Missbrauch: Papst schreibt an die Kirche in Chile
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
Scherbensortieren im Vatikan: Es ist schon der zweite Brief, den Papst Franziskus angesichts des chilenischen Missbrauchsskandals an die dortige Ortskirche schreibt. Im ersten Brief vom 8. April hatte er schwere Fehleinschätzungen zum Skandal zugegeben und den Episkopat des Landes nach Rom beordert. Der neue Brief, den der Vatikan jetzt nach einigem Zögern als publizierbar anerkennt, zieht erste Schlüsse aus dem mittlerweile stattgehabten Krisengipfel. Ein Schlusspunkt hinter die Aufarbeitung des Skandals sind die acht Seiten nicht.
Der Duktus des auf Spanisch verfassten Textes vom 31. Mai erinnert an den Brief, den Benedikt XVI. im März 2010 ebenfalls angesichts von Missbrauchsskandalen an die Kirche in Irland schrieb. Franziskus zitiert seinen deutschen Vorgänger auch gleich eingangs mit dem Satz, „dass die Behauptung der Gottesliebe zur Lüge wird, wenn der Mensch sich dem Nächsten verschließt“ (Enzyklika Deus Caritas est, 25.12.2005, Nr. 16).
Insgesamt schreibt der argentinische Papst aber in einem sehr geistlichen Ton, bei dem man den früheren Exerzitienmeister heraushört: „An das pilgernde Volk Gottes in Chile“ wendet er sich, und ausführlich dankt er zunächst für das Gebet, mit dem viele Chilenen seinen Klärungsprozess begleiteten, „das Volk Gottes auf Knien, das die Gabe des Heiligen Geistes erfleht für eine Kirche, die um ihrer Sünde willen verwundet wurde“. Sünde im Singular.
„Dass ich Sie zum Gebet aufgerufen habe, war keine funktionale Maßnahme und auch nicht einfach eine Geste guten Willens. Im Gegenteil: Ich wollte die Dinge an ihren präzisen Punkt stellen und das Thema dort verankern, wohin es gehört: Dem Volke Gottes „eignet die Würde und die Freiheit der Kinder Gottes, in deren Herzen der Heilige Geist wie in einem Tempel wohnt“ (Konzils-Konstitution Lumen Gentium, Nr. 9). Das heilige Volk Gottes ist mit der Gnade des Heiligen Geistes gesalbt; darum müssen wir beim Nachdenken, Urteilen und Unterscheiden sehr auf diese Salbung achten. Jedes Mal, wenn wir als Kirche, als Hirten, als Gesalbte diese Gewissheit vergessen, kommen wir vom rechten Weg ab. Jedes Mal, wenn wir versuchen, das Volk Gottes durch kleine Eliten zu ersetzen oder es darauf zu reduzieren, errichten wir Gemeinschaften … oder Strukturen ohne Wurzeln, ohne Geschichte, ohne Gesicht, ohne Erinnerung, ohne Körper, kurz: ohne Form.“
Kampf gegen eine Kultur des Missbrauchs
Klar wird hier, dass es Franziskus nicht nur darum geht, Licht in das Dunkel einiger Skandale zu bringen. Sein Ansatz ist umfassend, er zielt auf eine grundlegende Erneuerung der ganzen chilenischen Kirche vom Eigentlichen her. Die Missbrauchsskandale scheinen ihm ein Symptom, dass grundlegend etwas faul ist in dieser Ortskirche.
