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Im Wortlaut: Papst Franziskus bei der Gebetsvigil mit Jugendlichen

Etwa 600.000 Menschen haben am Samstagabend an einer Gebetsvigil mit Papst Franziskus in Panama-Stadt teilgenommen. Es war der emotionale Höhepunkt des Weltjugendtages, der an diesem Sonntag in dem kleinen mittelamerikanischen Land zu Ende geht.

Hier finden Sie die Ansprache, die Franziskus bei der Vigil gehalten hat, in offizieller deutscher Übersetzung. Wie bei solchen Gelegenheit üblich, hat der Papst aus dem Stegreif einiges hinzugefügt; wer sich dafür interessiert, den verweisen wir auf den spanischen Originaltext.

APOSTOLISCHE REISE NACH PANAMA
ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS
Vigil mit den Jugendlichen
Metro Park, 26. Januar 2019

Liebe Jugendliche, guten Abend!

Wir haben gerade diese schöne Darbietung zum Baum des Lebens gesehen, die uns zeigt, wie das Leben, das Jesus uns schenkt, eine Geschichte der Liebe ist, eine Geschichte des Lebens, die sich mit unserer eigenen Geschichte vermischen und im Erdreich eines jeden Wurzeln schlagen will. Jenes Leben ist weder ein Rettungsprogramm, das „in der Cloud“ hängt und darauf wartet, heruntergeladen zu werden, noch ist es eine neue „App“, die man entdecken müsste, oder eine mentale Übung im Sinne einer Technik zum persönlichen Wachstum. Sie ist auch kein Tutorial, mit dem man etwas über die letzten Neuheiten erfahren kann. Die Rettung, die der Herr uns schenkt, ist eine Einladung zur Teilnahme an einer Liebesgeschichte, die sich mit unseren Geschichten verknüpft; sie lebt fort und will mitten unter uns geboren werden, damit wir dort, wo wir sind, wie wir sind und mit wem wir sind, fruchtbringen können. Dorthin kommt der Herr, um zu pflanzen und sich selbst einzupflanzen; er ist der Erste, der „Ja“ zu unserem Leben und zu unserer Geschichte sagt, und er wünscht, dass auch wir zusammen mit ihm „Ja“ sagen.

Maria, die „Influencerin“ Gottes

So überraschte er Maria und lud sie ein, Teil an dieser Liebesgeschichte zu sein. Die junge Frau aus Nazareth tauchte zweifellos nicht in den „sozialen Netzwerken“ der damaligen Zeit auf, sie war keine Influencerin, aber ohne es zu wollen oder danach zu streben, wurde sie die Frau mit dem größten Einfluss aller Zeiten.

Maria, die „Influencerin“ Gottes. Mit wenigen Worten wusste sie „Ja“ zu sagen und auf die Liebe und die Verheißungen Gottes zu vertrauen, die einzige Kraft, die in der Lage ist, alles neu zu machen.

Noch immer beeindruckt die Kraft des „Ja“ dieser jungen Frau, jenes „Mir geschehe“, das sie zu dem Engel sagte. Dies war keine passive oder resignierte Einwilligung oder ein „Ja“, im Sinne eines „Gut, schaun wir mal, was passiert“. Es war mehr, es war etwas Anderes. Es war das „Ja“ eines Menschen, der sich einbringen und Risiken eingehen will und alles auf eine Karte setzten will, mit keiner anderen Garantie als der Gewissheit, Trägerin einer Verheißung zu sein. Es war klar, dass es eine schwierige Mission werden würde, aber die Schwierigkeiten waren kein Grund, „nein“ zu sagen. Es war klar, dass es Komplikationen geben würde, aber es wären nicht dieselben Komplikationen gewesen, die auftreten, wenn die Feigheit uns lähmt, weil wir nicht im Voraus schon alles geklärt oder abgesichert haben. Das „Ja“ und der Wunsch zu dienen waren stärker als die Zweifel und Schwierigkeiten.

