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Religion im Parlament: Präsenz als Symbol ohne Einfluss? Religion im Parlament: Präsenz als Symbol ohne Einfluss?  

Religion im Schweizer Parlament: Symbolik ohne Einfluss?

In der Schweiz bleibt der Ständerat – die zweite Parlamentskammer - eine Bastion des Katholizismus, trotz der zunehmenden Säkularisierung im Land. Die Religionszugehörigkeit hat heute zwar bei vielen politischen Entscheidungen kaum noch Einfluss, aber bei bestimmten ethisch-moralischen Fragen zeigt sich die konfessionelle Prägung weiterhin, erklärt im Gespräch mit uns der Politologe Adrian Vatter.

Romano Pelosi - Vatikanstadt

In der eidgenössischen Politikwissenschaft kommt man an Adrian Vatter kaum vorbei: Er doziert Schweizer Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und hat viel über das politische System der Schweiz und seine relevantesten Akteure veröffentlicht. Sein Standardwerk Das politische System der Schweiz erscheint im Herbst in fünfter Auflage. Dazu hat er gemeinsam mit seinem Forschungsteam neue Daten zur Religionszugehörigkeit der eidgenössischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier erhoben.

Parallel titelten diverse Schweizer Medien Anfang 2024, dass in der Schweiz der „religiöse Kipppunkt“ oder gar ein „historischer Wendepunkt“ erreicht sei: Erstmals zeigen die vom Bundesamt für Statistik veröffentlichenden Zahlen, dass die Konfessionslosen die grösste Bevölkerungsgruppe in der Schweiz stellen. Allerdings zeigen die von Vatter erhobenen Daten einen eher überraschenden Trend: Rund drei Viertel der Parlamentarier gehören immer noch einer Konfession an, es zeichnet sich „ein Elite-Basis Religionsgraben“ ab.  

Obwohl sich die Schweiz zunehmend säkularisiert, zeigt sich der Ständerat – die zweite Parlamentskammer – als eine Bastion des Katholizismus. Eine Mehrheit der Parlamentarier gehört noch immer dem katholischen Glauben an, was die historische Idee der politischen Repräsentation der katholischen Minderheit aufrechterhält.

Im Interview mit Radio Vatikan ordnet Professor Vatter die symbolische Bedeutung dieser religiösen Präsenz ein und analysiert, inwieweit sie noch Einfluss auf politische Entscheidungen hat. Er erklärt, dass die religiöse Zugehörigkeit heute bei vielen politischen Geschäften kaum noch eine Rolle spielt. Stattdessen tritt die Individualisierung und Säkularisierung der Gesellschaft immer mehr in den Vordergrund, sowohl in der Bevölkerung als auch im Parlament. Dennoch gibt es bestimmte Themen, bei denen konfessionelle Überzeugungen weiterhin einen Einfluss haben können, wie etwa bei ethisch-moralischen Fragen oder der Konzernverantwortungsinitiative. Im Interview mit uns geht der Professor auch auf die zunehmende Bedeutung von Lobbyarbeit und die Herausforderungen ein, die sich durch die wachsende religiöse Vielfalt in der Schweiz ergeben.

Das Interview mit Professor Adrian Vatter als Podcast hier zum Nachhören

Vatican News: Herr Professor Vatter, was hat Sie an den von Ihnen erhobenen Zahlen überrascht?

Professor Adrian Vatter: Für mich war die größte Überraschung, dass der Ständerat als die zweite Parlamentskammer der Schweiz immer noch eine Bastion des Katholizismus ist. Das heisst, wir haben noch heute dort eine Mehrheit von Parlamentariern, die dem katholischen Glauben angehören, und damit wird eigentlich auch ein bisschen die Idee der Gründerväter des Bundesstaates bis heute aufrechterhalten: nämlich dass die katholische Minderheit eine eigene - wenn wir so wollen - auch parlamentarische Stimme hat.

