Im Wortlaut: Papst Franziskus beim Treffen mit Jugendlichen in Tokio
APOSTOLISCHE REISE NACH JAPAN
ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS
Begegnung mit den Jugendlichen
Tokio, Marienkathedrale, 25. November 2019
Liebe junge Freunde,
danke, dass ihr gekommen seid und dass ihr hier seid. Eure Energie und Begeisterung zu sehen und zu hören macht mir Freude und Hoffnung. Dafür bin ich euch dankbar. Ich danke auch Leonardo, Miki und Masako für ihre Glaubenszeugnisse. Es erfordert großen Mut, das, was man im Herzen trägt, mit anderen zu teilen, so wie ihr es getan habt. Ich bin sicher, dass eure Beiträge bei vielen eurer hier anwesenden Altersgenossen Zustimmung gefunden haben. Ich danke euch! Ich weiß, dass unter euch auch junge Menschen anderer Nationalitäten sind, einige von ihnen suchen Zuflucht in diesem Land. Lasst uns lernen, gemeinsam die Gesellschaft aufzubauen, die wir uns für die Zukunft wünschen.
Wenn ich euch anschaue, kann ich die kulturelle und religiöse Vielfalt der jungen Menschen sehen, die heute in Japan leben, und etwas von der Schönheit, die eure Generation der Zukunft zu bieten hat. Eure Freundschaft untereinander und eure Gegenwart hier erinnert alle daran, dass die Zukunft nicht „einfarbig“ ist, sondern dass wir, wenn wir den Mut dazu haben, sie in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Beiträge betrachten können, die jeder einzelne leisten kann. Wie sehr muss unsere Menschheitsfamilie lernen, in Harmonie und Frieden zusammenzuleben, ohne dass wir dazu alle gleich sein müssen! Wie sehr müssen wir in der Brüderlichkeit wachsen, in der Aufmerksamkeit für andere und in der Achtung vor unterschiedlichen Erfahrungen und Standpunkten. Diese Begegnung ist ein Fest, weil wir damit zum Ausdruck bringen, dass die Kultur der Begegnung möglich ist, dass sie keine Utopie ist, und dass ihr jungen Menschen ein besonderes Gespür habt, diese Kultur der Begegnung voranzubringen.
Eure Fragen, die ihr gestellt habt, haben mich berührt, denn sie spiegeln eure konkreten Erfahrungen wider, aber auch eure Hoffnungen und Träume für die Zukunft.
Danke, Leonardo, dass du deine Erfahrung mit Mobbing und Diskriminierung mit uns geteilt hast. Immer mehr junge Menschen finden den Mut, über Erfahrungen wie deine zu sprechen. Das Grausamste an Mobbing in der Schule ist, dass es unseren Geist und unser Selbstwertgefühl gerade in einer Zeit verletzt, in der wir am meisten Kraft brauchen, um uns selbst zu akzeptieren und uns neuen Herausforderungen im Leben zu stellen. Manchmal werfen sich die Opfer von Mobbing sogar selbst vor, „leichte“ Ziele zu sein. Möglicherweise kommen sie sich vor, als seien sie gescheitert, schwach und wertlos, und geraten in eine sehr dramatische Situation: „Wenn ich nur anders wäre ...“ Paradoxerweise sind jedoch gerade die Belästiger die eigentlich Schwachen, weil sie denken, dass sie sich nur selbstbehaupten können, wenn sie andere verletzen. Manchmal greifen sie irgendjemanden an, den sie für anders halten und als eine Bedrohung betrachten. Im Grunde haben diese Belästiger Angst, sie sind Angsthasen, die sich hinter ihrer scheinbaren Stärke verstecken. Wir alle müssen uns gegen diese Kultur des Mobbings zusammenschließen und lernen zu sagen: Es reicht! Das ist eine Seuche und die beste Medizin dagegen könnt ihr selbst finden. Es reicht nicht aus, dass Erziehungseinrichtungen oder die Erwachsenen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um diese Tragödie zu verhindern, es ist vielmehr notwendig, dass ihr euch als Freunde und Kameraden zusammentut und sagt: Nein! Das ist schlecht! Es gibt keine wirkungsvollere Waffe, um sich vor diesen Aktionen zu verteidigen, als vor Kameraden und Freunden „aufzustehen“ und zu sagen: „Was du da tust, ist kein Spaß.“
Die Angst ist immer die Feindin des Guten, denn sie ist eine Feindin der Liebe und des Friedens. Die großen Religionen lehren Toleranz, Harmonie und Barmherzigkeit; sie lehren nicht Angst, Spaltung und Konflikt. Jesus sagte seinen Jüngern immer, dass sie keine Angst haben sollen. Warum? Weil die Liebe die Furcht vertreibt (vgl. 1 Joh 4,18), wenn wir Gott und unsere Brüder und Schwestern lieben. Viele von uns – daran hat Leonardo erinnert – lässt der Blick auf das Leben Jesu Trost finden, denn Jesus selbst wusste, was es bedeutet, verachtet und abgelehnt zu werden, bis hin zur Kreuzigung. Er wusste auch, was es bedeutet, ein Fremder, ein Migrant zu sein, einer, der „anders“ ist. In gewisser Weise war Jesus der größte „Außenseiter“, ein Außenseiter voller Leben, voller Hingabe. Leonardo, wir können immer auf all das schauen, was uns fehlt, aber wir können auch das Leben entdecken, das wir geben und schenken können. Die Welt braucht dich, vergiss das nie; der Herr braucht dich, damit du so vielen, die heute um Hilfe bitten, Mut machen und ihnen aufhelfen kannst.