Die Welt ist nicht nur für die Starken

Heute Abend hören wir auch, wie das „Ja“ Mariens von Generation zu Generation widerhallt und sich vervielfältigt. Viele junge Menschen, die dem Beispiel Mariens folgen, riskieren etwas und setzen auf etwas, weil sie einer Verheißung folgen. Danke, Erika und Rogelio, für das Zeugnis, das Ihr uns gegeben habt. Ihr habt uns von euren Ängsten, den Schwierigkeiten und all den Risiken erzählt, die ihr in Erwartung eurer Tochter Ines erlebt habt. An einem gewissen Punkt habt ihr gesagt: „Es verlangt uns Eltern aus verschiedenen Gründen viel ab, ein Kind anzunehmen, das krank oder behindert auf die Welt kommen wird“, das ist klar und verständlich. Aber das Erstaunliche war, als ihr hinzugefügt habt: „Als unsere Tochter geboren wurde, haben wir beschlossen, sie von ganzem Herzen zu lieben“. Vor ihrer Geburt und angesichts all der schlechten Nachrichten und Schwierigkeiten, die auftauchten, habt ihr eine Entscheidung getroffen und wie Maria gesagt: „Uns geschehe…“. Ihr habt beschlossen, sie zu lieben. Zum Leben eurer schwachen, hilflosen und bedürftigen Tochter habt ihr „Ja“ gesagt, und so haben wir Ines. Ihr habt daran geglaubt, dass die Welt nicht nur für die Starken ist!

„Ja“ zu sagen zum Herrn bedeutet, den Mut zu haben, das Leben, wie es kommt, mit all seiner Zerbrechlichkeit und Begrenztheit und oft sogar mit all seinen Widersprüchen und Sinnlosigkeiten, mit der gleichen Liebe anzunehmen, mit der Erika und Rogelio zu uns gesprochen haben. Es bedeutet, unser Land, unsere Familien, unsere Freunde so anzunehmen, wie sie sind, auch mit ihren Schwächen und ihrer Begrenztheit. Das Leben annehmen kann auch bedeuten, all das willkommen zu heißen, was nicht vollkommen, rein oder gefiltert, aber deswegen nicht weniger liebenswert ist. Ist jemand, nur, weil er behindert oder fragil ist, nicht der Liebe würdig? Ist jemand, nur, weil er ein Fremder ist, weil er Fehler gemacht hat, weil er krank ist oder weil er in einem Gefängnis sitzt, nicht der Liebe würdig? So handelte Jesus: Er nahm sich des Aussätzigen, des Blinden und des Lahmen, des Pharisäers und des Sünders liebevoll an. Er nahm den Verbrecher am Kreuz an und sogar diejenigen, die ihn ans Kreuz lieferten, und verzieh ihnen.

Wieder auf die Beine kommen

Warum? Weil nur das, was man liebt, gerettet werden kann. Nur was man annimmt, kann verwandelt werden. Die Liebe des Herrn ist größer als all unsere Widersprüche, Schwächen und Begrenztheiten, aber gerade mithilfe unserer Widersprüche, Schwächen und Begrenztheiten will er diese Liebesgeschichte schreiben. Er hat den verlorenen Sohn angenommen, er hat Petrus nach seiner Verleugnung angenommen; er nimmt auch uns immer, immer an, wenn wir gefallen sind und hilft uns, aufzustehen und wieder auf die Beine zu kommen. Denn der wirkliche Fall, der unser Leben zerstören kann, besteht darin, am Boden liegen zu bleiben und sich nicht helfen zu lassen.

Wie schwer ist es manchmal, die Liebe Gottes zu verstehen! Aber welch großes Geschenk ist es zu wissen, dass wir einen Vater haben, der uns jenseits all unserer Unvollkommenheiten annimmt!

Der erste Schritt besteht darin, keine Angst davor zu haben, das Leben so zu nehmen, wie es kommt, das Leben anzunehmen!

Danke, Alfredo, für dein Zeugnis und den Mut, es mit uns allen zu teilen. Ich war sehr beeindruckt, als du gesagt hast: „Ich begann im Bauwesen zu arbeiten, bis das Projekt beendet war. Ohne Arbeitsplatz sahen die Dinge anders aus: ohne Schule, ohne Beschäftigung und ohne Arbeit“. Ich fasse in einem vierfachen „Ohne“ die Faktoren zusammen, die unser Leben entwurzeln und austrocknen: ohne Arbeit, ohne Bildung, ohne Gemeinschaft, ohne Familie.

Welche Wurzeln geben wir euch?