Seit 2009 leitet Adrian Vater das Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Sein Schwerpunkt liegt in der Forschung zur direkten Demokratie, zum Schweizer Föderalismus und in der empirischen Demokratieforschung
Seit 2009 leitet Adrian Vater das Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Sein Schwerpunkt liegt in der Forschung zur direkten Demokratie, zum Schweizer Föderalismus und in der empirischen Demokratieforschung

Vatican News: Gibt es vergleichbare Entwicklungen bezüglich der religiösen Parlaments-Zusammensetzung in den anderen deutschsprachigen Ländern wie Deutschland und Österreich?

Professor Adrian Vatter: Mir ist eine Erhebung bekannt zu Deutschland; zu Österreich sind mir keine entsprechenden Studien geläufig. Aber diejenige zu Deutschland zeigt, dass die Unterschiede zwischen der Bevölkerung und den Parlamentariern in Bezug auf die Konfessionszugehörigkeit weniger ausgeprägt sind. Also in Deutschland haben wir auch viel mehr Konfessionslose, etwa 50 % der Bevölkerung, im Bundestag sind es 54 %. Da haben wir also keine großen Unterschiede. Das zeigt, dass diesbezüglich die Differenz in Bezug auf die Konfessionszugehörigkeit zwischen der politischen Elite und der Bevölkerung bei uns in der Schweiz doch etwas grösser ist.

„Für mich war die größte Überraschung, dass der Ständerat als die zweite Parlamentskammer der Schweiz immer noch bis heute eine Bastion des Katholizismus ist“

Vatican News: Gibt es denn Hinweise darauf, dass das Wählerverhalten in der Schweiz durch religiöse Zugehörigkeit beeinflusst wird? Lassen sich hier gewisse Trends erkennen?

Professor Adrian Vatter: Generell sehen wir, dass die Religionszugehörigkeit einen immer schwächeren Einfluss auf den Wahlentscheid hat. Das war früher nicht so, da hatten wir eben auch Parteien, die das im Namen trugen: die katholisch Konservativen zum Beispiel, die spätere CVP (Christliche Volkspartei). Heute heisst diese Partei ja: Die Mitte. Ein Trend der neuesten "Select Swiss Election Study"-Daten zeigt, dass bei dieser Partei die Konfessionszugehörigkeit durchaus noch eine Rolle beim Wahlentscheid spielt. Die katholischen Bürgerinnen und Bürger wählen überdurchschnittlich stark immer noch die Mitte, auch wenn diese Partei die Konfession quasi aus dem Namen gestrichen hat.

Vatican News: Die modernen parlamentarischen Systeme funktionieren oder sollten funktionieren nach dem Prinzip der politischen Repräsentation. Wir haben jetzt in der Schweiz die Gruppe der Konfessionslosen als größte Bevölkerungsgruppe. Fordern die aktuellen Zahlen zur Religionszugehörigkeit der Parlamentarier dieses Prinzip politischer Repräsentation in einer unverhältnismäßigen Weise heraus?

Professor Adrian Vatter: Ich denke, wir müssen Folgendes in Betracht ziehen: Es gibt ja verschiedene Formen der Repräsentation, wie beispielsweise die deskriptive Repräsentation, welche das reine Abbild der Merkmale darstellt. Deskriptive Repräsentation bezeichnet die Übereinstimmung zwischen den Merkmalen von Repräsentanten und den repräsentierten Gruppen, wie Geschlecht, Ethnizität oder soziale Klasse. Und da sehen wir in der Tat beträchtliche Unterschiede. Es gibt aber auch die substanzielle Repräsentation. Da geht es darum, dass dann wirklich auch diese spezifischen Interessen von den Parlamentariern bei konkreten Sachgeschäften vertreten wird. Was wir heute wissen ist ja, dass eigentlich die Konfessionszugehörigkeit nicht mehr ein zentrales Repräsentationsmerkmal für viele Leute ist, sondern eines, das in der Auswertung unserer Daten unter „ferner liefen" kam, wenn es darum ging, anzugeben, ob die Konfessionszugehörigkeit für den Befragten eine Rolle in seinen politischen Präferenzen spielt. Wir haben bei unserer Erhebung auch festgestellt, dass viele Parlamentarier zwar sagen: „Ja, ich gehöre der katholischen oder reformierten Kirche an, aber faktisch engagiere ich mich nicht, und ich identifiziere mich auch gar nicht mehr mit der Kirche“. Ich denke, bei sehr vielen Geschäften, politischen Geschäften, spielt das eben keine Rolle, dass wir hier doch eine gewisse Diskrepanz haben.

