Unser Sonntag: Kinder Gottes
Prof. Dr. Tobias Häner
Mk 9,30–37
Die Szene hat etwas Absurdes, beinahe Komisches: Jesus spricht mit den Jüngern über das, was ihm bevorsteht, dass er ausgeliefert und getötet werde, nach drei Tagen aber werde er auferstehen. Die Jünger dagegen liefern sich einen verbalen Wettstreit darüber, wer von ihnen der Größte sei.
Man könnte es die Ironie des Evangelisten nennen, mit der er uns plastisch vor Augen führt, wie wenig die Jünger von dem verstanden haben, worüber Jesus sie soeben belehrt hat. Die Jünger sind mit Jesus unterwegs in Galiläa, aber bezüglich ihrer Haltung und Einstellung sind sie nicht bei ihm, sondern ganz woanders.
Sie sind dem Ruf des Meisters gefolgt, aber seine wiederholten Leidensankündigungen – im heutigen Evangelium hörten wir die zweite in der Erzählfolge bei Markus – scheinen an ihnen vorbeizugehen. Die Inkohärenz der Jünger ist augenscheinlich: Die Jünger sind so nah dran an Jesus, und doch sind sie in ihrem Denken und Sprechen weit weg von ihm.
Unterschwellig formuliert das Evangelium mit dieser Darstellung der Jünger eine Anfrage an uns heute: Auch wird sind in unserem Christsein inkohärent.
Die fromme Fassade
Wir halten die fromme Fassade aufrecht, sind aber weit weg von der Radikalität und Entschiedenheit der Botschaft der Evangelien. Wir begnügen uns mit dem Anschein, uns vorbehaltlos in den Dienst Gottes und der Kirche zu stellen, aber machen im täglichen Leben viele Kompromisse und weichen aus, wenn es wirklich hart und anspruchsvoll wird.
Jesus nimmt sehr genau wahr, was unter seinen Jüngern vorgeht und stellt sie zur Rede. Anstatt eines direkten Vorwurfs formuliert er aber – wie so oft – eine Frage:
„Worüber habt ihr auf dem Weg gesprochen?“ (Mk 9,33)
Antwort: Schweigen. Die Jünger wissen, dass er weiß, worüber sie gesprochen haben. Sie brauchen es ihm nicht mitzuteilen. Und sie wissen auch, dass es völlig daneben war, was da soeben unter ihnen gelaufen ist. Sie reagieren wie Kinder, die von ihren Eltern bei etwas ertappt worden sind, was sie nicht hätten tun sollen. Solche Kinder sind wir in Gottes Augen – Kinder Gottes.
Erneut begegnet ihnen aber Jesus nicht mit einem Vorwurf, sondern mit einem Konditionalsatz:
„Wer der Erste sein will …“ (Mk 9,35)
Genau darum war es den Jüngern unterwegs in ihrem Gespräch untereinander gegangen: Besser zu sein als andere, andere zu übertreffen. Jesus greift diese Einstellung auf und gibt ihnen gewissermaßen zu verstehen: Wenn du das willst, wenn du der Erste sein willst, dann erkläre ich dir jetzt, wie das geht.
Wer der Erste sein will...
Wir können höchstens darüber mutmaßen darüber, wie Jesus seine Jünger ausgewählt hat, nach welchen Kriterien er bei ihrer Berufung vorgegangen ist. Aber es scheint klar, dass es sich um Personen handelte, die etwas wollten, die sich für große, hohe Ziele begeistern ließen. In seinem Brief an die Korinther vergleicht Paulus seine Adressaten mit Läufern im Wettkampf und fordert sie auf: „Lauft so, dass ihr den Siegespreis gewinnt“ (1 Kor 9,24). Paulus ermuntert die Christen in Korinth, so könnte man sagen, die Ersten sein zu wollen. Und ganz ähnlich verhält sich Jesus gegenüber seinen Jüngern:
„Wer der Erste sein will …“– doch dann folgt die entscheidende Wende: „der soll der Letzte von allen und der Diener aller sein“ (Mk 9,35). Das Große, das wir anstreben, beginnt im Kleinen. Das ganz Große, um das es uns als Christen geht, ist das Reich Gottes, und das beginnt im ganz Kleinen, im Dienst.
Er nahm es in seine Arme
Jesus veranschaulicht den Jüngern seine Belehrung, indem er ein Kind in ihre Mitte stellt. Und dann folgt ein Detail, dass uns unter den Evangelisten nur Markus schildert. Auch die beiden anderen Synoptiker (Matthäus und Lukas) berichten von der Szene mit dem Kind, doch nur Markus erzählt davon, dass Jesus dieses Kind umarmte:
„Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: (…)“ (Mk 9,36)
Die Umarmung veranschaulicht die Handlungsweise, die Jesus danach beschreibt:
„Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf.“ (Mk 9,37
Das Umarmen des Kindes versinnbildlicht die „Aufnahme“, die Jesus einfordert. Jemanden zu umarmen bedeutet, jemanden voll und ganz anzunehmen, mich ihm vorbehaltlos zuzuwenden. Eine solche Haltung, eine solche Handlungsweise öffnet die Tür zum ganz Großen, zum Reich Gottes. In dem ganz Kleinen der persönlichen Zuwendung ereignet sich das ganz Große der Königsherrschaft Gottes. Zugleich macht sich Jesus mit der Umarmung des Kindes gleichsam ein kindliches Verhalten zu eigen. Kinder sind das Gegenteil von abgestumpft. Sie sind äußerst empfindsam, haben aber auch die Fähigkeit, die Spannweite ihrer Empfindungen spontan zum Ausdruck zu bringen, etwa in Form von Umarmungen. Der „Letzte von allen sein“ bedeutet in gewisser Weise, auf solche Art Kind zu sein, unsere Vorbehalte und Reserven loszulassen und uns voll und ganz in den Dienst anderer zu stellen.
Diener aller sein
„Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“
Diese Aufforderung erfolgt im unmittelbaren Zusammenhang zur zweiten Leidensankündigung Jesu. Jesus selbst ist durch sein Leiden und Sterben der Letzte und unser aller Diener geworden. Ihm nachzufolgen bedeutet eben tatsächlich – ihm nachzufolgen, d.h. Christus geht uns immer voran. Indem er unser Diener geworden ist, macht er uns fähig, einander Diener zu sein.
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
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