Unser Sonntag: Ganz Mensch sein
Prof. Dr. Tobias Häner
Mk 7,1–8.14–15.21–23
Die Pharisäer stellen Jesus eine Frage: „Warum halten sich deine Jünger nicht an die Überlieferung der Alten, sondern essen ihr Brot mit unreinen Händen?“ (Mk 7,5)
Falsche Fährten
Wenn wir diesen Dialog zwischen Jesus und den Pharisäern mit unseren heutigen Ohren hören, kann uns das in doppelter Hinsicht auf eine falsche Fährte führen, nämlich:
1. Politisch, auch kirchenpolitisch, erleben wir heute eine Spaltung zwischen liberalen und konservativen Kräften. Von dieser Warte aus betrachtet, könnte man denken: Jesus stellt überkommene Tradition – die „Überlieferung der Alten“ – infrage, also ist er ein Liberaler.
2. Unser heutiges Verständnis vom Menschen ist geprägt von der Trennung von Äußerlichkeit und Innerlichkeit, von Geist und Materie. Davon ausgehend könnte man den Eindruck gewinnen: Jesus propagiert ein geistiges Religionsverständnis, er betont die Innerlichkeit des Glaubens.
Was heißt Reinheit?
Beide Auffassungen scheinen mir am heutigen Evangelium vorbeizugehen. Denn das Thema, an dem sich das Gespräch zwischen den Pharisäern und Jesus entzündet, ist die Reinheit. Reinheit – Was heißt das?
Rein zu sein bedeutet, kultfähig zu sein. Reinheitsvorschriften betreffen im Alten Testament vor allem die Priester und Leviten. Sie sind für den Kult im Tempel in Jerusalem zuständig. Aber auch das ganze Volk hat Anteil am Kult. Der Kult zielt auf die Heiligung des Volkes. Die Pharisäer verkörpern eine Bewegung, die sich der Heiligung des ganzen Volkes verschrieben hat.
Heiligung des Volkes, Heiligung des Alltags
Man könnte von einer Heiligung des Alltags sprechen. In dieser Hinsicht sind sich die Pharisäer und Jesus ganz nahe. Jesus stellt die Tradition, auf die sich die Pharisäer berufen infrage, aber er bringt selbst auch die religiöse Tradition Israel in Anschlag, aber eine andere Strömung, nämlich die der Propheten. In freier Form zitiert er den Propheten Jesaja:
„Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir.“
Jesus – ebenso wie den Propheten – geht es um das Herz. Das Herz ist im biblischen Sinne nicht nur der Sitz der Gefühle. Es ist die Personenmitte. Es ist der Ort, wo das Innen und Außen des Menschen zusammenkommen: Sein Denken und Fühlen, aber ebenso auch seine Beziehung zu Gott, zu den Menschen und zur ganzen Mitwelt, zu sich selbst. Das Herz ist daher auch das entscheidende Organ hinsichtlich der Kultfähigkeit, also der „Reinheit“. So sehen es die Propheten, so sagen es uns auch die Psalmen.
Sie kennen die Formulierung aus Psalm 24:
„Wer darf hinaufziehn zum Berg des Herrn, wer darf stehn an seiner heiligen Stätte?
Der reine Hände hat und ein lauteres Herz, der nicht betrügt und keinen Meineid schwört.“ (Ps 24,3f)
„Reine Hände“ und ein „lauteres Herz“- ganz ähnlich umschreibt es Psalm 15:
„Wer darf Gast sein in deinem Zelt, wer darf weilen auf deinem heiligen Berg?
Der makellos lebt und das Rechte tut, der von Herzen die Wahrheit sagt,
der mit seiner Zunge nicht verleumdet hat, der seinem Nächsten nichts Böses tat und keine Schmach auf seinen Nachbarn gehäuft hat.“ (Ps 15,1-3)
"Geh vor mir und sei untadelig / tamim - makellos
„Der makellos lebt“. Im Hebräischen steht für „makellos“ das Wort tamim. Es wird auch verwendet, um die Voraussetzungen zu umschreiben, die ein Tier haben muss, dass es im Tempel geopfert werden kann – da wären wir wieder beim Kult. Aber auch Abraham wird als „tamim“ als „makellos“ bezeichnet:
„Geh vor mir und sei untadelig / tamim!“ (Gen 17,1) – so fordert Gott Abraham auf in Gen 17. „Geh vor mir“ – das Verb „gehen“ steckt auch in Psalm 15, den ich gerade vorhin zitiert habe: „Der makellos lebt“ könnte man daher auch übersetzen mit „der untadelig geht“. In dem Psalm steckt also möglicherweise eine Anspielung auf Abraham.
Reinheit ist Kultfähigkeit
Die „Reinheit“, also die Kultfähigkeit, um die sowohl die Pharisäer als auch Jesus betontn, bedeutet also, „untadelig zu gehen“. Und ein Beispiel und Vorbild ist darin Abraham. Als Gott ihn auffordert „geh weg aus deinem Land … in das Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1), da macht er sich sofort auf den Weg. Doch als er dann nach Ägypten gelangt, bringt er seine Frau dazu, die Ägypter zu belügen und sich als Abrahams Schwester auszugeben.
Abraham, der Lügner...
Und später in Gerar wiederholt sich dasselbe, wobei es jetzt Abraham selbst ist, der vorgibt, Sara sei seine Schwester. Beide Male muss Gott eingreifen, um Sara zu retten, die Abraham durch seine Lügen preisgegeben hat. Abraham ist nicht perfekt, er ist nicht immer und in allem untadelig. Aber er ist und bleibt auf dem Weg. Das Verb „gehen“ in Psalm 15 steht für dieses Auf-dem-Weg-sein.
Auch wir alle sind nicht untadelig, haben nicht ein voll und ganz „lauteres Herz“, aber wir sind – mit Gottes Hilfe – auf dem Weg dazu. „Untadelig / tamim“ könnte man wörtlich auch mit „ganz“ übersetzen.
Es geht darum ein „ganzer“ Mensch und zugleich „ganz“ Mensch zu sein. Der Mensch im Garten Eden verliert diese Ganzheit, als er Gott und seinem Gebot misstraut und von der verbotenen Frucht isst. Als er daraufhin Gott herankommen hört, versteckt er sich vor ihm. Ganz/tamim zu sein bedeutet, sich nicht verstecken zu müssen, nicht vor Gott, nicht vor anderen Menschen, nicht vor sich selbst. Es bedeutet, auf sein Herz zu hören, genauer: auf Gott in seinem Herzen zu hören, der sagt: „du bist von mir geliebt, so wie du bist – geh vor mir und sei untadelig, sei ganz!“
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
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