Wortlaut: Rede von Papst Franziskus bei Friedenstreffen der Religionen
Sämtliche Wortmeldungen des Papstes werden in ihrer offiziellen Fassung auf der Internetseite des Vatikans veröffentlicht.
„Liebe Brüder und Schwestern!
Ich grüße Sie und danke Ihnen allen, den Oberhäuptern der Kirchen, den Politikern und den Vertretern der großen Weltreligionen. Es ist schön, dass wir hier zusammen sind – im Herzen Roms – und dabei die Menschen, die unserer Fürsorge anvertraut sind, im Herzen tragen. Besonders wichtig ist es, dass wir beten und uns hinsichtlich unserer Sorgen um Gegenwart und Zukunft unserer Welt offen und beherzt austauschen. Viele Gläubige sind in diesen Tagen zusammengekommen und haben gezeigt, dass das Gebet jene demütige Kraft ist, die Frieden schenkt und die Herzen von Hass befreit. Bei verschiedenen Treffen wurde auch die Überzeugung geäußert, dass wir die Beziehungen zwischen den Völkern und zwischen den Völkern und der Erde ändern müssen. Denn hier und heute träumen wir gemeinsam von einer Geschwisterlichkeit unter den Völkern und der Zukunft der Erde.
Der Mut des Mitgefühls
Geschwisterlichkeit unter den Völkern. Wir sagen dies vor dem Hintergrund des Kolosseums. Dieses Amphitheater war vor langer Zeit ein Ort brutaler Massenunterhaltung: Kämpfe zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Tier. Ein Spektakel wie ein Bruderkrieg, ein tödliches Spiel mit dem Leben vieler Menschen. Aber auch heute erleben wir Gewalt und Krieg, Brüder und Schwestern, die einander töten, fast so, als wäre es ein Spiel, das wir aus der Ferne beobachten, gleichgültig und in der Überzeugung, dass es uns nie betreffen wird. Der Schmerz der anderen drängt nicht zur Eile. Ebenso wenig wie das Leid der Gefallenen, der Migranten, der in Kriege hineingezogenen Kinder, die der Unbeschwertheit einer spielerischen Kindheit beraubt sind. Aber mit dem Leben von Völkern und mit dem Leben von Kindern kann man nicht spielen. Man kann nicht gleichgültig bleiben. Im Gegenteil, wir müssen Empathie zeigen und die Nöte, Kämpfe und Schwächen der Menschengemeinschaft, der auch wir angehören, anerkennen. Wir sollten so denken: „Das alles betrifft mich, das hätte auch hier passieren können, auch mir.“ Heute, in einer globalisierten Gesellschaft, die den Schmerz zwar zum Spektakel macht, aber kein Mitleid zeigt, müssen wir „Mitgefühl aufbauen“. Den Mitmenschen anhören, seine Leiden zu unseren eigenen machen, sein Gesicht kennen. Das ist der wahre Mut, der Mut des Mitgefühls, der uns befähigt, über ein beruhigtes Leben hinauszugehen, über ein Das-ist-nicht-mein-Problem und ein Das-geht-mich-nichts-an. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Leben der Völker zu einem Spiel der Mächtigen wird. Nein, das Leben der Menschen ist kein Spiel, es ist ernst und geht alle an; es darf nicht den Interessen einiger weniger oder parteiischen und nationalistischen Bestrebungen überlassen bleiben.
