Unser Sonntag: Allezeit beten
Prof. Ludger Schwienhorst-Schönberger
Lk 18,1–8 Lesejahr C
Die Gebetsunterweisung, die Jesus seinen Jüngern im heutigen Evangelium erteilt, hat es in sich. In der Kirche und in verschiedenen Gebetsgemeinschaften wird hin und wieder zu einem Gebetsmarathon aufgerufen. Der Päpstliche Rat für die Förderung der Neuevangelisierung hat im vergangenen Jahr für den Monat Mai einen 30-tägigen Rosenkranz-Gebetsmarathon zur Beendigung der Pandemie ausgerufen. Der Papst selbst hat ihn am 1. Mai eröffnet.
Aufgeklärte Zeitgenossen tun sich schwer mit derartigen Aktionen. Auch viele praktizierende Katholiken können sich nicht so recht vorstellen, dass man Gott durch ununterbrochenes Beten bedrängen, ja geradezu belästigen soll, dass er endlich unsere Bitten erhört. Liegt einer solchen Vorstellung nicht ein allzu primitives Gottesbild zugrunde?
Und nun sagt uns das heutige Evangelium, dass wir genau das tun sollen. Im Gleichnis werden uns zwei Personen vorgestellt: ein Richter, der Gott nicht fürchtet und auf keinen Menschen Rücksicht nimmt, und eine Witwe, die hartnäckig um ihr Recht kämpft. Der Richter ist weder fromm noch gerecht. Auf die ständige Bitte der Frau reagiert er gar nicht. Doch irgendwann wird es ihm zu bunt. Nicht weil er gerecht ist und Einsicht zeigt, sondern weil er fürchtet, von der Frau geschlagen und auf diese Weise öffentlich bloßgestellt zu werden. Daraus zieht Jesus den Schluss: Wenn schon der ungerechte Richter der Witwe aufgrund ihres ständigen Drängens Recht verschafft, „sollte Gott da nicht seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, zu ihrem Recht verhelfen?“
Ringen um das recht Verständnis
Doch wann wird er es tun? Hier müssen wir uns den griechischen Text etwas genauer anschauen. Denn er weist Spuren auf, die darauf hindeuten, dass diejenigen, die dieses Gleichnis Jesu gehört und überliefert haben, um sein rechtes Verständnis intensiv gerungen haben. Die älteste Stufe der Überlieferung rechnete offensichtlich damit, dass Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, „unverzüglich ihr Recht verschaffen wird“. Lukas dämpft die Naherwartung und fügt hinzu: „Und er [Gott] wartet ihnen gegenüber ab“ – so wird man wohl den griechischen Text abweichend von der Einheitsübersetzung zu übersetzen haben: „Und Gott wartet gegenüber ihnen ab.“ Das darf jedoch nicht dazu führen, so Lukas, dass die Auserwählten im Gebet nachlassen und den Mut verlieren. Mit dem Gleichnis vom Richter und der Witwe will Jesus den Gläubigen sagen, „dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollen“, so hat der Evangelist Lukas es verstanden.
Glaube und Gebet hängen innerlich miteinander zusammen. Wenn das Gebet verschwindet, verdunstet auch der Glaube. Deshalb schließt Jesus die Deutung des Gleichnisses mit der Frage ab: „Wird der Menschensohn, wenn er kommt, noch Glauben auf der Erde finden?“
Bereits das Markusevangelium weist uns an einigen Stellen darauf hin, dass Jesus sich zum Gebet zurückgezogen hat (Mk 1,35; 6,46; 14,32–36; 15,34). Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass das tatsächlich auch so war. Jesus hat gebetet – zu Gott, seinem Vater. Lukas verstärkt diese Linie. In bedeutenden Momenten seines Lebens betet Jesus: bei seiner Taufe im Jordan (Lk 3,21), nach der Heilung eines Aussätzigen (Lk 5,16), vor der ersten Ankündigung seines Leidens (Lk 9,18), vor seiner Verklärung (Lk 9,28), vor seiner Gefangennahme im Garten Getsemani (22,41–44) und sterbend am Kreuz (23,34.46).
Jesu Leben ist vom Gebet durchdrungen
Jesu Leben ist vom Gebet durchdrungen. Eine erste ausführliche Gebetsunterweisung erteilte Jesus seinen Jüngern, als diese sahen, wie er selbst betete. Dort heißt es: „Jesus betete einmal an einem Ort; als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt hat!“ (Lk 11,1). Daraufhin lehrt Jesus seine Jünger das Vaterunser, das Gebet des Herrn. Im Anschluss an das Vaterunser erteilt Jesus seinen Jüngern eine ausführliche Unterweisung im Gebet. Diese steht in engem Zusammenhang mit unserem heutigen Evangelium. Auch dort geht es um das beharrliche Beten und das Vertrauen im Gebet: „Wenn einer von euch einen Freund hat und um Mitternacht zu ihm geht und sagt: Freund, leih mir drei Brote, denn einer meiner Freunde, der auf Reisen ist, ist zu mir gekommen, und ich habe ihm nichts anzubieten!, wird dann etwa der Mann drinnen antworten: Lass mich in Ruhe, die Tür ist schon verschlossen, und meine Kinder schlafen bei mir, ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben? Ich sage euch:
Die Zudringlichkeit
Wenn er schon nicht aufsteht und ihm seine Bitte erfüllt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seiner Zudringlichkeit aufstehen und ihm geben, was er braucht. Darum sage ich euch: Bittet, und euch wird gegeben; sucht, und ihr werdet finden, klopft an, und euch wird geöffnet. Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet“ (Lk 11,5–10).