„Wir haben bei unserer Erhebung auch festgestellt, dass viele Parlamentarier zwar sagen: Ja, ich gehöre der katholischen oder reformierten Kirche an, aber faktisch engagiere ich mich nicht, und ich identifiziere mich auch gar nicht mehr mit der Kirche.“

Vatican News: Bei welchen politischen Geschäften könnte es denn Ihrer Meinung nach noch eine Rolle spielen?

Professor Adrian Vatter: Es gibt schon einen Typus von Geschäften: Das ist das, was wir „ethisch-moralisch politische Geschäfte“ nennen, also beispielsweise die Frage des Schwangerschaftsabbruchs, die Frage der Sterbehilfe, der Weiterentwicklung der Gentechnik. Es geht vielleicht so weit bis zur Frage der Konzernverantwortung. Wir hatten eine entsprechende Initiative in der Schweiz, die Konzernverantwortungsinitiative*. Hier sehen wir, dass ethisch moralische Werte und damit auch konfessionelle Überzeugungen eben doch einen Einfluss haben.
(*Die Konzernverantwortungsinitiative wurde in der Schweiz am 29. November 2020 zur Abstimmung gebracht, wobei sie eine knappe Mehrheit der Volksstimmen erhielt, aber das erforderliche Ständemehr verfehlte und somit nicht angenommen wurde. Die Befürworter der Konzernverantwortungsinitiative forderten, dass Schweizer Unternehmen weltweit die Menschenrechte respektieren und Umweltstandards einhalten, Anm. d.Red.)

Alle sieben Regierungsmitglieder der Schweiz gehören einer Konfession an. Einzig Justizminister Beat Jans von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und aus Basel stammend - hier im Bild - gehört keiner Konfession an.
Alle sieben Regierungsmitglieder der Schweiz gehören einer Konfession an. Einzig Justizminister Beat Jans von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und aus Basel stammend - hier im Bild - gehört keiner Konfession an.

Vatican News: Welche langfristigen politischen Folgen erwarten Sie durch die steigende Anzahl der Kirchenaustritte in der Schweiz und den wachsenden Anteil an Konfessionslosen?

Professor Adrian Vatter:  Das ist Ausdruck dieser zunehmenden Individualisierung und Säkularisierung der Gesellschaft. Und die schreitet weiter voran. Wenn wir das im Parlament beobachten, dann sehen wir, dass das Parlament zwar immer noch stärker vertreten ist durch Personen, die einer Konfession angehören. Aber auch dort haben wir diese Entwicklung. Ich sehe also sowohl in der Gesellschaft wie in der Politik eine zunehmende Individualisierung - und bis zu einem gewissen Grad auch eine Abnahme von Gemeinschaftswerten und ethischen Überzeugungen. Und das hat natürlich nicht nur positive Auswirkungen auf politische Entscheidungen.

Vatican News: Wie wichtig ist es, dass das Parlament - als Spiegelbild einer säkularen Gesellschaft, in der wir mittlerweile ja leben - auch eine gewisse religiöse Neutralität wahrt? Und wie könnte sich das praktisch umsetzen lassen?

Professor Adrian Vatter: Die Frage der Trennung von Kirche und Staat, die Frage der religiösen Neutralität, ist ja in unserem System sehr stark auf der föderalen Ebene organisiert. Das heißt, dass hier gerade den Kantonen eine sehr wichtige Rolle zukommt. Und im Weiteren müssen wir auch sehen, dass es ja vor allem in der Schweiz verschiedene Akteure sind, die hier einen Einfluss ausüben: also nicht nur das Parlament, sondern etwa auch das Volk. Wenn wir an die Frage des Minarettverbots denken - oder auch an das Bundesgericht, das über Kruzifixverbotsentscheide befunden hat, die sehr bedeutsam waren im öffentlichen Raum - dann sind hier sehr viele Akteure gefragt, nicht nur ein einziger, sei dies das Parlament oder der Bundesrat.