Es ist unmöglich, dass jemand wächst, wenn er keine starken Wurzeln hat, die helfen, gut und fest mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen. Es ist leicht, sich zu verlieren, wenn man keinen Ort hat, wo man Halt findet. Das ist eine Frage, die wir Älteren uns stellen müssen, ja, eigentlich ist es eine Frage, die ihr uns stellen müsstet, und wir werden euch darauf antworten müssen: Welche Wurzeln geben wir euch, welche Grundlagen, auf denen ihr euer Menschsein aufbauen könnt? Wie leicht ist es, junge Menschen zu kritisieren und die ganze Zeit herumzunörgeln, wenn wir ihnen Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten sowie Gemeinschaftserfahrungen vorenthalten, die Halt geben und Zukunftsträume wecken! Ohne Bildung ist es schwierig, von der Zukunft zu träumen; ohne Arbeit ist es sehr schwierig, von der Zukunft zu träumen; ohne Familie und Gemeinschaft ist es schier unmöglich, von der Zukunft zu träumen. Denn von der Zukunft zu träumen bedeutet, nicht nur eine Antwort auf die Frage „Warum lebe ich?“ zu finden, sondern auch auf die Frage „Für wen lebe ich?“, für wen lohnt es sich zu leben.

Es ist, wie Alfredo sagte: wenn einer in der Luft hängt und ohne Arbeit, Bildung, Gemeinschaft oder Familie dasteht, fühlt er sich am Ende des Tages leer und füllt diese Lücke schließlich mit allem Möglichen aus. Denn mit der Zeit weiß man dann nicht mehr, für wen man leben, kämpfen und lieben soll.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einigen Jugendlichen, wo einer von ihnen mich fragte: „Padre, warum fragen sich heute so wenige junge Menschen, ob es Gott gibt oder warum fällt es ihnen so schwer, an ihn zu glauben und sich im Leben für etwas einzusetzen?“ Ich antwortete: „Und ihr, was denkt ihr?“ Unter den Antworten, die aus dem Gespräch heraus entstanden, erinnere ich mich an eine, die mein Herz berührte und die mit der Erfahrung zusammenhängt, von der Alfredo sprach: „Weil viele von ihnen das Gefühl haben, dass sie nach und nach für die anderen aufgehört haben zu existieren, oft fühlen sie sich wie unsichtbar. Das ist die Kultur der Verlassenheit und mangelnder Achtsamkeit. Ich sage nicht alle, aber viele haben das Gefühl, dass sie nicht viel oder nichts zu geben haben, weil sie keinen realen Ort haben, wo sie erleben, dass sie gefragt sind. Wie sollen sie da denken, dass Gott existiert, wenn sie für ihre Brüder und Schwestern schon längst nicht mehr existieren?

Nicht ständig online, sondern Teil einer Gemeinschaft sein

Wir wissen genau, dass es nicht ausreicht, den ganzen Tag online zu sein, um sich anerkannt und geliebt zu fühlen. Beachtung zu erfahren und zu etwas eingeladen zu sein, ist mehr wert als „im Netz“ zu sein. Es bedeutet, Orte zu finden, in denen ihr euch mit euren Händen, eurem Herzen und eurem Kopf als Teil einer größeren Gemeinschaft fühlen könnt, die euch braucht und die auch ihr braucht.

Dies haben die Heiligen sehr gut verstanden. Ich denke zum Beispiel an Don Bosco, der nicht sonst wohin gegangen ist, um die Jugendlichen an einem fernen oder speziellen Ort zu suchen, sondern er lernte, alles, was in der Stadt geschah, mit den Augen Gottes zu sehen, und so kam er zu den Hunderten von verlassenen Kindern und Jugendlichen ohne Schule, ohne Arbeit und ohne die freundliche Hand einer Gemeinschaft. Viele Menschen lebten in derselben Stadt, und viele kritisierten diese jungen Menschen, aber sie waren nicht fähig, sie mit den Augen Gottes betrachten. Don Bosco tat dies und wusste, wie man den ersten Schritt macht: das Leben so anzunehmen, wie es einem begegnet; und von daher hatte er keine Angst, den zweiten Schritt zu tun: mit ihnen eine Gemeinschaft zu gründen, eine Familie, in der sie sich bei Arbeit und Studium geliebt fühlen konnten. Ihnen Wurzeln geben, mit denen sie Halt finden, damit sie den Himmel erreichen können.

Ich denke an viele Orte in unserem Lateinamerika, wo Einrichtungen gefördert werden, die Große Familie – Haus Christi heißen, und die im gleichen Geist wie die von Alfredo erwähnte Stiftung Johannes Paul II. und viele andere solche Zentren versuchen, das Leben so anzunehmen, wie es in seiner Gesamtheit und Komplexität vorkommt, weil sie wissen, dass »für den Baum noch Hoffnung besteht: Ist er gefällt, so treibt er wieder, sein Sprössling bleibt nicht aus« (vgl. Ijob 14,7).