Der Krieg treibt sein Spiel mit Menschenleben. Ebenso die Gewalt, der tragische und immer blühende Waffenhandel, der sich oft im Verborgenen abspielt und von unterirdischen Geldströmen gespeist wird. Ich möchte bekräftigen: »Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen« (Enzyklika Fratelli tutti, 261). Wir müssen aufhören, den Krieg aus der distanzierten Perspektive einer Reportage zu akzeptieren, und uns bemühen, ihn mit den Augen der Menschen zu sehen. Vor zwei Jahren haben wir uns in Abu Dhabi zusammen mit unserem lieben Bruder, dem Großimam von Al Azhar, »im Namen der Völker, die der Sicherheit, des Friedens und des gemeinsamen Zusammenlebens entbehren und Opfer von Zerstörung, Niedergang und Krieg wurden«, für die Geschwisterlichkeit aller Menschen und ein friedliches Zusammenleben ausgesprochen (Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt, 4. Februar 2019). Als Vertreter der Religionen sind wir aufgerufen, nicht den Verlockungen der weltlichen Macht nachzugeben, sondern zur Stimme derer zu werden, die keine Stimme haben, zur Stütze für die Leidenden, zu Anwälten der Unterdrückten, der Opfer des Hasses, die von den Menschen auf der Erde verworfen werden, aber wertvoll sind vor dem, der im Himmel wohnt. Heute haben sie Angst, weil in zu vielen Teilen der Welt anstelle von Dialog und Zusammenarbeit die militärische Konfrontation als entscheidendes Durchsetzungsinstrument wieder an Stärke gewinnt.
Ich möchte daher die Mahnung wiederholen, die ich in Abu Dhabi ausgesprochen habe. Die Religionen haben »in dieser heiklen geschichtlichen Situation eine Aufgabe, die nicht mehr aufgeschoben werden kann: einen aktiven Beitrag zur Entmilitarisierung des menschlichen Herzens zu leisten« (Ansprache beim Interreligiösen Treffen, 4. Februar 2019). Es liegt in unserer Verantwortung, liebe Brüder und Schwestern im Glauben, dazu beizutragen, dass der Hass aus den Herzen verschwindet und jede Form von Gewalt verurteilt wird. Mit klaren Worten ermutigen wir dazu, die Waffen niederzulegen, die Militärausgaben zu reduzieren, um humanitäre Bedürfnisse zu befriedigen und Werkzeuge des Todes in Werkzeuge des Lebens zu verwandeln. Dies sollen keine leeren Worte sein, sondern eindringliche Forderungen gegen Krieg und Tod, die wir um unserer Brüder willen und im Namen dessen stellen, der der Friede und das Leben ist. Weniger Waffen und mehr Lebensmittel, weniger Heuchelei und mehr Transparenz, mehr gerecht verteilte Impfstoffe und weniger unbedacht verkaufte Waffen. Die Zeiten verlangen von uns, dass wir unsere Stimme für viele Gläubigen erheben, einfache und unbewaffnete Menschen, die der Gewalt überdrüssig sind, auf dass diejenigen, die Verantwortung für das Gemeinwohl tragen, sich nicht nur dafür einsetzen, Kriege und Terrorismus zu verurteilen, sondern auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie nicht wieder aufflammen.
Damit die Völker geschwisterlich zusammenleben, muss das Gebet unaufhörlich zum Himmel steigen, und ein Wort muss auf der Erde immer weiter erklingen: Frieden. Der heilige Johannes Paul II., der 1986 in Assisi als erster die Religionen zum gemeinsamen Gebet für den Frieden einlud, träumte von einem gemeinsamen Weg der Gläubigen, der sich von diesem Ereignis an in die Zukunft hinein fortsetzen sollte. Liebe Freunde, wir sind auf diesem Weg, jeder mit seiner eigenen religiösen Identität, um im Namen Gottes den Frieden zu kultivieren, indem wir uns als Brüder und Schwestern anerkennen. Papst Johannes Paul II. wies uns auf diese Aufgabe hin und sagte: »Der Frieden wartet auf seine Propheten. Der Friede wartet auf seine Erbauer« (Ansprache des Papstes zum Abschluss des Weltgebetstags der Religionen für den Frieden in Assisi (27. Oktober 1986). Manchen erschien das wie leerer Optimismus. Doch im Laufe der Jahre wuchs das gegenseitige Verständnis, und es kam zu Dialogprozessen zwischen den verschiedenen religiösen Welten, die dann Wege des Friedens eröffneten. Dies ist der richtige Weg. Wenn es auch diejenigen gibt, die spalten und Konflikte heraufbeschwören wollen, glauben wir daran, dass es wichtig ist, gemeinsam für den Frieden zu kämpfen: miteinander, nie wieder gegeneinander.