„Das heißt, ich sehe sowohl in der Gesellschaft wie in der Politik eine zunehmende Individualisierung und auch bis zu einem gewissen Grad eine Abnahme von Gemeinschaftswerten und von ethischen Überzeugungen. Das hat natürlich auch nicht nur positive Auswirkungen auf politische Entscheidungen.“

Vatican News: Wir können feststellen, dass die Kirchen in der Schweiz an Einfluss verlieren und dass das politische System stark von Lobbyismus geprägt ist. Wie sollten oder könnten sich die Kirchen auf diese veränderte Situation einstellen? Braucht es eine Art kirchlicher Lobbyarbeit, wenn man das so nennen kann?

Professor Adrian Vatter: Das ist eine sehr gute Frage. Wir sehen ja, dass sich das Lobbying gerade auch auf der Stufe des eidgenössischen Parlaments in den letzten Jahren verändert hat. Und dass die Kirchen versuchen, tatsächlich über neue Wege Einfluss zu nehmen. Und wenn wir das bei den Kantonen sehen, dann könnte man sich auch vorstellen, dass eben auch die Kirchen versuchen, hier mit sehr modernen Public-Affairs-Maßnahmen Einfluss auf die Politik zu nehmen, denn sie sind schlussendlich ein Akteur unter vielen, der sich eben auch Gehör verschaffen muss.

 „Und wenn wir das bei den Kantonen sehen, dann könnte man sich auch vorstellen, dass eben auch die Kirchen versuchen, hier mit sehr modernen Public Affairs-Maßnahmen Einfluss auf die Politik zu nehmen, denn sie sind schlussendlich ein Akteur unter vielen, die sich eben auch Gehör verschaffen muss"
„Und wenn wir das bei den Kantonen sehen, dann könnte man sich auch vorstellen, dass eben auch die Kirchen versuchen, hier mit sehr modernen Public Affairs-Maßnahmen Einfluss auf die Politik zu nehmen, denn sie sind schlussendlich ein Akteur unter vielen, die sich eben auch Gehör verschaffen muss"

Vatican News: Mit welchen Methoden stehen zum Beispiel diesen Kirchen Akteure zur Verfügung, wenn sie im Nationalrat und Ständerat aktiv lobbyieren möchten?

Professor Adrian Vatter: Es gibt ja beispielsweise die Gruppe Christ und Politik. Das ist eine Gruppierung von Parlamentariern, etwa 20 bis 30 Parlamentarier, die sehr offen für Anliegen der christlichen Gemeinschaft und der Kirche sind. Das wäre sicher mal ein Einfallstor: dass man hier versuchen würde, gerade mit solchen Fragen zu offen eingestellten Politikern Kontakt aufzunehmen, sie zu sensibilisieren für bestimmte Anliegen, für bestimmte Fragen. Und das andere ist, dass man generell versucht, ein günstiges Umfeld für Public Affairs-Maßnahmen zu schaffen. Das heißt, dass man hier versucht, diese Themen, die der Kirche wichtig sind, wirklich auch langfristig in den öffentlichen Raum, in die öffentliche Debatte einzubringen.

Vatican News: Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie in der zunehmenden religiösen Vielfalt in der Schweiz, die wir ja auch trotzdem haben, für die politische Integration - und auch die Kooperation im Parlament, auch mit Stichwort religiöser Pluralismus?

Professor Adrian Vatter: Wir sehen ja, dass bestimmte religiöse Gruppen übervertrteten sind, andere religiöse Gruppen wie die Muslime oder Juden eher untervertreten. Das heißt, das ist eine Entwicklung, die voranschreiten wird. Und es wird auch darum gehen, dass man hier gerade auch bei diesen moralpolitischen Geschäften versucht, die ganz unterschiedlichen Positionen und Sichtweisen einzubringen. Und insofern ist eben eine Vielfalt und durchaus auch eben eine Beteiligung der Konfessionslosen durchaus sinnvoll auf der politisch religiösen Ebene.

(vatican news)

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07. August 2024, 10:19