Unser Sonntag: Ein Gott mit vollem Terminkalender
Andrzej Dominik Kuciński
Mk 1,29-39
5. Sonntag im Jahreskreis B
Jesus ist beschäftigt. Er hat viel zu tun. Schon am ersten Tag seines Wirkens ist sein Terminkalender voll. Zuerst in der Synagoge predigen, einen Dämon austreiben, wie wir am letzten Sonntag gehört haben, dann eine Schwiegermutter heilen und schließlich – auch alle anderen, die an ihren Gebrechen zu leiden haben.
Keine Zeit zum Aufatmen. Und am nächsten Tag geht es schon weiter, in die anderen Städte und Dörfer, aber zuerst muss er noch sein Morgengebet verrichten, das vorzugsweise vor dem Sonnenaufgang stattfindet, damit die Menschen ihn nicht überfallen. Können wir uns nicht gut vorstellen, dass dieser Jesus gut in unsere Zeit hineinpasst, in die Zeit des „Keine-Zeit-Habens“ oder in etwas abgemilderter Form, die wir Priester manchmal versucht sind zu benutzen: „Ich bin momentan viel unterwegs“? Und doch, beim näheren Zusehen, entzieht sich dieser Jesus unseren gewohnten Schablonen.
Jesus ist kein Aktivist
Denn Aktivist ist er nicht. Ein fleißiger Eiferer für GottesReich, das in seiner Person sich den Menschen als Angebot angenähert hat – schon. Sein Erkennungszeichen ist nicht ein Hamsterrad, das sich zwar dreht, bei dessen Drehen aber sich nichts anderes mitdreht. Vielmehr wären es seine Hände: die eine, die zum Lehren erhoben wird und die zweite, welche die Kranken und andere Hilfsbedürftige wiederaufrichtet. Beides begegnet uns bereits im ersten Kapitel des Markusevangeliums, in dem dazu der Ausdruck kai euthys – „sofort, sogleich“ – sogar achtmal vorkommt. Ein Beweis für die Dringlichkeit und die schnelle Entfaltung seiner Mission.
Was treibt Jesus an?
Warum ist aber Jesus so in Eile? Was treibt ihn denn? Dies wurde uns ein paar Verse vorher durch Markus erklärt: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ Also ist Jesus kein Promi oder Influencer, der von der Anzahl seiner Follower lebt und sich von ihnen feiern lässt. Jesus flieht vor seinen Followern, wenn es sein muss. Jesus hat einen vollen Terminkalender, geht aber in seinen Aktivitäten nicht auf. Und das merken wir am nächsten Tag, an dem er sich zum Gebet zurückzieht. Er flieht vor den Menschen, um mit dem Vater allein zu sein. Gottes Sohn muss frei bleiben. Aber dieser Rückzug erfolgt wegen seines Dienstes an den Menschen.
Er flieht in die Gegenwart des Vaters, um aus dieser Gegenwart heraus wieder in die Gegenwart seiner Mission entsandt zu werden. Die Mission darf kein Leerlauf sein. Vielmehr muss sie ständig aus seiner innersten Identität, der einzigartigen Einheit mit dem Vater, gespeist werden. Er muss predigen, wie es am Ende des heutigen Evangeliums heißt, denn „dazu ist er gekommen“. Nun ist die Verbform, die hier benutzt wird, exelthon, eigentlich nicht „kommen“, sondern „herausgehen“. Man kann hier an seinen Ausgang aus Kafarnaum denken, aber es geht auch tiefer: Sein Herausgang vom Vater ist gemeint, wenn wir einige Parallelen im Johannesevangelium heranziehen. Markus zeigt von Anfang an, wie sich die Lawine dieses Heils unaufhaltsam ausbreitet: Menschen von immer neuen Dörfern werden seine Zeugen.
Was heißt es Christus-Jünger zu sein?
Was ist aus dieser Lawine noch in unserer Zeit geblieben? Hat Christus noch die Chance, in uns, seinen vermeintlichen Nachfolgern, die nächsten Ortschaften zu erreichen? Wenn man an die schwindenden Zahlen der Gottesdienstbesucher, die hochschnellenden Kirchenaustritte, die aufgegebenen Gotteshäuser, die immer weniger werdenden Priester, die Veralterung der Kirchenmitglieder und alle anderen, mehr oder weniger bekannten Krisenphänomene, von denen ständig und so ausführlich von allen Seiten berichtet wird, denkt, dann könnte man daran zweifeln. Es mutet nahezu grotesk an, ihn nach „außen“ bringen zu wollen, da wir manchmal selbst unter uns darüber zerstritten sind, was es eigentlich heißt, Christus-Jünger zu sein. Was oder wen soll ich denn bezeugen? Was darf ich noch hoffen? – können wir erneut mit Kant fragen. „Und was soll ich tun?“ – auch diese kantische Frage wird dann grundsätzlich virulent, wenn es heißt, unser Gewissen ist nicht mehr eine Antenne für Gott, sondern die letzte gesetzgeberische Instanz meines Lebens.