„Wenn wir unsere Wurzeln aus dem Leben des Volkes Gottes herausziehen, dann stürzt uns das in Verzweiflung und in die Pervertierung der Natur der Kirche. Der Kampf gegen eine Kultur des Missbrauchs“ – das Wort Missbrauch fällt an dieser Stelle des Briefs, auf Seite zwei, zum ersten Mal – „setzt voraus, dass wir diese Gewissheit (in uns) erneuern.“
Franziskus malt sein Bild von Kirche noch etwas breiter aus: Es gebe im Volk Gottes „keine Christen ersten, zweiten oder dritten Rangs“. „Es ist unmöglich, sich die Zukunft vorzustellen ohne diese Salbung, die in einem jeden von Ihnen wirkt und die sicher nach erneuerten Formen der Teilhabe verlangt. Ich rufe alle Christen dazu auf, keine Angst davor zu haben, Protagonisten des Wandels zu sein, der heute von uns verlangt wird“.
Subtext: Mit bloßen Personalentscheidungen, etwa einem Absetzen von Bischöfen, ist es nicht getan; alle Katholiken in Chile sollen sich Teil des Problems und Teil seiner Lösung fühlen. Der Papst spricht das offen aus: „Die Erneuerung der kirchlichen Hierarchie bewirkt für sich allein noch nicht den Wandel, zu dem der Heilige Geist uns drängt. Von uns wird eine gemeinsame Verwandlung der Kirche verlangt, die alle einbezieht.“
Prozess der Prüfung und Reinigung
Franziskus macht sich dann ein Wort Jesu im Johannesevangelium zu eigen, dass der Geist (wie der Wind) wehe, wo er wolle (Joh 3, 8), und ruft Chiles Katholiken beredt zum Versuch einer „Wiedergeburt“ auf. Man müsse den Problemen ins Auge sehen, dürfe sich aber nicht von ihnen „gefangen nehmen lassen“; „Leidenschaft“ sei am Platz, aber „nicht Fanatismus“. Alles, „was heute die Integrität und Würde eines Menschen gefährdet“, verlange nach „Änderung“. Der Papst ringt um den klaren Blick auf das Vorgefallene – und auf die Systemfehler, die das Schreckliche möglich machten.
Ein bisschen Medienschelte kann sich der Papst zwar nicht verkneifen, aber er verpackt sie in eine Fußnote und wendet sie positiv: „Man muss anerkennen, dass einige Organisationen und Medien das Thema Missbrauch verantwortlich behandelt haben, indem sie immer nach der Wahrheit suchten und diese schmerzliche Realität nicht dazu einsetzten, um ihr Rating zu steigern.“ Unausgesprochen heißt das: Viele Medien haben das, leider, anders gehalten.
Dann kommt Franziskus, der Chile erst im Januar dieses Jahres besucht hat, auf die konkrete Aufarbeitung der Missbrauchsskandale zu sprechen. „Der ganze Prozess der Prüfung und Reinigung, den wir jetzt erleben, ist nur durch die Mühe und Hartnäckigkeit konkreter Menschen möglich geworden, die gegen alle Hoffnung und trotz der Versuche, sie zu diskreditieren, nicht nachgelassen haben bei der Suche nach der Wahrheit. Ich meine damit die Opfer von sexuellem, von Macht- und Autoritäts-Missbrauch sowie alle, die ihnen geglaubt und die sie begleitet haben. Opfer, deren „laute Klage“ (Ex 3, 7) zum Himmel gestiegen ist. Ich will mich bei ihnen allen einmal mehr für ihre Tapferkeit und Hartnäckigkeit bedanken.“
Der Papst hat in den letzten Wochen mehrfach ausführlich im Vatikan mit Missbrauchsopfern aus Chile gesprochen. Der Presse gegenüber gaben diese Überlebenden des Missbrauchs durch einen Priester in Santiago hinterher an, Franziskus habe sie im Namen der Kirche um Vergebung gebeten.
Jetzt sind nach Einschätzung des Papstes „Zuhören und Unterscheidung“ wichtig, damit die Missbrauchsskandale nicht nur „eingedämmt“ würden („das wäre zu wenig, auch wenn es unverzichtbar ist“), sondern damit „das Problem in seiner ganzen Komplexität“ in den Blick gerate. „Ich glaube, hier liegt einer unserer Hauptfehler: Wir haben den Opfern nicht zugehört… Voller Scham muss ich sagen, dass wir es nicht verstanden haben, zuzuhören und rechtzeitig zu reagieren.“ Gesten guten Willens gegenüber den Opfern reichten nicht aus, gebraucht werde vielmehr „eine neue Art und Weise, wie wir uns zum Leben, zu den anderen und zu Gott verhalten“. Wieder einmal: der ganzheitliche, globale Ansatz.