Brüder und Schwestern, unser Weg verlangt von uns eine fortwährende Reinigung des Herzens. Franz von Assisi forderte die Seinen auf, in den Anderen Geschwister zu sehen, »insofern sie von dem einen Schöpfer geschaffen sind«, und er empfahl: »Wenn ihr mit dem Mund den Frieden verkündet, so versichert euch, ob ihr ihn auch, ja noch mehr, in eurem Herzen habt« (Legende der drei Gefährten, XIV,5). Frieden ist nicht in erster Linie eine Vereinbarung, die man aushandelt, oder ein Wert, über den man spricht, sondern eine Herzenshaltung. Sie wird aus der Gerechtigkeit geboren, sie wächst in der Geschwisterlichkeit, sie lebt von der Unentgeltlichkeit. Sie treibt uns an, »der Wahrheit zu dienen und ohne Furcht und ohne Verstellung das Böse anzuprangern, wenn es böse ist, auch und gerade dann, wenn es von denen begangen wird, die sich zu demselben Glauben bekennen wie wir« (Botschaft an die Teilnehmer G20 Interfaith Forum 2021, 7. September 2021). Bitte, lasst uns im Namen des Friedens in jeder religiösen Tradition die fundamentalistische Versuchung entschärfen, jede Neigung, den Bruder zum Feind zu machen. Während viele in Feindseligkeiten, Spaltung und parteipolitische Spiele verwickelt sind, wollen wir uns an den Ausspruch von Imam Ali halten: „Es gibt zwei Arten von Menschen: entweder sind sie deine Brüder und Schwestern im Glauben oder sie sind deine Mitmenschen.“
Geschwisterlichkeit unter den Völkern heißt vom Frieden zu träumen. Aber dieser Traum vom Frieden ist heute mit einem anderen Traum verbunden, nämlich dem von der Zukunft der Erde. Es geht um die Verpflichtung zur Bewahrung der Schöpfung und des gemeinsamen Hauses, das wir den jungen Menschen hinterlassen werden. Die Religionen, die eine kontemplative und nicht ausbeuterische Haltung kultivieren, sind aufgerufen, auf das Stöhnen der Mutter Erde zu hören, die Gewalt erleidet. Unser lieber Bruder, Patriarch Bartholomäus, der hier anwesend ist, hat uns geholfen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass ein Verbrechen gegen die Natur ein Verbrechen gegen uns selbst und eine Sünde gegen Gott ist (vgl. Rede in Santa Barbara, 8. November 1997, zitiert in der Enzyklika Laudato si', 8).
Ich möchte noch einmal bekräftigen, was uns die Pandemie gezeigt hat, nämlich, dass wir in einer kranken Welt nicht dauerhaft gesund bleiben können. In letzter Zeit sind viele an Vergesslichkeit erkrankt, an Vergesslichkeit gegenüber Gott und gegenüber den Brüdern und Schwestern. Dies hat zu einem ungezügelten Wettlauf um individuelle Unabhängigkeit geführt, der aufgrund unersättlicher Gier entgleist ist, deren Narben die Erde, auf der wir herumtrampeln, trägt, während die Luft, die wir atmen, voller giftiger Stoffe und arm an Solidarität ist. So haben wir die Verschmutzung unseres Herzens auf die Schöpfung übertragen. In diesem geschädigten Klima ist es tröstlich zu wissen, dass dieselben Anliegen und das gleiche Engagement in vielen Religionen heranreifen und zum gemeinsamen Erbe werden. Das Gebet und das Handeln können den Lauf der Geschichte umlenken. Nur Mut! Wir haben eine Vision vor Augen, die sich mit derjenigen vieler junger Leute und vieler anderer Menschen guten Willens deckt: die Erde als gemeinsames Haus, das bewohnt wird von Menschen, die sich als Brüder und Schwestern verstehen. Ja, träumen wir von Schwesterreligionen und Brudervölkern! Schwesterreligionen, die den Völkern helfen, Brüder im Frieden zu sein, versöhnte Hüter des gemeinsamen Hauses der Schöpfung.
(vatican news – sk)
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