Hüter unserer Wurzeln sein

Und immer kann man „neu austreiben und sprießen“, wenn es eine Gemeinschaft gibt, die Nestwärme eines Hauses, wo man Wurzeln schlagen kann, wo das notwendige Vertrauen besteht und das Herz darauf vorbereitet wird, einen neuen Horizont zu entdecken: den Horizont eines Sohnes und einer Tochter, die erfahren, dass sie geliebt, gesucht und gefunden sind, dass sie für eine Mission bestimmt sind. Der Herr macht sich durch konkrete Gesichter gegenwärtig. Zu dieser Liebesgeschichte „Ja“ zu sagen bedeutet auch zu bejahen, dass wir Werkzeuge sind, um in unserer Umgebung kirchliche Gemeinschaften aufzubauen, die in der Lage sind, durch die Straßen der Stadt zu ziehen, die Anderen anzunehmen und neue Beziehungen zu knüpfen. Ein „Influencer“ des 21. Jahrhunderts zu sein bedeutet, ein Hüter unserer Wurzeln zu sein, Hüter all dessen, was verhindert, dass unser Leben „gasförmig“ wird und im Nichts verdunstet. Seid Hüter all dessen, was es uns erlaubt, uns als Teil voneinander zu fühlen, zueinander zu gehören.

So hat Nirmeen das auf dem Weltjugendtag in Krakau erlebt. Sie begegnete einer lebendigen, freudigen Gemeinschaft, die auf sie zuging, ihr das Gefühl gab, dazuzugehören und ihr erlaubte, die Freude zu leben, die die Begegnung mit Jesus vermittelt.

Ein Heiliger fragte sich einmal: »Dient der Fortschritt der Gesellschaft einzig dazu, dass man sich das neueste Automodell oder die neueste auf dem Markt befindliche Technologie erwerben kann? Besteht darin die ganze Größe des Menschen? Gibt es nichts Größeres, als dafür zu leben?« (ALBERTO HURTADO, Meditación de Semana Santa para jóvenes, 1946). Ich frage euch: Besteht darin eure ganze Größe? Seid ihr nicht für etwas Größeres geschaffen? Maria hat das verstanden und so sagte sie: „Mir geschehe!“ Erika und Rogelio haben das verstanden und sagten: „Uns geschehe!“ Alfredo hat das verstanden und sagte: „Mir geschehe!“ Nirmeen hat das verstanden und sagte: „Mir geschehe!“ Liebe Freunde, ich frage euch: Seid ihr bereit, „ja“ zu sagen? Das Evangelium lehrt uns, dass die Welt nicht besser wäre, wenn es weniger kranke, schwache, gebrechliche oder ältere Menschen gäbe, um die man sich kümmern muss, oder wenn es weniger Sünder gäbe, sondern dass sie dann erst besser wird, wenn es mehr Menschen gibt, die wie diese Freunde die Bereitschaft und den Mut aufbringen, Zukunft hervorzubringen und an die verwandelnde Kraft der Liebe Gottes zu glauben. Wollt ihr „Influencer“ nach der Art Marias sein, die den Mut hatte, „Mir geschehe“ zu sagen? Nur die Liebe macht uns menschlicher und erfüllter, alles andere sind wohlschmeckende, aber leere Placebos.

Teilnehmen an der Liebesgeschichte Jesu in der Welt

Bald werden wir Jesus begegnen, der in der Eucharistie fortlebt. Ihr werdet ihm sicher viel zu sagen und von den verschiedenen Situationen eures Lebens, eurer Familien und eurer Länder zu erzählen haben.

Wenn ihr so von Angesicht zu Angesicht vor ihm steht, dann habt keine Angst, ihm euer Herz zu öffnen, damit er das Feuer seiner Liebe in euch erneuere und euch ermutige, das Leben mit all seiner Schwäche und Begrenztheit, aber auch mit all seiner Größe und Schönheit anzunehmen. Er helfe euch zu entdecken, wie schön es ist, lebendig zu sein.

Scheut euch nicht, ihm zu sagen, dass auch ihr an seiner Liebesgeschichte in der Welt teilnehmen wollt, dass ihr „mehr“ wollt!

Liebe Freunde, ich bitte euch auch, dass ihr in diesem persönlichen Gespräch mit Jesus für mich betet, damit auch ich keine Angst habe, das Leben anzunehmen, dass auch ich die Wurzeln bewahre und mit Maria sage: „Mir geschehe, wie du es gesagt hast!“.

(vatican news – sk)
 

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27. Januar 2019, 09:17