Enzyklika „Fratelli tutti“: Eine Zusammenfassung
Isabella Piro – Vatikanstadt
Mit welchen großen Idealen, aber auch auf welchem konkreten Weg lässt sich eine gerechtere und geschwisterlichere Welt aufbauen, was die privaten, die sozialen, aber die politischen oder die internationalen Beziehungen betrifft? Das ist die Frage, auf die „Fratelli tutti“ zu antworten versucht. Der Papst stuft sie selbst als „Sozialenzyklika“ ein (6). Sie entlehnt ihren Titel den Ermahnungen des hl. Franz von Assisi, der sich mit diesen Worten „an alle Brüder und Schwestern“ wandte, „um ihnen eine dem Evangelium gemäße Lebensweise darzulegen“ (1).
„Von einer einzigen Menschheit träumen“
Es geht dem päpstlichen Lehrschreiben darum, das weltweite Verlangen nach Geschwisterlichkeit und sozialer Freundschaft zu fördern. Im Hintergrund steht die Corona-Pandemie, die, wie Franziskus formuliert, „unerwartet ausbrach, als ich dieses Schreiben verfasste“ (7). Der globale Gesundheitsnotstand habe einmal mehr gezeigt, dass niemand sich allein rette und dass jetzt wirklich die Stunde gekommen sei, um „von einer einzigen Menschheit zu träumen“ (8), in der wir „alle Geschwister“ sind.
Gegen eine „Kultur der Mauern“
„Die Schatten einer abgeschotteten Welt“ – so heißt das erste der insgesamt acht Kapitel, in dem das Dokument sich mit den negativen Seiten unserer Epoche beschäftigt. Da geht es um Manipulation und Entstellung von Begriffen wie Demokratie, Freiheit oder Gerechtigkeit; um Egoismus und Desinteresse am Gemeinwohl; um das Vorherrschen einer Logik des Marktes, die auf Profit aus ist und vermeintlich unnütze Menschen an den Rand drängt; um Arbeitslosigkeit, Rassismus, Armut; um rechtliche Ungleichheit, Sklaverei, Menschenhandel, Zwangsabtreibungen und Organhandel (10-24). Der Papst unterstreicht, dass diese globalen Probleme auch ein globales Handeln erforderlich machen, und wendet sich gegen eine „Kultur der Mauern“, die zu einer Blüte des organisierten Verbrechens, zu Angst und Einsamkeit führen (27-28).
All diesen Schatten stellt die Enzyklika dann aber ein leuchtendes Beispiel entgegen: das des barmherzigen Samariters, mit dem sich das zweite Kapitel („Ein Fremder auf dem Weg“) beschäftigt. Der Papst arbeitet heraus, dass in einer kranken Gesellschaft, die dem Schmerz den Rücken kehrt und sich um die Schwachen und Verletzlichen nicht kümmert (64-65), wir alle dazu aufgerufen sind, uns um unsere Nächsten zu kümmern (81) und dabei Vorurteile und Privatinteressen beiseite zu lassen. Wir alle sind, wie Franziskus betont, mitverantwortlich für den Aufbau einer Gesellschaft, die alle Hilfsbedürftigen zu integrieren und zu unterstützen versteht (77). Die Liebe baut Brücken, und „wir sind für die Liebe geschaffen“ (88), schreibt der Papst, um vor allem die Christen dazu zu ermutigen, Christus in jedem ausgeschlossenen Menschen zu erkennen (85).
„Eine offene Welt denken und schaffen“
Die Vorstellung, dass Liebe „eine universale Dimension“ (83) haben sollte, wird im dritten Kapitel („Eine offene Welt denken und schaffen“), weitergedreht. Franziskus ruft uns dazu auf, aus uns herauszugehen, „um eine vollere Existenz in einem anderen zu finden“ (88), und uns für andere zu öffnen, so dass eine „universale Gemeinschaft“ denkbar wird. Das menschliche Leben wird, wie die Enzyklika formuliert, in spiritueller Hinsicht daran gemessen, ob uns die Liebe dazu antreibt, das Beste für die anderen zu suchen (92-93). Weil der Sinn für Solidarität und Geschwisterlichkeit im Raum der Familie entsteht, sind Familien mit ihrer „vorrangigen und unabdingbaren Erziehungsaufgabe“ (114) besonders zu schützen und zu respektieren.
