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Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius 

D: Bundeswehrseelsorge bereitet sich auf Konfliktszenarien vor

Mit dem Ukraine-Krieg und der wachsenden Bedrohung durch Russland sehen sich auch die deutschen Kirchen neuen Herausforderungen gegenüber. Ein „geistlicher Operationsplan“ soll die Seelsorge im Spannungs- und Verteidigungsfall regeln. Bernhard Felmberg, leitender evangelischer Bischof der Bundeswehrseelsorge, spricht im Domradio-Interview über die nötige Vorbereitung für den Ernstfall und die veränderte Stimmung unter den Soldaten.

Angesichts der aktuellen geopolitischen Lage und des anhaltenden Ukraine-Krieges ergreifen die christlichen Kirchen in Deutschland Maßnahmen, um die Seelsorge in einem möglichen Verteidigungsfall zu organisieren. Der evangelische Bischof für die Seelsorge in der Bundeswehr, Bernhard Felmberg, hat von der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) den Auftrag erhalten, einen „geistlichen Operationsplan“ auszuarbeiten. Dieser Plan soll die kirchliche Begleitung in Krisensituationen sicherstellen und die Koordination von Seelsorge im Verteidigungs- oder Katastrophenfall regeln.

Zum Nachhören - was Bernhard Felmberg, leitender evangelischer Bischof der Bundeswehrseelsorge, sagt

„Wir müssen auf Notfälle vorbereitet sein und das besonders unter dem Aspekt des Verteidigungsfalls sehen“, erklärt Felmberg. Dieser Plan soll eine klare Struktur bieten, die festlegt, wie die Kirchen in ökumenischer Verbundenheit agieren. Dabei gehe es darum, sicherzustellen, dass alle Beteiligten – von der Notfallseelsorge bis zur Krankenhausseelsorge – wissen, welche Aufgaben sie in einer solchen Krise übernehmen.

Neue Herausforderungen durch den Ukraine-Krieg

Während Auslandseinsätze der Bundeswehr und auch Katastrophen bereits Teil der militärischen Realität waren, stellt der Krieg in der Ukraine eine neue Dimension dar. „Im Kalten Krieg war die Militärseelsorge darauf vorbereitet, dass Deutschland die Kriegsfront darstellt. Heute wäre es Osteuropa, die NATO-Ostflanke“, betont Felmberg. In einem möglichen Verteidigungsfall in Osteuropa müssten Militärseelsorgerinnen und -seelsorger vor Ort tätig sein, während in Deutschland die Betreuung der Familien der Soldatinnen und Soldaten gewährleistet werden müsse. Dafür sei eine enge Vernetzung mit den lokalen Kirchengemeinden und Seelsorgeeinrichtungen unabdingbar.

Die veränderte geopolitische Situation zwingt die Seelsorge, sich auf mögliche hohe Verluste und intensive Begleitung von Verletzten vorzubereiten. „Wenn es zum Bündnis- oder Verteidigungsfall kommt, rechnen wir mit vielen Verletzten und Toten. Hier müssen wir uns die Frage stellen: Wer begleitet die Verletzten? Wer steht den Offizieren bei der Überbringung von Todesnachrichten zur Seite?“, so Felmberg. Diese Szenarien seien neu und erforderten eine gezielte Vorbereitung, um den betroffenen Menschen beizustehen.

Militärhubschrauber Tiger in Deutschland
Militärhubschrauber Tiger in Deutschland

Ein fundamentaler Unterschied zu Afghanistan

Auch wenn die Bundeswehr über viele Jahre im Auslandseinsatz war – allen voran in Afghanistan –, unterscheidet sich das mögliche Szenario in Europa grundlegend von den Erfahrungen dort. „In Afghanistan hatten wir in 20 Jahren 58 gefallene Soldaten. Sollte ein Verteidigungsfall in Europa eintreten, wäre Deutschland direkt betroffen. Es würde nicht nur die Soldaten im Auslandseinsatz treffen, sondern die gesamte Gesellschaft“, erklärt Felmberg.

Dieser Unterschied stellt auch für die Militärseelsorge eine besondere Herausforderung dar. Nicht nur emotional, sondern auch praktisch sei die Situation völlig neu. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger müssten auf mögliche Szenarien vorbereitet werden, die weit über das hinausgehen, was bisher im Rahmen der Bundeswehrseelsorge behandelt wurde.

