Unser Sonntag: Johannes war nicht neidisch
Prof. Dr. Stephan Kampowski
Joh 1,35-42
Woran erkennt man, ob jemand ein erfolgreicher Lehrer oder Meister ist? Ein äußeres, objektives, zunächst vom vermittelten Inhalt unabhängiges Kriterium ist, ob jemand Schüler oder Jünger hat.
Wie ein Mann Vater wird, indem er Söhne und Töchter zeugt, so wird jemand Meister, indem er Jünger gewinnt. Wie die Kinder die Ehre des Vaters sind, so sind die Jünger die Ehre des Lehrers. Und Lehrer können auf ihre Schüler eifersüchtig sein. So endete die Freundschaft zwischen Edmund Husserl und Max Scheler während ihrer gemeinsamen Göttinger Zeit sehr schnell, als der weitaus charismatischere Scheler begann, auf Husserls Schüler Einfluss zu nehmen und ihm seine Jünger abspenstig zu machen.
Jünger sind Bestätigung
Auch Johannes der Täufer hatte Jünger, die er in der rechten Lebensführung unterwies und mit denen er über den Gang der Geschichte Gottes mit seinem Volk nachdachte. Wie könnte er sich nicht freuen, wenn Menschen in die Schule seiner Jüngerschaft eintreten? Jünger zu haben ist ja die Bestätigung und die Anerkennung seines prophetischen Dienstes.
Und dann kommt Jesus. Aber Jesus ist nicht einfach ein rivalisierender Philosoph. Jesus ist vielmehr, von Anfang an, der Kern der Botschaft des Johannes: der, der größer ist als Johannes, der, von dem Johannes sagt, er, Johannes, sei nicht einmal würdig, ihm die Schuhriemen zu lösen. Jesus ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. Er ist es, dem Johannes den Weg bereitet, und von dem er bezeugt: „Dieser ist der Sohn Gottes“ (Joh 1:34). Johannes ist es gelungen, sich verständlich zu machen. Er hat seine Jünger gut unterrichtet. In dem Augenblick, in dem er von Jesus sagt: „Seht, das Lamm Gottes!“, stehen zwei seiner Jünger ohne Zögern auf und folgen Jesus nach. Johannes war nicht neidisch. Er konnte sich in der Erfüllung seines Auftrags bestätigt sehen, der eben darin bestand, daran mitzuwirken, dass Jesus Israel offenbart wird (Joh 1,31).
Sie wollen sich rufen lassen...
Einer der beiden Jünger ist, wie wir im weiteren Verlauf der Perikope erfahren werden, Andreas. Der andere bleibt ungenannt, sei es, weil er im weiteren Geschehen keine Rolle mehr spielt, sei es, was wahrscheinlicher ist, weil es sich um den Evangelisten Johannes selbst handelt. Noch namenlos, sprechen die beiden Jesus nicht an. Sie folgen ihm im wahrsten Sinne des Wortes und gehen schweigend hinter ihm her. Zu groß ist ihre Ehrfurcht vor dem Meister. Sie maßen sich nicht an, sich selbst in seine Nachfolge rufen zu können. Sie wollen sich von ihm rufen lassen, sie lassen ihn die Initiative ergreifen, und er tut es. Er wendet sich ihnen zu und fragt sie: „Was sucht ihr?“ Er fragt nicht aus Unwissenheit, wie jemand, der neugierig ist und einfach nur etwas wissen will.
Was sucht ihr?
Vielmehr ist seine Frage eine Einladung an die beiden, ihr Herz zu erforschen und darüber nachzudenken, was sie wirklich wollen, wonach sie sich tief in ihrem Inneren sehnen. „Was sucht ihr?“ - diese Frage stellt Jesus den beiden Jüngern und uns allen. Was ist unsere tiefste Sehnsucht? In ihrer Antwort nennen sie ihn „Rabbi“ - „Meister“, was, wie wir gesehen haben, ein Wort ist, das eine Beziehung bezeichnet. Meister ist nur, wer Jünger hat. Von anderen Jüngern Jesu war aber noch nicht die Rede. Es ist ja erst der Anfang seines öffentlichen Wirkens, und diese beiden sind die ersten, die er beruft. Indem sie Jesus mit „Meister“ anreden, drücken sie ihren Wunsch aus, seine Jünger zu werden.