Niemandem kann das Recht auf ein Leben in Würde verweigert werden, fährt der Papst fort, und weil Rechte keine Grenzen kennen, darf keiner ausgeschlossen werden, ganz egal wo er herkommt (121). Darum ruft Franziskus nach einer „Ethik der internationalen Beziehungen“ (126) und erinnert daran, dass kein Land sich gegen Fremde abschotten oder Fremden, die bedürftig sind, Hilfe verweigern darf. Das Recht auf Privatbesitz nennt er dem Prinzip der „universellen Bestimmung der geschaffenen Güter“ nachgeordnet (120). Auch in Sachen Auslandsschulden wird die Enzyklika deutlich: Natürlich müssten diese Schulden prinzipiell bezahlt werden, doch dürfe das nicht Wachstum und Erhalt der ärmeren Länder gefährden (126).
Migranten nicht abweisen
Dem Thema Migration sind ein Teil des zweiten und das ganze vierte Kapitel („Ein offenes Herz für die ganze Welt“) gewidmet: „Zerrissene Leben“ (37) auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Naturkatastrophen, skrupellosen Menschenhändlern. Migranten sollen aufgenommen, geschützt, gefördert und integriert werden, fordert der Papst. Dabei gilt es, in den Ankunftsländern die richtige Balance zwischen dem Schutz der Rechte der Bürger und einer Aufnahme und Hilfe für Migranten zu finden (38-40). Was Menschen, die vor schweren humanitären Krisen fliehen, betrifft, zählt der Papst einige wesentliche Punkte auf: eine vereinfachte Visa-Erteilung; das Öffnen humanitärer Korridore; ein Bereitstellen von Wohnraum, Sicherheit und Basis-Dienstleistungen; Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten; Familienzusammenführungen; Schutz von Minderjährigen und die Garantie der Religionsfreiheit. Vor allem aber hält das Dokument eine global governance im Migrationsbereich für dringlich, die im Namen einer solidarischen Entwicklung aller Völker über die einzelnen Notlagen hinausgehen und langfristige Projekte auf den Weg bringen sollte (129-132).
Um „Die beste Politik“ kreist das fünfte Kapitel. Gemeint ist eine Politik, die man als eine Form der Nächstenliebe bezeichnen kann, weil sie sich in den Dienst am Gemeinwohl (180) stellt und einen offenen, dialogischen Volks-Begriff hat (160). Damit stellt sich Franziskus dem Populismus entgegen, der den durchaus legitimen Begriff ‚Volk‘ zu Instrumentalisierungen aus Eigeninteressen missbraucht (159). „Die beste Politik“ ist außerdem für Franziskus die, die die Arbeit, diese „unverzichtbare Dimension des gesellschaftlichen Lebens“ (162), schützt und jedem Einzelnen die Möglichkeit gibt, das Beste aus seinen Möglichkeiten zu machen. Und die wirkliche Strategie gegen Armut besteht nach Darstellung der Enzyklika darin, Benachteiligte so zu fördern, dass sie zu Schmieden ihres eigenen Glückes werden können (187).
Darüber hinaus ist es Aufgabe der Politik, Antworten auf alles zu finden, was die grundlegenden Menschenrechte beeinträchtigt: soziale Ausschließung, Organ-, Waffen- und Drogenhandel, sexuelle Ausbeutung, Sklavenarbeit, Terrorismus und organisierte Kriminalität. Mit Verve ruft der Papst dazu auf, dem Menschenhandel, dieser „Schande für die Menschheit“, und dem Hunger (der angesichts des Rechts jedes Menschen auf Ernährung als „ein Verbrechen“ beschrieben wird) endlich ein Ende zu machen (188-189).
„Der Markt allein löst nicht alle Probleme“
Die Politik, die wir heute brauchen, ist nach Ansicht von Franziskus eine Politik, die sich auf Menschenwürde konzentriert und sich nicht vor dem Finanzsektor beugt, denn „der Markt allein löst nicht alle Probleme“, wie das von den Finanzspekulationen ausgelöste „Vernichtungswerk“ gezeigt hat (168). Umso größere Bedeutung kommt darum Volksbewegungen zu: Dieser „Strom moralischer Energie“ muss auf koordinierte Weise in die Gesellschaft mit einbezogen werden – so dass man, wie der Papst formuliert, von einer Politik „gegenüber“ den Armen zu einer Politik „mit“ und „der“ Armen gelangt (169).
Für eine UNO-Reform
Ein weiterer Wunsch, den die Enzyklika ausspricht, betrifft die Reform der Vereinten Nationen: Angesichts der Vorherrschaft der wirtschaftlichen Komponente sollten sie das Bild einer „Familie der Nationen“ konkret werden lassen, indem sie für das Gemeinwohl, für eine Ausrottung der Armut und den Schutz der Menschenrechte eintreten. Durch unermüdlichen Rückgriff auf Verhandeln und Vermitteln sollten sie außerdem dafür sorgen, dass die Stärke des Rechts die Oberhand über das Recht des Stärkeren gewinnt (173-175).
