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Walter Baier vor dem Petersdom in Rom Walter Baier vor dem Petersdom in Rom 

„Feindschaft von Christen und Marxisten ist ein Missverständnis“

Der Vorsitzende der „Europäischen Linken“, Walter Baier, wirbt für den Dialog und für gemeinsames Engagement von Christen, Marxisten und Sozialisten. Das sagte der österreichische Politiker an diesem Mittwoch im Interview mit Radio Vatikan.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

„Der Papst verwendet den Begriff ‚integrale Ökologie‘, und dieser Begriff ist so treffend, dass er eigentlich in jeder sozialistischen Programmatik Eingang finden sollte“, so der frühere KPÖ-Vorsitzende. Es gehe um „die Verknüpfung der Idee der sozialen Gerechtigkeit mit der Idee der ökologischen Transformation unserer Gesellschaften“.

„Für einen Dialog jenseits historischer Schemata“

Interview

„Ich beginne mit der Audienz heute, denn die war außerordentlich: eine Aussprache, die 45 Minuten gedauert hat. Der Papst hat eine an uns gerichtete Adresse gehalten, in der die Notwendigkeit der Solidarität und insbesondere der Solidarität mit den sozial Benachteiligten unterstrichen wurde. Er hat zu einem Dialog jenseits historischer Schemata aufgefordert – einem Dialog, der sich vor allem um die Ausgegrenzten und Benachteiligten kümmert und der die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit beachtet.

Daraus hat sich ein Gespräch entwickelt, in dessen Vordergrund das Engagement für den Frieden im Nahen Osten und in der Ukraine stand, die Solidarität mit den Migranten und Migrantinnen. Der Papst war sehr spontan – ich glaube, auch gut aufgelegt. Wir alle haben den Raum wirklich sehr beeindruckt und auch sehr bewegt verlassen.

Der Dialog, den wir unter dem Titel ‚Dialop‘ vorstellen, entwickelt sich nun seit zwanzig Jahren. Er begann in einer sehr kleinen Gesprächsgruppe in Wien und hat sich dann Zug um Zug internationalisiert. Wichtige Etappen waren das Friedensgebet in Assisi, zu dem Papst Benedikt (2011) eingeladen hat, sowie die Privataudienz, zu der Alexis Tsipras und ich 2014 eingeladen waren. Und auf diesem Weg gab es Symposien, eine Sommerschule für junge Leute auf einer griechischen Insel, in der Katholiken, Katholikinnen und orthodoxe Christen und Christinnen miteinander koexistieren (also ein sehr inspirierter Ort). Und im Speziellen haben wir dem Papst heute ein gemeinsames Positionspapier, das von fünfzig Intellektuellen jeweils beider Seiten unterzeichnet wurde, vorgelegt, in dem wir unsere gemeinsamen Ideen und die intellektuelle und spirituelle Basis des Dialogs darlegen.“

Die Audienz an diesem Mittwoch
Die Audienz an diesem Mittwoch

„Eigentlich eine organische Sache“

Nun sind ja Christen und Marxisten nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht die geborenen Gesprächspartner. Wo sind die Ansatzpunkte?

„Ich glaube, dass die Fremdheit oder sogar Feindschaft von Christinnen und Marxistinnen eines der großen Missverständnisse des 20. Jahrhunderts ist. Betrachte ich heute die Lehren des Papstes – Engagement für die sozial Ausgegrenzten, für die Armen, für die Mutter Erde, für den Frieden –, muss ich sagen, dass nicht nur ein Dialog, sondern auch eine Zusammenarbeit zwischen Sozialisten und Sozialistinnen, Kommunisten, Kommunistinnen, Marxisten, Menschen, die sich marxistischer Theorien beim Verständnis der Welt bedienen, eigentlich eine organische Sache ist.

Auf Seiten der Marxisten und Marxistinnen geht diesem Dialog eine sehr ernste Selbstbefragung voraus. Die Überwindung autoritärer, auch terroristischer Herrschaftsweisen, die im Namen des Marxismus durchgeführt wurden, das alles erfordert Selbstkritik und hat zu einer neuen Offenheit geführt. Und ich finde, dass die Begegnung mit dem Papst durch den Präsidenten der Europäischen Linken auch eine neue Etappe in diesem Prozess der Aussprache und der Orientierung auf gemeinsame gemeinsames Engagement für eine gerechtere und ökologischere Welt darstellt.“

Baier (Mitte) mit Papst Franziskus
Baier (Mitte) mit Papst Franziskus

„Das soziale Unrecht in der Welt ist genauso schreiend wie die katastrophale Zerstörung der Umwelt“

Was sind die wichtigsten Felder für ein gemeinsames Engagement? Die Friedenspolitik, die Klimapolitik?