Ausbildung und Fortbildung der Seelsorger

Obwohl die Militärseelsorge bereits gut ausgebildete Pfarrerinnen und Pfarrer beschäftigt, betont Felmberg, dass die Vorbereitung auf den Verteidigungsfall eine zusätzliche Herausforderung darstelle. „Unsere Geistlichen haben viele Zusatzqualifikationen und sind bestens ausgebildet. Doch ein Verteidigungsfall bringt neue Fragen mit sich. Wie reagiere ich selbst? Kann ich die Soldatinnen und Soldaten begleiten?“, beschreibt er die Überlegungen, die in dieser Hinsicht angestellt werden müssen.

Daher werde die Ausbildung intensiviert, und es werde über Strategien gesprochen, um sicherzustellen, dass die Seelsorge auch in Extremsituationen funktioniere. „Vor allem brauchen wir Geistliche, die sich der Situation bewusst sind, wenn sie in die Militärseelsorge kommen“, so Felmberg.

Ökumenische Zusammenarbeit und internationale Koordination

Ein weiteres Schlüsselelement des „geistlichen Operationsplans“ ist die ökumenische Zusammenarbeit zwischen den christlichen Konfessionen. In einem möglichen Verteidigungsfall wäre eine internationale Koordination nötig, da die NATO-Ostflanke zahlreiche Länder einbezieht. „Wir müssen eine Interoperabilität herstellen, die sicherstellt, dass die Seelsorge sowohl vor Ort in den Einsatzgebieten als auch in Deutschland koordiniert wird“, erklärt Felmberg.

Innerhalb Deutschlands sei es wichtig, dass Krisenreaktionspläne funktionieren und aufeinander abgestimmt sind, um den betroffenen Menschen vor Ort beizustehen. „Unsere Aufgabe als Kirche ist es, in diesen schwierigen Zeiten für die Menschen da zu sein und Hoffnung zu geben“, fasst er zusammen.

Ukraine-Krieg prägt derzeit die Verteidigungspolitik in Europa
Ukraine-Krieg prägt derzeit die Verteidigungspolitik in Europa

Die Rolle der Kirche in der Friedensethik

Trotz der intensiven Vorbereitung auf den Ernstfall bleiben die christlichen Kirchen ihrer Friedensethik verpflichtet. Felmberg hebt hervor, dass die EKD seit jeher eine Militärseelsorge betreibt, ohne dabei ihre Friedenspolitik zu vernachlässigen. „Wir haben auch die Krankenhausseelsorge, aber deswegen reden wir nicht dem Schlaganfall oder Herzinfarkt das Wort. Wir sind da, wenn die Menschen uns brauchen“, erklärt Felmberg.

Auch wenn der „geistliche Operationsplan“ auf den Ernstfall vorbereitet, so bleibt der Dialog innerhalb der Kirche über Verantwortungsethik, Gesinnungsethik und Radikalpazifismus lebendig. „Es ist gut und richtig, dass unsere Kirche weiterhin diesen Diskurs führt“, schließt Felmberg.

Stimmung unter den Soldaten: Mehr Ernsthaftigkeit seit dem Ukrainekrieg

Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs habe sich die Stimmung unter den Soldatinnen und Soldaten verändert. „Zu Beginn des Krieges war die Stimmungslage von großer Besorgnis geprägt. Inzwischen ist diese einer Professionalität gewichen, die von einer anderen Ernsthaftigkeit getragen wird“, erklärt Felmberg.

Die Soldatinnen und Soldaten üben intensiver, und auch die Herausforderungen und die Anspannung seien gestiegen. Die Militärseelsorge habe die Aufgabe, die Soldaten in ihrem täglichen Leben zu begleiten – sei es in familiären Fragen, bei der Sorge um kranke Angehörige oder in der Vorbereitung auf Einsätze.

Mit einer Zustimmungsrate von 96 Prozent unter den Soldatinnen und Soldaten zeigt sich, dass die Militärseelsorge eine wichtige Rolle innerhalb der Bundeswehr spielt. „Wir genießen das Vertrauen der Soldaten und sind dankbar, dass unsere Arbeit geschätzt wird“, so Felmberg abschließend.

(domradio - mg)

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04. Oktober 2024, 09:14