Unser Sonntag: Auf! In eine neue Welt!
Sr. Dr. M. Gabriela Zinkl SMCB, Jerusalem
20. Sonntag im Jahreskreis
Mt 15,21-28
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
„Jesus zog sich zurück“, so beginnt der Text des heutigen Evangeliums. Das kennen wir ja von ihm, möchte man fast sagen, immer wieder berichten uns die Schrifttexte, dass er sich zum Beten zurückzieht, allein, auf einen Berg, fernab von den Menschenmengen, die so viel von ihm erwarten.
Viele dieser Begebenheiten ereigneten sich, als Jesus mit seinen Jüngern am See Genesareth umherzog, predigte und Wunder wirkte.
Man bekommt fast den Eindruck, dass Jesus sich nach intensiven Begegnungen und wenn das Gedränge um ihn herum zu arg wurde, ganz bewusst Orte aufsuchte, an denen er allein sein und zu Gott beten konnte. Das heißt nicht, dass Jesus die Not der Menschen nicht nahe ging. Nur ließ er sich davon nicht auffressen. Er brauchte Abstand und Ruhe zum Gebet, um sich seine Auftrags gewiss zu bleiben und weiter Gottes Reich verkünden zu können.
Jesu Rückzug zum Gebet: Vorbild für uns
Was für ein wunderbares Vorbild auch für unser Leben und unsere eigene Gebetspraxis, finde ich. Die vielen Hinweise in den Evangelien, dass Jesus sich zum Gebet zurückgezogen hat, sind keine Nebensächlichkeit, sondern ein deutlicher Hinweis auch für unsere eigenes Handeln und Glauben. Woraus lebe ich? Worauf vertraue ich? Wer und was gibt mir Kraft und Stärke?
Im heutigen Evangelium geht es nicht um eine kurze Auszeit Jesu zum Beten zwischendrin, sondern um einen längeren Rückzug. Jesus such die Einsamkeit nicht nur für einige Stunden. Er macht sich auf den Weg in ein anderes Gebiet, in eine Region, in der er und seine Gefolgsleute sich normalerweise nicht aufgehalten haben.
Tyrus und Sidon - im heutigen Libanon
Das Matthäusevangelium berichtet uns, dass Jesus in das Gebiet von Tyrus und Sidon ging, eine Region im heutigen Libanon, am Mittelmeer gelegen, nur wenige Tagesetappen entfernt vom See Genesareth, und doch eine völlig andere Gegend. Dort hatte Jesus in jedem Fall seine Ruhe. Denn dort, unter den nichtjüdischen Bewohnern Palästinas, den Kanaanäern, wie man sie damals nannte, oder Palästinensern, wie wir heute sagen, waren Jesus und seine Jünger Fremde. Denn sie waren Juden und die Kanaanäer hielten nichts von Juden, weil sie in früheren Zeiten ihr Land beherrscht hatten. Vor allem hatten die jüdischen Herrscher die einheimischen Kanaanäer wie Menschen zweiter Klasse behandelt, weil sie andere Götter verehrten, die die Juden verächtlich als „Götzen“ abtaten.
Ruhe hätte Jesus gewiss sein sollen...
Dort sollte Jesus also ganz bestimmt seine Ruhe haben und es ist denkbar, dass die meisten einen großen Bogen um ihn und seine jüdische Jüngerschar machten.
Doch schneller als gedacht war es vorbei mit der Ruhe für Jesus. Eine einheimische Frau, eine Kanaaniterin näherte sich der kleinen Gruppe um Jesus, ging offensichtlich zielstrebig auf ihn zu und flehte ihn an: „Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids!“ (Mt 15,22). Ist sie denn verrückt? Wie kann sie einen Juden als „Herrn“ anreden und dann auch noch als Sohn Davids!
Auf ihn warteten die Juden ja wie auf einen Erlöser. Für Kanaanäer aber war es ein Affront, den Namen des jüdischen Königs David in den Mund zu nehmen, stand er doch für die Zeit, in der die Juden ganz Palästina besetzt hatten.
All das war der kanaanäischen Frau in diesem Moment egal. Wenn dieser Mann, wie sie gehört hatte, den Juden helfen und Menschen gesund machen konnte, warum nicht auch ihr? –
Die Energie einer Löwenmutter
Wir alle wissen, welche Energien Mütter auch in ausweglosen Situationen aufbringen können, um ihre Kinder verteidigen, egal ob Löwenmutter oder kanaanäische Frau. „Hab Erbarmen mit mir, denn meine Tochter wird von einem Dämon gequält“ (Mt 15,22). Können wir uns vorstellen, wie es einer Mutter, wie es Eltern geht, die erleben, dass das eigene Kind aufgrund einer Krankheit mit den Jahren immer weiter zurückgeworfen wird? Wenn die eigene Tochter, der eigene Sohn hilflos bleibt, und es keinerlei Aussicht gibt, dass das Kind einmal für sich selbst sorgen und überleben kann ohne die Fürsorge der Eltern? Können wir uns das ansatzweise vorstellen? Das ist auf alle Fälle zum In-den-Himmel-Schreien, das lässt verzweifeln. Wer das erlebt, der pfeift auf Schicklichkeit und Konventionen, der oder die ist bereit, jedes Risiko einzugehen, wenn sich auch nur ein Schimmer von Hoffnung zeigt.