„Der Papst verwendet den Begriff ‚integrale Ökologie‘, und dieser Begriff ist so treffend, dass er eigentlich in jeder sozialistischen Programmatik Eingang finden sollte: nämlich die Verknüpfung der Idee der sozialen Gerechtigkeit mit der Idee der ökologischen Transformation unserer Gesellschaften. Es wird das eine nicht ohne das andere gehen. Und das soziale Unrecht in der Welt ist genauso schreiend wie die katastrophale Zerstörung der Umwelt.

Und ich würde sagen, in diesem Begriff der integralen Ökologie hat der Frieden einen besonderen Platz. Denn wenn sich der jetzige Prozess, den der Papst auch zu Recht als einen ‚Weltkrieg in Etappen‘ bezeichnet, fortsetzt und radikalisiert, erübrigen sich alle anderen Agenden, die wir haben können.“

„Er hat einen Platz in meinem Herzen“

Wie geht es Ihnen eigentlich als ‚Lieblingsmarxisten‘ des Vatikans? Sie waren ja schon in Assisi bei Benedikts XVI.‘ Wallfahrt für den Frieden dabei. Passiert es Ihnen, dass Leute von der europäischen Linken kommen und sagen: Erklär mir doch mal, was der Vatikan mit dem und dem meint?

„Ja, das sind sozusagen die günstigsten Fälle… Mir hat vor wenigen Tagen ein linker Journalist geschrieben, dass er über diese Audienz berichten wird, aber er muss sich mit diesen Fragen mehr beschäftigen, denn Erklärungen seien notwendig – und so soll es sein!

Also, die persönliche Beziehung zu Papst Franziskus ist von mir aus schon eine sehr spezielle. Es ist nicht nur so, dass ich seine Lehren bewundere, mir imponiert auch er als Person und Persönlichkeit, und er hat einen Platz in meinem Herzen. Er hat sich heute von uns verabschiedet mit den Worten, wir sollen für ihn beten – das ist mir nicht möglich. Ich übersetze das dann in meine Sprache als: daran denken und ihm Gutes wünschen. Und so ist es… Das ist mir nahe, und das ist mir wichtig.“

„Ich kann ihm die Dispens erteilen...“

Der Papst muss sich immer wieder gegen den Vorwurf wehren, er sei ein Marxist; dann sagt er immer: Nein, das ist in der DNA des Christentums, und die Armen stehen im Zentrum des Evangeliums. Ist das so? Oder ist er doch ein heimlicher Marxist? Das frage ich jetzt mal einen Marxisten.

„Nein, ich kann ihm die Dispens erteilen! Also, eigentlich heißt das Zitat ja, er sei Kommunist.“

Ja, das stimmt.

Radio Vatikan: Interview mit dem Vorsitzenden der "Europäischen Linken", Walter Baier

„Und er ist sicher kein Kommunist! Inwieweit in die Enzykliken Laudato si‘ und Fratelli tutti Resultate marxistischer Gesellschaftsanalyse eingegangen sind, ist schwer zu beurteilen, denn vielfach handelt es sich ja um wissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, und Marxismus ist ja auch so etwas, das an den Universitäten gelehrt wird und in den wissenschaftlichen common sense eingegangen ist. Ich sehe in ihm jemanden, mit dem ich übereinstimmen kann, dass das technokratische Paradigma und die Dominanz unserer Gesellschaften durch die Finanzmärkte unerträgliche Lebensumstände für die Mehrheit der Menschheit geschaffen haben – und wir sollten da auch kein Copyright beanspruchen. Die Welt ist so, wie sie ist – und sie kann und muss gemeinsam zum Besseren verändert werden!“

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Walter Baier ist Sohn eines Auschwitz-Überlebenden; er war von 1994 bis 2006 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ). Seit Ende 2022 steht er an der Spitze der „Europäischen Linken“, an deren Gründung er 2004 beteiligt war. Seit 2000 engagiert er sich im Dialog mit christlichen Kirchen. Auf Einladung von Papst Benedikt XVI. hat Baier 2011 an einem Friedenstreffen in Assisi teilgenommen.

(vatican news)
 

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10. Januar 2024, 13:58