Diese und weitere Texte zeigen uns, dass sich die Apostel und die frühen christlichen Gemeinden intensiv mit den Gebetsunterweisungen Jesu beschäftigt haben. Das Gebet, insbesondere das Bittgebet, stellt sowohl für den Glauben als auch für das theologische Nachdenken eine große Herausforderung dar. Wahrscheinlich können wir diesen Prozess nur nachvollziehen, wenn wir ihn im Lichte unserer eigenen Gebetserfahrungen durchdenken.
Es mag immer wieder spektakuläre Gebetserhörungen geben, doch ist das Wort Jesu: „Wer bittet, der empfängt, wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird geöffnet“ in dieser Grundsätzlichkeit nicht doch eine Übertreibung? Eine Antwort auf diese Frage gibt uns der Schlusssatz aus der Gebetsunterweisung Jesu im Anschluss an das Vaterunser. Er lässt sich auch auf das Gleichnis vom ungerechten Richter übertragen. Dort heißt es: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten“ (Lk 11,13). Diese Antwort überrascht.
In rechter Weise bitten - und geduldig
Die im Hintergrund stehende Problematik hat der Apostel Paulus tiefer durchdacht. Gewöhnlich wissen wir gar nicht, so Paulus, worum wir in rechter Weise beten sollen (Röm 8,26). Wir meinen es zu wissen und sind enttäuscht, wenn Gott unsere vermeintlichen Bitten nicht erfüllt. Der heiligen Teresa von Avila war diese Erfahrung nicht unbekannt. Wenn Gott unsere Bitten nicht erfüllt, so schreibt sie in ihren Meditationen über das Hohelied, dann nicht, weil wir zu viel, sondern weil wir zu wenig erbeten haben. Erst der Geist Gottes, so Paulus, tritt für uns ein und erweckt jenen Geist in uns, der weiß, worum wir in rechter Weise beten sollen. Dieses Beten, so verheißt uns die Schrift, geht in Erfüllung. Dabei kann es durchaus sein, dass wir – wie der zudringliche Freund und die hartnäckige Witwe – geduldig sein müssen. Wir müssen dranbleiben und dürfen nicht vorschnell die Flinte ins Korn werfen; wir können sicher sein: Die Erfüllung dieser Bitte wird uns Gott nicht verweigern.
Ein so praktiziertes Gebet führt gewöhnlich dazu, dass sich unsere Wünsche ändern. Wer sich schon einmal mehrere Tage lang über viele Stunden im Gebet des Schweigens in die Gegenwart Gottes versetzt hat, wird nach einiger Zeit eine geheimnisvolle Veränderung an sich wahrnehmen. Nicht mehr ich bete, sondern der Geist betet in mir. Nicht, dass die Dinge dieser Welt belanglos werden und wir nicht mehr darum bitten dürfen, doch sie bekommen einen neuen, einen ihnen angemessenen Stellenwert. Sie rücken ins zweite Glied. Deshalb hat Lukas dem Aufruf zum beharrlichen Bittgebet das Vaterunser vorangestellt mit seiner zentralen Eingangsbitte: Dein Reich komme (Lk 11,2).
Betet ohne Unterlass
Alle anderen Bitten sind im Lichte dieser einen Bitte zu verstehen.
Die Beharrlichkeit im Gebet, zu der Jesus uns mit dem heutigen Gleichnis aufruft, richtet sich auf Gott selbst, auf seine Gabe, den Heiligen Geist. In dieser Haltung des geduldigen Gebetes war die Urgemeinde in Jerusalem versammelt; an ihr erfüllte sich die Verheißung Jesu: „Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird“ (Apg 1,8; vgl. Lk 24,49). In diesen Sinne gilt: „Bittet und es wird euch gegeben, sucht und ihr werdet finden, klopft an und es wird euch geöffnet“ (Lk 11,9). Dieses Anliegen ist Jesus so wichtig, dass er den Jüngern auf ihrem Weg nach Jerusalem durch ein weiteres, drastisches Gleichnis in Erinnerung ruft, „dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten“ (Lk 18,1). Gleiches sagt auch der Apostel Paulus im ersten Brief an die Thessalonicher: „Betet ohne Unterlass!“ (1 Thess 5,17).
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
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