Jesus reagiert nicht...
Jesus aber, konfrontiert mit dieser Bitte der absolut verzweifelten Frau, reagiert überhaupt nicht. Den Aussagen des Evangeliums nach kommt es uns fast so vor, als ob er sie abwimmeln würde. Denn als die Jünger ihn aufmerksam machen, sie wegzuschicken, weil sie hinter ihnen her schreie und das Ganze langsam unangenehm wird, antwortet Jesus ganz allgemein, er sei nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Keine Chance also für diese Frau und ihre kranke Tochter. Hat sie tatsächlich keine Chance? – So einfach lässt sich die Frau nicht abwimmeln. Sie wirft sich Jesus zu Füßen mit den Worten „Herr, hilf mir!“ (Mt 15,25).
Die Notlage hat Priorität...
In dieser kurzen Bitte, „Herr, hilf mir!“, steckt doch so viel an Grenzüberschreitung, Offenheit und Bereitschaft. Die kanaanäische Frau setzt mit diesen Worten, gerichtet an den Juden Jesus, durch seine Herkunft ein Feind ihres Volkes, alle Einwände und Vorurteile beider Seiten außer Kraft. Jetzt hat die Notlage absolute Priorität, die sie zu Jesus getrieben und die sie vor ihm auf die Knie zwingt. Deshalb, um ihres Kindes willen, und weil sie in Jesus die letzte Hoffnung sieht, deshalb lässt sie nicht von ihm ab und gibt ihr Äußerstes.
...doch Jesus weist die Frau deutlich ab
Wer kann dem noch widerstehen? Wer kann so einer Bitte der Frau für ihre Tochter widerstehen? Jesus tut das, ob man es glaubt oder nicht. Ausgerechnet er, dem Not und Leid anderer sonst an die Nieren gehen. Ausgerechnet er, der sonst immer ein offenes Ohr und Herz gerade für die an den Rand Gedrängten, besonders auch für Frauen hat. Nach dem Bericht des Evangeliums bleibt Jesus hier aber völlig ungerührt und weist die Frau deutlich ab. Ist das tatsächlich unser Jesus, der, dessen Botschaft der Gottes- und Nächstenliebe die ganze Welt verändern sollte?
Noch einmal nimmt die Frau all ihren Mut zusammen und appelliert mit schlagkräftigen Worten an Jesu Barmherzigkeit. Übrigens sind von ihr hier mehr Aussagen überliefert, als von so manchem Jünger Jesu; das zeigt uns noch einmal, wie intensiv die Begegnung Jesu mit dieser Frau auch für den Jüngerkreis gewesen sein muss. Was will Jesus dieser Frau noch entgegensetzen? Dieser Frau, die für ihre Tochter alles aufs Spiel setzt, und ihm den Messias, als den Retter der Welt erkennt, noch bevor viele andere dies tun? „Frau, dein Glaube ist groß“, antwortet Jesus ihr, „es soll dir geschehen, wie du willst“ (Mt 15,28). Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt.
Die Begegnung Jesu mit der kanaanäischen Frau ist nicht nur eine Heilungsgeschichte, wie so viele. Sie beinhaltet viel mehr. Gehen wir noch einmal zurück an den Anfang dieser Perikope, wonach Jesus sich zurückziehen wollte in ein Gebiet, in dem er nicht gerade erwünscht war. Das starke Bekenntnis der kanaanäischen Frau zu ihm als Herrn, Sohn Davids, Messias soll uns ermutigen, von Christus nicht nur in unseren eigenen Reihen Zeugnis zu geben. Warum betont das Evangelium hier die Problematik der Kanaanäer und Juden so stark?
Anstoß zur weltweiten Mission
Am Ende des Matthäusevangeliums wird darauf Bezug genommen, wenn Jesus seine Jünger beauftragt, das Evangelium zu verkünden: „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19). Der Anstoß zur weltweiten Mission, zur Globalisierung des Evangeliums kam also von einer Frau. Eine in Not geratene Frau und Mutter einer kranken Tochter ist ein erstes Beispiel und vielleicht der Auslöser für den Missionsauftrag Jesu, für das Ernstnehmen aller Menschen jenseits von Hautfarbe, Nation, Geschlecht. Das muss uns, unserer Kirche gerade heute zu denken geben.
Vielleicht tut uns auf dem Weg zu dieser Erkenntnis für den Anfang erst einmal ein einfacher Orts- und Perspektivenwechsel gut: sich gestärkt von der Botschaft Jesu, ohne Vorurteile aufzumachen in eine neue Welt.
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
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