Dazu gehört auch die Entwicklung einer sehr wichtigen, aber unterschätzten Qualität, nämlich der Fähigkeit, anderen Zeit zu widmen, ihnen zuzuhören, mit ihnen zu teilen, sie zu verstehen. Nur so werden wir unsere Erfahrungen und Wunden einer Liebe öffnen, die uns verwandeln und die Welt um uns herum verändern kann. Wenn wir den Menschen nicht unsere Zeit schenken und uns diese „Zeit sparen“, werden wir sie mit vielen anderen Dingen vertun, die uns am Ende des Tages leer und benommen zurücklassen – wie eine Verdauungsstörung, würde man in meiner Heimat sagen. Verbringt also bitte Zeit mit eurer Familie und euren Freunden, aber auch mit Gott, indem ihr betet und meditiert. Und wenn es euch schwer fällt zu beten, gebt nicht auf. Ein weiser Seelenführer sagte einmal: Das Gebet besteht hauptsächlich darin, zu bleiben. Halt inne, schaffe Raum für Gott, lass dich von ihm ansehen und er wird dich mit seinem Frieden erfüllen.
Genau das hat Miki uns gesagt: Er hat gefragt, wie junge Menschen in einer hektischen Gesellschaft, die nur darauf aus ist, wettbewerbsfähig und produktiv zu sein, Platz für Gott schaffen können. Nicht selten kann man beobachten, dass ein Mensch, eine Gemeinschaft oder sogar eine ganze Gesellschaft äußerlich bestens entwickelt ist, dass aber ihr Innenleben arm und verkümmert, ihre Seele und ihre Vitalität erloschen sind. Alles wird langweilig, sie träumen nicht mehr, sie lachen nicht, sie spielen nicht, sie haben keinen Sinn für Wunder und Überraschungen. Sie sind wie Zombies, ihre Herzen haben aufgehört zu schlagen, weil sie nicht in der Lage waren, das Leben mit anderen zu feiern. Wie viele Menschen auf der Welt sind materiell reich, aber leben als Sklaven in enormer Einsamkeit! Ich denke an die Einsamkeit, die so viele Menschen, Jung und Alt, in unseren wohlhabenden, aber oft so anonymen Gesellschaften erleben. Mutter Teresa, die unter den Ärmsten der Armen wirkte, sagte einmal etwas Prophetisches: „Die Einsamkeit und das Gefühl, nicht geliebt zu werden, ist die schrecklichste Armut.“
Die Bekämpfung dieser spirituellen Armut ist eine Aufgabe, zu der wir alle gerufen sind, und euch fällt dabei eine besondere Rolle zu, denn sie erfordert eine große Umstellung unserer Prioritäten und Entscheidungen. Es geht unter anderem darum, zu erkennen, dass das Wichtigste nicht das ist, was ich besitze oder was ich kaufen kann, sondern mit wem ich es teilen kann. Es ist nicht so wichtig, sich auf die Frage zu konzentrieren, warum ich lebe, sondern für wen ich lebe. Die Dinge sind wichtig, aber die Menschen sind unverzichtbar; ohne sie verlieren wir etwas Entscheidendes unseres Menschseins, unser Gesicht und unseren Namen und werden zu einem zusätzlichen Objekt, dem vielleicht besten von allen, aber eben doch nur einem Objekt. Im Buch Jesus Sirach steht: »Ein treuer Freund ist ein starker Schutz, wer ihn findet, hat einen Schatz gefunden« (6,14). Deshalb ist es immer wichtig, sich zu fragen: »Für wen bin ich da? Du bist für Gott da, ohne Zweifel. Aber er hat gewollt, dass du auch für die anderen da bist, und hat viele Qualitäten, Neigungen, Gaben und Charismen in dich hineingelegt, die nicht für dich sind, sondern für die anderen« (Apostolisches Schreiben Christus vivit, 286).
