Im Wortlaut: Predigt zum Welttag des Migranten und Flüchtlings
Der Antwortpsalm hat uns daran erinnert, dass der Herr für die Fremden zusammen mit den Witwen und Waisen des Volkes einsteht. Der Psalmist erwähnt ausdrücklich jene Gruppen, die besonders verwundbar, oftmals vergessen und Nachstellungen ausgesetzt sind. Die Fremden, die Witwen und die Waisen sind die Rechtlosen, die Ausgeschlossenen, die Ausgegrenzten, für die der Herr eine besondere Sorge hat. Deshalb verlangt Gott von den Israeliten, ihnen eine spezielle Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.
Im Buch Exodus ermahnt der Herr das Volk, die Witwen und Waisen auf keinerlei Weise auszunutzen, weil er ihren Klageschrei hört (vgl. 22,23). Die gleiche Warnung wird zweimal im Buch Deuteronomium wieder aufgegriffen, wo auch die Fremden zur Gruppe der Schutzbedürftigen gezählt werden (vgl. 24,17; 27,19). Und der Grund dieser Mahnung wird im gleichen Buch deutlich gemacht: der Gott Israels ist derjenige, der »Waisen und Witwen ihr Recht verschafft, der die Fremden liebt und ihnen Nahrung und Kleidung gibt« (vgl.10,18). Diese liebevolle Sorge um die Benachteiligten wird als ein Wesenszug des Gottes Israels dargestellt und wird auch von all denen als moralische Pflicht eingefordert, die seinem Volk angehören wollen.
Deswegen müssen wir den Fremden eine besondere Aufmerksamkeit zuwenden, wie auch den Witwen, den Waisen und all den Verworfenen unserer Zeit. In der Botschaft zum diesjährigen 105. Welttag des Migranten und des Flüchtlings wird das Thema refrainartig wiederholt: „Es geht nicht nur um Migranten“. Und es ist wahr: Es geht nicht nur um Fremde, es geht um alle Bewohner der existentiellen Ränder, die zusammen mit den Migranten und Flüchtlingen Opfer der Wegwerfkultur sind. Der Herr verlangt von uns, ihnen gegenüber die Nächstenliebe in die Tat umzusetzen; er verlangt von uns, ihr Menschsein zusammen mit dem unseren wiederherzustellen, ohne jemanden auszuschließen, ohne irgendeinen außen vor zu lassen.
Aber gleichzeitig mit der Ausübung der Nächstenliebe verlangt der Herr von uns, über die Ungerechtigkeiten nachzudenken, die Ausschluss bewirken, insbesondere über die Privilegien weniger, die, um aufrechterhalten zu werden, zum Nachteil vieler gereichen: »Die heutige Welt ist von Tag zu Tag elitärer und grausamer gegenüber den Ausgeschlossenen. Die Entwicklungsländer werden zugunsten einiger weniger privilegierter Märkte weiterhin ihrer besten natürlichen und menschlichen Ressourcen beraubt. Kriege betreffen nur bestimmte Regionen der Welt, aber die Waffen zu ihrer Herstellung werden in anderen Regionen produziert und verkauft, die sich dann jedoch um die aus diesen Konflikten hervorgehenden Flüchtlinge nicht kümmern wollen. Immer sind es die Kleinen, die den Preis dafür zahlen, die Armen und die am meisten Schutzbedürftigen, die man hindert, am Tisch zu sitzen und denen man die Reste des Banketts übriglässt«. (Botschaft zum 105. Welttag des Migranten und des Flüchtlings).
