erinnern uns an das pharaonische Zeichen „Anch“; Leben.
Hier könnte die Geschichte einen guten Abschluss erhalten, denn Jesus lobt den Schriftgelehrten und trägt ihm auf: Tue das, dann wirst Du leben!
Wer ist mein Nächster?
Doch angesichts der nun folgenden Erzählung wird das eben Bedachte nur zum Vorspiel. Denn die Frage war nicht eigentlich, was zu tun ist, um das Ewige Leben zu erhalten, sondern zielte einzig darauf ab: Wer ist denn mein Nächster? Dass Gottes- und Nächstenliebe zusammen gehören war dem Schriftgelehrten klar; er antwortete daher sofort und „theologisch eindeutig“. Ihm ging es um die Frage: Welche Menschen habe ich denn als meine „Nächsten“ anzusehen? Meine Familie, meinen Stamm, mein Volk?
„Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho, und fiel unter die Räuber“ – wohl kaum einer, der einigermaßen „religiös sozialisiert“ ist, wird diese Geschichte nicht kennen. Schon im Erstkommunion-Unterricht lernt man diese „Story“, sie wird nachgespielt und zum Lied vertont. Dabei können wir auch jetzt die gerade zu umwerfende Bedeutung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter neu erfahren.
Jesus antwortet mit der Erzählung vom Barmherzigen Samariter dem Gesetzeslehrer. Im heutigen Griechisch wird mit dem Wort „Nomikós“ auch ein Rechtsanwalt bezeichnet. Jemand, der sich wirklich im Regelwerk des Rechtes auskennt. Ihm wird erzählt von zwei Menschen, die den liturgischen Gottesdienst im Tempel vollziehen; eine der wichtigsten und ehrenvollsten Tätigkeiten im Judentum. Priester und Leviten, das wusste auch der „Herr Rechtsanwalt“, müssen, um ihre Tätigkeit auszuüben, „kultisch rein“ sein.
Zeichen jesuanischer Kultkritik
Aber für beide gilt: „Er sah ihn, und ging vorüber“. Dass selbst größte Todesnot die beiden Kultdiener nicht erweicht, so dass sie helfen, scheint mir schon ein starkes Zeichen jesuanischer Kultkritik zu sein.
Der dritte Mensch aber, der vorbei kommt, ist nun nicht ein „normaler Jude“, von dem man nun endlich Hilfe erwarten müsste. Doch Jesus reizt seine Zuhörer in ganz heftiger Weise: Ein Nichtjude hilft einem Juden! Etwas völlig Unvorstellbares; einer, der zu einer Volksgruppe gehört, die sich bereits vor dem babylonischen Exil abgespaltet hatten, die unwürdig waren, in Jerusalem zu beten, ja, die ein eigenes Heiligtum auf dem Berg Garizim hatten – gerade „so Einer“ hilft dem fast Totgeschlagenen. Und im Detail schildert Lukas (aus dem Munde Jesu) was dieses Samariter tat: Er wusch seine Wunden „vorschriftsmäßig“ und für die damalige Zeit medizinisch ganz richtig, mit Öl und Wein, verbindet sie, legt den Verletzten auf den Esel bringt ihn in eine Herberge und sorgt selbst weiter für ihn. Ja, er hält sogar Nachtwache beim Kranken und steht ihm so bei.
Ein Schlag in das Gesicht des Schriftgelehrten...
Schließlich gibt er anderntags dem Wirt zwei Tagesgehälter, bittet ihn, sich weiter um ihn zu sorgen und verspricht, auch weitere Auslagen zu begleichen. Welch ein Schlag in das Gesicht des Schriftgelehrten! Gottesdienst halten, aber dem Menschen nicht helfen – das widerspricht fundamental dem Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe.
Und: Ein Fremder, kein Mann aus dem jüdischen Volk, ist derjenige, der dem Verletzten Hilfe geleistet hat. Man könnte fast sagen: Eine Blamage für den Schriftgelehrten, dem er entgegen hält, dass man nicht nur das Gesetz kennen muss, sondern auch zu befolgen hat. In jeder Lebenslage.
Anonyme Christen
Mir persönlich sagt es noch ein Letztes: Sind nicht manchmal die Menschen mit einer anderen Religion, einer anderen Lebensweise, ... sind sie nicht manchmal diejenigen, die viel besser das befolgen, als wir es tun? Karl Rahner nannte solche Menschen einmal „anonyme Christen“. Man kann darüber diskutieren, ob dies der treffende Ausdruck ist. Aber ich habe meine große Hochachtung vor jedem Menschen, der von ganzem Herzen den Notleidenden hilft. In jeder Gefahr.
Das Lebenszeichen des Kreuzes ist mein ständiges Ausrufungszeichen! Verbinde immer die Vertikale mit der Horizontalen. Sieh im Notleidenden das Angesicht Christi, der selbst zum „barmherzigen Samariter für alle Menschen“ geworden ist, wie Martin Luther einmal gesagt hat. Kein schlechter Gedanke...
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.