Dahinter gibt es keine Appellationsmöglichkeit mehr. Conscientia locuta, causa finita. Sorry, lieber Gott, aber mein Gewissen sagt mir, du musst noch etwas warten. Ich entscheide selbst, wann du denn ins Spiel kommst, wenn überhaupt. Damit zeigen wir jedoch, dass wir vom Herausgang Jesu – räumlich aus Kafarnaum und im weiteren Sinne vom Vater – nicht viel verstanden haben. Papst Franziskus spricht in seinem ganzen Pontifikat vom Gott, der herausgeht, der zu den Menschen hingeht. Wenn wir uns aber so zwanghaft an unsere individualisierten Selbstbestimmungsschablonen festklammern, dann können wir das Befreiende, das Weite, das Neue der Perspektive Gottes nicht erfahren. Unser vermeintliches „Gewissen“ bzw. das, was wir für „Gewissen“ halten, hält uns dann in unserer solipsistischen Kapsel gefangen. Wir stecken im nach unserem Maß geschnitzten „Kafarnaum“ der beziehungslosen Autonomie fest. Denn wir haben letztlich die Angst, von jemandem instrumentalisiert zu werden. Wir wurden vielfach durch bestimmte kulturelle Strömungen so erzogen: Damit du dich realisierst, musst du dich nur von deinem Willen leiten lassen. Sonst wirst du zu einem Instrument des Anderen. Und wir wurden sogar überzeugt: die ersten, die dich instrumentalisieren wollen, sind die, die dir von einem guten Gott erzählen.
Dabei instrumentalisiert Gottes Sohn niemanden, lässt sich aber auch nicht in unsere Vorstellungswelten von Gott hineinzwängen. Das zeigt sich nochmal deutlich im heutigen Evangelium. Denn selbst das Wort, mit dem die Suche Jesu durch seine Jünger bezeichnet wird, also: „nacheilen“, hat sonst in der Bibel eher feindliche Konnotationen. In der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes benutzen die Psalmisten es oft, um ihre Verfolgung durch ungerechte Feinde zu beklagen. Es wäre also eine scharfe Aussage: Jesus aus Eigennützigkeit zu verfolgen, würde einer Feindschaft gleichkommen. Das darf er nicht zulassen. Denn die eine Form, Christus abzulehnen, ist, ihn als den Räuber unserer Freiheit zu behandeln und deshalb zu meiden, die andere, ihn für unsere Zwecke zu benutzen.
Schweigegebot an die Dämonen
Ein Zeichen dafür, dass sich Jesus nicht benutzen lässt, ist auch sein Schweigegebot an die Dämonen. Sie dürfen seine wahre Identität nicht verkünden, da dies seine Sendung beeinträchtigt. Er möchte nicht als bloßer Wundertäter bzw. politischer Messias missverstanden werden – Funktionen, die ihm rasch einen hohen Zulauf garantieren, aber ihn verharmlosen würden. Diese Gefahr besteht nach wie vor, zu allen Zeiten. Auch heute muss Jesus mit verschiedenen Vorstellungen über ihn ringen. Es gibt Menschen, die in ihn etwas hineininterpretieren, was konkreten Interessen entspricht, die versuchen, ihn zu vereinnahmen, seine unbequeme Botschaft zurechtzubiegen, damit sie uns besser passt. Manche versuchen Jesus zu „aktualisieren“, aber so, dass er am Ende zur Projektion unserer Wünsche, zu einem Ja-Sager unserer Eigenwilligkeit, zu einem Pagen unserer Weltverbesserungsprojekte mutiert. Jedes gute Anliegen kann pervertiert werden, wenn menschliche Lösungen Jesus aufgezwungen werden, ohne auf seine Lösungen zu warten. Wir dürfen ihn nicht mit unseren Sehnsüchten gleichsetzen. Denn es ist letztlich die Wahrheit des Christentums: Gott kommt von außen auf uns zu. Extra nos. Er ist der Weg. Und er bietet ein besseres Paradies, als das, das wir uns ausdenken können.
Jesu Markenzeichen: Lehren und Heilen.
Deswegen die zwei Markenzeichen von Jesus: Lehren und Heilen. Wort und Tat. Beides schwer anzunehmen in einer Welt voller Individualisten, in der jeder sein eigener Lehrer und Heiler zu sein scheint. Auch hier kommt die Freiheit ins Spiel. Lehrer mit Autorität werden eher bekämpft, vor allem durch solche, die zwar Argumente der Freiheit benutzen, sie aber von der Wahrheit trennen. Das kann am Ende zu einer Tyrannis werden, weil mich keiner mehr vor der Freiheit des Stärkeren schützen kann. Es gibt dann keinen, der mich vor mir selbst schützen will. Es gibt immer Stärkere, die sich auf Kosten der Schwächeren bereichern wollen. Leider beherrschen sie manchmal die Tarnkunst gut: eine Freiheit zu predigen, die versklavt.
Was wäre also die Aufgabe von Jesus, der der wahre Messias, Christus ist? Das Reich Gottes zu verkünden und gleichzeitig zu vollziehen. Den Menschen in die Weite seiner, mit Gottes Heilsplan kompatiblen Freiheit zu führen. Es ist aber auch die Aufgabe der Kirche, sich durch die Propaganda dieser Welt nicht instrumentalisieren zu lassen, sondern Gott den anderen zu bringen und dabei mit der eigenen Zeit nicht zu sparen. Und dabei die Dringlichkeit dieser Aufgabe zu erkennen, denn zu viele Menschen kennen Gottes Liebe noch nicht.
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
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