In diesem Sinne sind die harten Worte des Propheten Amos zu verstehen, die in der ersten Lesung vorgetragen wurden (6,1.4-7). Wehe den Sorglosen und den Schlemmern auf dem Zion, die sich um den Niedergang des Volkes Gottes nicht sorgen, obwohl er allen vor Augen steht. Sie bemerken nicht den Zusammenbruch Israels, weil sie zu beschäftigt damit sind, das Wohlleben beizubehalten und sich die auserlesenen Speisen und die edlen Getränke zu sichern. Es ist beeindruckend, wie diese Mahnworte auch im Abstand von achtundzwanzig Jahrhunderten ihre Aktualität unvermindert bewahren. Denn auch heute bringt uns die Wohlstandskultur dazu, an uns selbst zu denken, sie macht uns unempfindlich gegen die Schreie der anderen; sie führt zur Gleichgültigkeit gegenüber den anderen, ja zur Globalisierung der Gleichgültigkeit (vgl. Predigt in Lampedusa, 8. Juli 2013).
Schließlich laufen auch wir Gefahr, wie jener reiche Mann zu werden, von dem das Evangelium uns erzählt, der sich nicht um den armen Lazarus kümmert, »dessen Leib voller Geschwüre war. Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel« (Lk 16,20-21). Zu sehr darauf bedacht, sich elegante Kleider zu kaufen und köstliche Festmähler zu organisieren, sieht der Reiche aus dem Gleichnis nicht die Leiden des Lazarus. Und auch wir, die wir zu sehr davon eingenommen sind, unseren Wohlstand zu bewahren, laufen Gefahr, unseren Bruder oder unsere Schwester in Not nicht wahrzunehmen.
Als Christen können wir jedoch angesichts des Dramas der alten und neuen Arten der Armut, der dunkelsten Formen der Einsamkeit, der Verachtung und der Diskriminierung derer, die nicht zu „unserer“ Gruppe gehören, nicht gleichgültig bleiben. Wir können angesichts des Elends so vieler Unschuldiger nicht unberührt, mit betäubtem Herzen, bleiben. Wir können nicht umhin zu weinen. Wir können nicht umhin zu reagieren.
Wenn wir Männer und Frauen Gottes sein wollen, wie es der heilige Paulus von Timotheus verlangt, müssen wir unseren Auftrag rein und ohne Tadel erfüllen (vgl. 1 Tim 6,14); und der Auftrag ist, Gott zu lieben und den Nächsten zu lieben. Das kann man nicht trennen! Und den Nächsten wie sich selbst zu lieben bedeutet auch, sich ernsthaft darum zu bemühen, eine gerechtere Welt aufzubauen, wo alle Zugang zu den Gütern der Erde haben, wo alle die Möglichkeit haben, sich als Personen und als Familien zu verwirklichen, und wo die Grundrechte und die Würde für alle gewährleistet sind.
Den Nächsten zu lieben bedeutet, Mitleid mit dem Leiden der Brüder und Schwestern zu haben, sich ihnen zu nähern, ihre Wunden zu berühren, an ihren Erfahrungen Anteil zu haben und so die Zärtlichkeit Gottes ihnen gegenüber konkret zum Ausdruck zu bringen. Es bedeutet, sich zum Nächsten aller geprügelten und auf den Straßen der Welt zurückgelassenen Wanderer zu machen, um ihren Wunden Linderung zu verschaffen und sie zum nächstgelegenen Ort zu bringen, wo sie Aufnahme finden können, um ihren Bedürfnissen nachzukommen.
Dieses heilige Gebot hat Gott seinem Volk gegeben, und er hat es mit dem Blut seines Sohnes Jesus besiegelt, auf dass es Quell des Segens für die ganze Menschheit sei. Denn gemeinsam können wir uns für den Aufbau der Menschheitsfamilie entsprechend dem ursprünglichen Plan einsetzen, der uns in Jesus Christus offenbart wurde: Wir alle sind Geschwister, Kinder des einzigen Vaters.
Heute vertrauen wir die Migranten und Flüchtlinge zusammen mit den Bewohnern an den Rändern der Welt der mütterlichen Liebe Marias, der Mutter vom Weg, an und denen, die sich zu ihren Weggefährten machen.
(vatican news)
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