Wortlaut: Die erste Papstrede in Estland
Verehrte Frau Präsidentin,
werte Mitglieder der Regierung und Vertreter des öffentlichen Lebens,
geschätzte Mitglieder des Diplomatischen Korps,
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
es freut mich sehr, bei Ihnen hier in Tallinn zu sein, der nördlichsten Hauptstadt, die mich der Herr besuchen ließ. Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, für Ihre Willkommensworte und für die Gelegenheit, den Vertretern des Volkes von Estland zu begegnen. Wie ich weiß, ist unter Ihnen auch eine Delegation der verschiedenen Bereiche der Zivilgesellschaft und der Welt der Kultur zugegen. Dies gestattet mir, meiner Absicht Ausdruck zu verleihen, Ihre Kultur etwas besser kennenzulernen, vor allem die Widerstandsfähigkeit, die es Ihnen möglich gemacht hat, angesichts vieler widriger Situationen wieder neu zu beginnen.
Seit Jahrhunderten wird diese Region „Marienland“ – „Maarjamaa“ – genannt. Dieser Name ist nicht nur Teil Ihrer Geschichte, sondern gehört zu Ihrer Kultur. An Maria zu denken ruft in mir zwei Worte hervor: Gedächtnis und Fruchtbarkeit. Maria ist die Frau mit Gedächtnis, die alles, was lebt, wie einen Schatz in ihrem Herzen bewahrt (vgl. Lk 2,19); und sie ist die fruchtbare Mutter, die das Leben ihres Sohnes hervorbringt. Deswegen gefällt es mir, an Estland als ein Land mit Gedächtnis und ein Land der Fruchtbarkeit zu denken.
Land mit Gedächtnis
Land der Fruchtbarkeit
Wie ich zu Beginn meines Dienstes als Bischof von Rom hervorgehoben habe, »erlebt die Menschheit im Moment eine historische Wende, die wir an den Fortschritten ablesen können, die auf verschiedenen Gebieten gemacht werden. Lobenswert sind die Erfolge, die zum Wohl der Menschen beitragen« (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 52); dennoch ist es notwendig, nachdrücklich daran zu erinnern, dass Wohlstand nicht immer bedeutungsgleich mit gut leben ist.
Eine in unseren technokratischen Gesellschaften zu beobachtende Folge ist der Verlust des Sinns des Lebens, der Freude am Leben. So erlischt langsam und leise die Fähigkeit des Staunens, was die Menschen oft in eine Existenzmüdigkeit fallen lässt. Das Bewusstsein, zu anderen zu gehören und für sie zu kämpfen, in einem Volk, in einer Kultur, in einer Familie verwurzelt zu sein, kann allmählich verloren gehen. Dabei werden vor allem die jüngeren Generationen ihrer Wurzeln beraubt, von denen aus sie ihre Gegenwart und ihre Zukunft aufbauen sollen, weil ihnen die Fähigkeit zu träumen, zu wagen, zu schaffen genommen wird. Alles „Vertrauen“ in den technologischen Fortschritt als einzigen möglichen Weg der Entwicklung zu setzen kann bewirken, dass die Fähigkeit verloren geht, zwischenmenschliche, generationen- und kulturübergreifende Bindungen zu schaffen. Kurz gesagt, das lebendige Gefüge, das so wichtig ist, damit wir spüren, dass wir zueinander gehören und an einem gemeinsamen Plan im umfassenderen Sinn des Wortes teilnehmen. Folglich besteht eine unserer wichtigsten Verantwortungen als Amtsträger in Gesellschaft, Politik, Bildung und Religion eben genau darin, wie es uns gelingt, Bindungen aufzubauen.
Ein fruchtbares Land erfordert Rahmenbedingungen, in denen ein lebendiges Netz verankert und geschaffen werden kann, das in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass sich die Mitglieder der Gemeinschaften „zu Hause“ fühlen. Es gibt keine schlimmere Entfremdung als erfahren zu müssen, keine Wurzeln zu haben und zu niemanden zu gehören. Ein Land wird nur in dem Maß fruchtbar sein, ein Volk wird nur in dem Maß Früchte tragen und Zukunft schaffen können, wie es Beziehungen der Zusammengehörigkeit unter seinen Mitgliedern hervorbringt und Bindungen zur Integration unter den Generationen und seinen verschiedenen Gemeinschaften schafft; und wie es die Spiralen durchbricht, welche die Sinne trüben und so uns immer mehr voneinander entfernen. Ich möchte Ihnen, liebe Freunde, versichern, dass Sie bei diesen Anstrengungen immer auf die Unterstützung und Hilfe der katholischen Kirche zählen können. Sie ist bei Ihnen eine kleine Gemeinschaft, doch möchte sie sehr gerne zur Fruchtbarkeit dieses Landes beitragen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich danke Ihnen nochmals für die Aufnahme und Gastfreundschaft. Der Herr segne Sie und das geliebte estnische Volk. Vor allem segne er die Alten und die Jungen, damit sie durch Bewahrung des Gedächtnisses und seiner Weiterführung aus diesem Land ein Vorbild an Fruchtbarkeit machen.
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