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Bischof Heiner Wilmer von Hildesheim war 2015 bis 2018 Ordensoberer der Herz-Jesu-Priester Bischof Heiner Wilmer von Hildesheim war 2015 bis 2018 Ordensoberer der Herz-Jesu-Priester  (Gudrun Sailer)

„Herzschlag“: Eines Bischofs Zwiegespräch mit einer ermordeten Jüdin

Der deutsche Bischof Heiner Wilmer von Hildesheim hat die Tagebücher der in Auschwitz ermordeten niederländischen Jüdin Etty Hillesum (1914-1943) durchgeackert. Sein eben erschienenes Buch „Herzschlag“ ist eine außerordentlich nahe Auseinandersetzung mit den Gedanken einer jungen Frau, die Wege abseits des Hasses suchte – und so zum Vorbild für heute taugt. Ein Gespräch.

Pater Wilmer, was interessiert Sie als Ordensmann und als katholischer Bischof an der Figur Etty Hillesum?

Bischof Heiner Wilmer: Sie ist eine unglaublich starke Frau, völlig unorthodox, passte an sich in kein Schema der damaligen Zeit. Sie würde auch heute in kein Schema passen. Sie ist eine Frau, die dem Leben auf der Spur ist, die angesichts der Katastrophe, auch der persönlichen Katastrophe, sich nicht irre machen lässt und einen Zugang hat zu dem Schönen, zu dem Ganzen und zu dem großartigen Leben.

Hier zum Hören:

Sie sind mit den Tagebüchern von Etty Hillesum, die als Opfer des Holocaust starb, in Exerzitien gegangen. Üblicherweise zieht man sich in der katholischen Kirche zu geistlichen Übungen zurück mit Psalmen, Kirchenvätern, Heiligen. Sie haben die Tagebücher einer ungewöhnlichen jüdischen Frau mitgenommen in eine Form von Meditation. Warum?

Bischof Heiner Wilmer: Etty Hilesum hatte mich so gefesselt, dass ich dachte, ich muss ihr auf die Spur kommen. Vor allem würde ich gerne lernen: Wie geht Resilienz? Wie geht Hinstehen in einer schwierigen Zeit? Wie geht der Umgang mit der Tiefe des Lebens, der eigenen Seele? Vor allem auch: Wie geht die Frage nach dem großen Geheimnis angesichts einer Katastrophe? Und: Etty Hillesum verkündet kein Moralin, sondern ist bei den Menschen, hat einen großen Sinn für Wärme, für Nähe und für Verbindlichkeit.

„Etty Hillesum sagt, dass wir uns nicht vom Hass gefangen nehmen lassen sollten“

In Etty Hillesums Tagebüchern taucht immer wieder das Motiv des Hasses und dessen Überwindung auf. Der Rahmen ist der Völkermord, den die Deutschen an den Juden verüben; Etty registriert den tödlichen Hass, der sie umgibt, und versucht, ihm etwas entgegenzusetzen. Inwiefern lassen sich da Parallelen zu unserer Welt ziehen?

Bischof Heiner Wilmer: Aus meiner Sicht nimmt zurzeit der Hass zu, auch das Lagerdenken. Es gibt die Guten und die Bösen. Was uns leider abhandenkommt, ist eine Streitkultur. Wir können kaum noch in der Sache streiten, sondern wir diffamieren die andere Person, wir bashen, wir reden zynisch über andere – und das ist bitter. Etty Hillesum sagt, dass wir uns nicht vom Hass gefangen nehmen lassen sollten. Denn wer am Ende nur noch hasst, legt sich selbst die Schlinge ums eigene Herz, zieht sich nach innen hin immer weiter zurück und zerstört sich am Ende selbst.

„Vielleicht ist er deshalb so brutal, weil ihn seine Freundin gerade verlassen hat“

Wie herauskommen aus diesem Selbstgefängnis des Hasses? Was lässt sich diesbezüglich von ihr lernen?

Bischof Heiner Wilmer: Etty Hillesum sagt an einer Stelle, als sie ein Gespräch in Amsterdam hört, wo jemand äußert: „Man sollte all diese Deutschen vergasen, die Gestapo vergasen, auch die Deutschen.“ Da sagt sie: „Ich kann das verstehen, dass sie so denkt. Aber es ist keine Hilfe, keine Lösung.“ Sie versucht zum Beispiel, einen jungen Gestapo-Burschen zu verstehen, über den sie sagt: „Vielleicht ist er deshalb so brutal, weil ihn seine Freundin gerade verlassen hat, weil seine Mutter ihn vor die Tür gesetzt hat.“ Sie versucht, hineinzuschlüpfen in die andere Person, um das Gegenüber von innen her zu verstehen. Auch diese Person hat eine Geschichte. Auch diese Person hat eine Mutter, einen Vater, menschliche Beziehungen. Auch diese Person sehnt sich letztlich nach den gleichen Dingen wie ich, nämlich nach dem Guten, nach dem Schönen und nach dem Attraktiven.

Die Tagebücher von Etty Hillesum umfassen etwa eineinhalb Jahre bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz. Sie sind veröffentlicht, aber nicht sehr bekannt. Was wünschen Sie diesen Schriften?

Bischof Heiner Wilmer: Ich wünsche dem Buch unbedingt, dass es Pflichtlektüre wird in unseren Schulen. Wir lesen in der Mittelstufe in vielen Schulen Anne Frank. Die Tagebücher von Etty Hillesum sind noch nicht so bekannt. Ich halte Etty Hillesum für eine großartige Autorin, die eine ganze junge Generation auch zukünftig wirklich prägen könnte. Sie ist immerhin Ende 20, Anne Frank war ein Mädchen in der Pubertät. Die Tagebücher sollten Pflichtlektüre werden, weil Etty Hillesum uns in der Gesellschaft gut täte, vor allem in der Frage: Wie umgehen mit einer sehr komplexen Welt? Wie umgehen mit Vielschichtigkeit, Diversität und zunehmendem Hass?

Etty Hillesums Tagebuch wurde 1981 unter dem Titel „Das denkende Herz der Baracke“ veröffentlicht. Heinrich Wilmers Auseinandersetzung mit diesen Schriften heißt: Herzschlag. Etty Hillesum – Eine Begegnung und ist im Verlag Herder erschienen.

(vatican news – gs)

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25. November 2024, 12:20