Und das ist etwas Schönes, das du der Welt anbieten kannst. Seid Zeugen dafür, dass soziale Freundschaft möglich ist! Bezeugt die Hoffnung auf eine Zukunft, die auf einer Kultur der Begegnung, der Akzeptanz, der Brüderlichkeit und des Respekts vor der Würde eines jeden Menschen basiert, insbesondere derjenigen, die am meisten Liebe und Verständnis brauchen! Ohne das Bedürfnis, jemanden anzugreifen oder zu verachten, sondern indem man lernt, den Reichtum der anderen zu erkennen.
Um physisch am Leben zu bleiben, müssen wir atmen; dies geschieht, ohne dass wir es merken, automatisch. Um im vollen und weiten Sinne des Wortes am Leben zu bleiben, müssen wir auch lernen, geistlich zu atmen, durch Gebet und Meditation, in einer inneren Bewegung, durch die wir auf Gott hören können, der in den Tiefen unserer Herzen zu uns spricht. Und wir brauchen auch eine äußere Bewegung, durch die wir uns den anderen in Taten der Liebe und im Dienen nähern. Diese doppelte Bewegung erlaubt es uns, zu wachsen und nicht nur zu erkennen, dass Gott uns geliebt hat, sondern dass er jedem von uns eine Mission, eine einzigartige Berufung anvertraut hat und dass wir sie in dem Maße entdecken, wie wir uns anderen, konkreten Menschen hingeben.
Masako hat zu uns über diese Dinge aus seiner Erfahrung als Schüler und Lehrer gesprochen. Er fragte, wie wir jungen Menschen helfen können, sich ihres Wertes und ihrer Bedeutung bewusst zu werden. Noch einmal möchte ich sagen, dass wir, um zu wachsen und unsere Identität, Güte und innere Schönheit zu entdecken, mehr brauchen als einen Spiegel. Es gibt viele Erfindungen, aber Gott sei Dank gibt es immer noch keine Seelen-Selfies. Um glücklich zu sein, müssen wir andere um Hilfe bitten; ein anderer muss dieses Foto machen, d.h. es geht darum, aus uns selbst herausgehen und auf die anderen zuzugehen, insbesondere die Bedürftigsten (vgl. ebd., 171). Insbesondere bitte ich euch, freundschaftlich und mit offenen Armen diejenigen willkommen zu heißen, die in eurem Land Zuflucht suchen, nachdem sie oft viel Leid erfahren mussten. Hier bei uns ist eine kleine Gruppe von Flüchtlingen; eure Gastfreundschaft wird bezeugen, dass sie, wenngleich sie für viele Fremde sind, sich als eure Brüder und Schwestern betrachten können.
Ein weiser Lehrer sagte einmal, dass der Schlüssel zum Wachsen in der Weisheit nicht so sehr darin besteht, die richtigen Antworten zu finden, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Nicht alle von euch sind Lehrer wie Masako, aber ich hoffe, ihr könnt euch selbst einige gute Fragen stellen, euch selbst in Frage stellen und anderen helfen, gute, provokante Fragen über den Sinn des Lebens zu stellen und wie wir eine bessere Zukunft für diejenigen aufbauen können, die nach uns kommen.
Liebe Jugendliche, vielen Dank für eure freundliche Aufmerksamkeit, für all die Zeit, die ihr mir geschenkt habt und dafür, dass ihr etwas von eurem Leben mitgeteilt habt. Lasst euch nicht verwirren und betäuben, gebt euren Träumen Raum und wagt es, große Horizonte zu betrachten, auf das zu schauen, was euch erwartet, wenn ihr den Mut habt, eure Träume gemeinsam zu verwirklichen. Japan braucht euch, die Welt braucht euch, wach und großzügig, freudig und enthusiastisch, fähig, ein Zuhause für alle zu errichten. Ich bete, dass ihr in geistlicher Weisheit wachst und in diesem Leben den Weg zum wahren Glück entdeckt. Ich werde euch in meinen Gebeten nicht vergessen, und ich bitte auch euch, für mich zu beten.
Euch allen, euren Familien und Freunden, wünsche ich alles Gute und segne euch. Danke!
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