Das sechste Kapitel („Dialog und soziale Freundschaft“) zeichnet schließlich das Leben als „Kunst der Begegnung“ mit allen, auch mit den Menschen an der Peripherie des Planeten und mit eingeborenen Völkern, denn „man kann von jedem etwas lernen, niemand ist nutzlos“ (215). Der Papst spricht vom „Wunder“ der Freundlichkeit, die es wieder neu zu üben gelte, weil sie „wie Sterne in der Dunkelheit“ leuchtet und „uns befreit von der Grausamkeit, von der Ängstlichkeit und von der zerstreuten Bedürfnisbefriedigung“, die heute so häufig sind (222-224).
Die Shoah niemals vergessen
Das siebte Kapitel hingegen („Wege zu einer neuen Begegnung“) kommt auf den Wert und die Förderung des Friedens zu sprechen: Friede ist, wie der Papst unterstreicht, „proaktiv“, ein „Handwerk“, bei dem jeder das Seine beiträgt und das nie an ein Ende kommt (227-232). Mit dem Frieden hängt das Vergeben zusammen: Alle verdienen Liebe, ohne Ausnahme, so die Enzyklika, aber die Liebe zu einem Unterdrücker bedeutet in dieser Lesart, ihm nicht zu erlauben, dass er die Menschen noch länger unterdrückt (241-242). Vergebung bedeutet nicht Straflosigkeit, sondern Gerechtigkeit und Erinnerung; es bedeutet nicht Vergessen, sondern Verzicht auf die zerstörerische Kraft des Bösen und auf die Rache. Nie dürfe man Greuel wie die Shoah, die Atombomben-Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die ethnischen Verfolgungen und Massaker vergessen, fordert der Papst; an sie immer wieder neu zu erinnern, verhelfe dazu, nicht abzustumpfen und die Flamme des kollektiven Gewissens am Brennen zu halten. Zugleich ist es aber auch wichtig, sich an das Gute zu erinnern. (246-252)
Auch auf den Krieg („eine ständige Bedrohung“) kommt das siebte Kapitel zu sprechen: Er stelle eine „Negierung aller Rechte“ dar, „ein Versagen der Politik und der Menschheit“, „eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen“. Angesichts von nuklearen, chemischen und biologischen Waffen, die sich gegen Unschuldige richten, kann man heute nicht mehr, wie das in der Vergangenheit der Fall war, von einem „gerechten Krieg“ sprechen, sondern muss dem ein „Nie wieder Krieg!“ entgegenhalten. Die völlige Vernichtung aller Atomwaffen ist „eine moralische und humanitäre Pflicht“ – mit dem Geld, das jetzt für Rüstung ausgegeben wird, sollte eher ein Weltfonds zur Ausrottung des Hungers eingerichtet werden (255-262).
Nein zur Todesstrafe
Nicht weniger entschieden äußert sich Franziskus zur Todesstrafe: Sie ist nicht akzeptabel und sollte weltweit abgeschafft werden. „Nicht einmal der Mörder verliert seine Personenwürde, und Gott selber leistet dafür Gewähr“ (263-269). Der Papst betont, dass die „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ (283) zu achten sei, wo auch immer „Teile der Menschheit geopfert werden zu können“ scheinen, etwa Ungeborene, Arme, Behinderte, alte Menschen (18).
Das achte und letzte Kapitel („Die Religionen im Dienst an der Geschwisterlichkeit in der Welt“) bekräftigt, dass Terrorismus sich nicht auf Religion berufen darf, sondern in Wirklichkeit auf irrtümlichen Interpretationen religiöser Texte beruht und auch mit Hunger, Armut, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu tun hat (282-283). Also ist ein Weg des Friedens unter den Religionen möglich. Dafür muss aber die Religionsfreiheit, die für alle Glaubenden fundamental ist, respektiert werden (279). Die Enzyklika geht auch auf die Rolle der Kirche ein: Sie verlegt ihre Mission nicht in den privaten Bereich, und auch wenn sie selbst nicht Politik macht, verzichtet sie doch nicht auf die politische Dimension, auf die Aufmerksamkeit für das Gemeinwohl und auf die Sorge für eine integrale menschliche Entwicklung, so wie es den Prinzipien des Evangeliums entspricht (276-278).
Zu guter Letzt zitiert Franziskus das „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen“, das er am 4. Februar 2019 zusammen mit dem Großimam der al-Azhar-Universität, Ahmed al-Tayyib, in Abu Dhabi unterzeichnet hat. Diesem grundlegenden interreligiösen Text entnimmt der Papst den Appell, dass um der Geschwisterlichkeit aller Menschen willen immer grundsätzlich auf den Dialog als Weg, die Zusammenarbeit als Stil und das Wissen umeinander als Methode und Kriterium gesetzt werden solle (285).
(vatican news – sk)
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