Nach der Anrede folgt die Frage: „Wo wohnst du?“ Das griechische Wort μένω bedeutet „weilen“, „bleiben“. Es ist der Ort, der jemandes Sein ausmacht, der Ort, der Identität stiftet, ein Ort der Beständigkeit, der Ausdauer und Beharrlichkeit. „Pou meno“ bedeutet also: Wo bist du in deiner Fülle? Und auch hier handelt es sich nicht um die Frage eines Außenstehenden, der sich für neutrale Fakten interessiert, weil er vielleicht an der Jerusalemer Theologischen Hochschule bei Rabbi Gamaliel über das neuartige soziologische Phänomen der galiläischen Wüstenprediger promovieren möchte. Nein, die Frage selbst umfasst das ganze Leben. Wir wollen wissen, wo Du wohnst, wo Du in Deiner ganzen Fülle bist, was Dich als das ausmacht, was Du bist, und wir wollen es wissen, weil wir selbst mit Dir und bei Dir wohnen wollen. Das Christentum, schreibt Papst Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika Deus Caritas est, ist nicht zuerst eine Idee. Am Anfang des Christentums steht vielmehr ein Ereignis, nämlich die Begegnung mit einer Person. Der Evangelist Johannes führt uns in diesen Anfang hinein. Die Jünger begegnen Jesus, Jesus begegnet den Jüngern und lädt sie ein: „Kommt und seht!“ „Da kamen sie mit und sahen, wo er wohnte und blieben jenen Tag bei ihm.
Wir haben den Messias gefunden
Schließlich wird uns einer der beiden Jünger namentlich vorgestellt: Andreas, der Bruder des Simon Petrus. „Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und sagte zu ihm: Wir haben den Messias gefunden“. Andreas war ein Suchender, und eben deshalb hat er gefunden. Die Predigt des Täufers hatte in ihm die Erwartung geweckt, dass der Gesalbte, der verheißene Retter Israels, bald erscheinen würde. Er, Andreas, wollte unbedingt dabei sein und wurde Jünger des Täufers. Wie Simon selbst zu Johannes stand, wissen wir nicht. Aber auch wenn die Schrift darüber schweigt, kann man davon ausgehen, dass der Inhalt seiner Predigt oft Gesprächsthema unter den Brüdern war. Und der Inhalt der Predigt war eben der Messias. Es war sicher keine Rede aus dem luftleeren Raum, sondern die Fortsetzung eines Gesprächs, das schon länger im Gange war: „Wir haben den Messias gefunden“.
Das Evangelium fährt dann mit den bedeutungsvollen Worten fort: „Und er führte ihn zu Jesus“ (Joh 1,42). Der Apostelfürst, der, zu dem Jesus gleich sagen wird: „Du sollst Kephas heißen, das bedeutet Petrus, der Fels“ (Joh 1,42), er wird von seinem Bruder zu Jesus geführt. Ohne Andreas gäbe es keinen Petrus. Er, Andreas, sein Bruder, hat Simon im Glauben gezeugt und ist so gewissermaßen sein geistlicher Vater geworden. Und genau so hat es Jesus gewollt. Er hat nicht Engel beauftragt, uns das Evangelium zu verkünden, sondern die Jünger, schwache, fehlbare Menschen. Er hat eine Kirche gegründet, in der Menschen immer wieder zu Werkzeugen der Weitergabe des Glaubens werden und mit geistlicher Vaterschaft geehrt werden.
Andere verhelfen zum Glauben
Petrus, der Fels, wurde von seinem Bruder zum Glauben geführt. Und auch Saulus, der durch eine Theophanie vom Pferd geworfen wurde, empfing den Glauben schließlich von einem mutigen Jünger namens Hananias, von dem wir nicht mehr wissen, als dass er vom Herrn den Auftrag erhielt, sich um Saulus nach dessen Sturz und vorübergehender Blindheit zu kümmern, so dass dieser sich taufen ließ. Auch Petrus, der Fels, und Paulus, der Apostel, brauchten andere, um zum Glauben zu kommen.
Zeugnis geben
„Er führte ihn zu Jesus“. Das ist immer wieder die Aufgabe der Kirche und jedes einzelnen von uns: anderen von unserer Begegnung mit dem Herrn Zeugnis zu geben und sie zu ihm zu führen. Wenn wir wirklich den Messias gefunden haben, können wir nicht schweigen, sondern werden wie Andreas und Hananias unsere Angst und Menschenscheu überwinden und Zeugnis geben von der Hoffnung, die in uns ist. Der Rest ist dann dem Herrn überlassen: „Jesus blickte ihn an“. Es ist sein Blick, der alles verändert: Er macht aus Saulus einen Paulus, aus Simon einen Fels, aus uns Sündern seine Kinder und seine Zeugen.
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
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