Kritische Haltung darf nicht mit Verrat verwechselt werden
„Das ‚Nie wieder‘ zu einer Kultur des Missbrauchs sowie zum System der Vertuschung, das ihr das Fortdauern ermöglichte, setzt voraus, dass wir alle daran arbeiten, eine Kultur des Behütens zu entwickeln… Wir wissen heute, dass das beste Wort, das wir zum angerichteten Schmerz sagen können, das Versprechen einer persönlichen, gemeinschaftlichen und sozialen Umkehr ist… Es ist deswegen dringend nötig, Räume zu schaffen, wo die Kultur von Missbrauch und Vertuschung nicht vorherrscht und wo eine kritische Haltung, die unbequeme Fragen stellt, nicht mit Verrat verwechselt wird.“
Franziskus ruft nach „einer neuen Mentalität“, die eine evangeliumsgemäße Haltung der Demut tief in der Kirche verankern solle. „Sagen wir es deutlich: Alles, was gegen die Freiheit und Integrität der Menschen gerichtet ist, ist nicht mit dem Evangelium zu vereinbaren. Darum ist es auch wichtig, Glaubensprozesse zu entwickeln, bei denen man lernt zu erkennen, wann es notwendig ist zu zweifeln – und wann nicht.“ Die christliche Lehre sei „kein geschlossenes System“; vielmehr hätten „die Fragen unseres Volkes“ einen „hermeneutischen Wert, den wir nicht ignorieren dürfen“.
Was das mit Missbrauch zu tun hat? Ganz einfach: Immer dann, wenn der Glaube zu einem System oder einer Ideologie gemacht wird, richtet er sich nach Ansicht des Papstes gegen den Menschen. In einem solchen Umfeld wird dann auch das Schlimmste möglich. Als früherer Lehrer und Jesuiten-Exerzitienmeister drängt Franziskus alle katholischen Schul- und Studieneinrichtungen – auch die Priesterseminare – dazu, die entsprechende Lehre aus den Missbrauchsskandalen zu ziehen. Auch der Abbau von „Klerikalismus“ gehört für ihn in diesen Zusammenhang.
Vor allem dürfe sich die von Missbrauchsskandalen gebeutelte Kirche nicht angesichts all der Skandalberichterstattung nach außen abschotten, sondern solle sich „helfen lassen“. Schließlich wehe ja der Geist, wo er wolle.
Anzeige, Urteil und Strafe
Die letzten Absätze des Papstbriefs sind ein Dank dafür, dass nicht alle Gläubigen in Chile vor den Herausforderungen versagt hätten. Gerade die Missbrauchsopfer hätten ihn gesprächsweise auch auf viele herausragende Menschen aufmerksam gemacht, die sie in allen Schwierigkeiten begleitet und ihnen ein starkes Zeugnis des Glaubens gegeben hätten. Die „verbeulte Kirche“, von der Franziskus gerne spricht, dürfe nicht der Versuchung nachgeben, „sich selbst ins Zentrum zu stellen oder sich für perfekt zu halten“; sie solle lieber „angesichts der Sünde eine Dynamik der Reue, der Barmherzigkeit und des Vergebens“ entwickeln – „und angesichts des Verbrechens Anzeige, Urteil und Strafe“.
Statt konkreten Handlungsanweisungen, wie mit den Missbrauchsskandalen umzugehen sei, zielt der argentinische Papst höher, auf den Versuch einer tiefgreifenden Erneuerung von Chiles Kirche.
(vatican news)
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