Wortlaut: Papstpredigt zum Welttag der Armen
PREDIGT DES HEILIGEN VATERS
Heilige Messe zum Welttag der Armen am 14. November 2021
Die Bilder, die Jesus im ersten Teil des heutigen Evangeliums verwendet, erschrecken: Die Sonne verfinstert sich, der Mond scheint nicht mehr, die Sterne fallen vom Himmel und die Kräfte des Himmels werden erschüttert (vgl. Mk 13,24-25). Kurz darauf jedoch, macht der Herr uns Hoffnung. Genau in jenem Moment der totalen Finsternis wird der Menschensohn kommen (vgl. V. 26); und schon in der Gegenwart können wir die Zeichen seines Kommens erkennen, so wie man an einem Feigenbaum, dessen Blätter austreiben, erkennt, dass der Sommer nahe ist (vgl. V. 28).
So hilft uns dieses Evangelium die Geschichte zu deuten, wobei zwei Aspekte herausstellt werden: das gegenwärtige Leid und die Hoffnung auf Zukunft. Einerseits werden all die schmerzlichen Widersprüche in Erinnerung gerufen, in denen der Mensch zu allen Zeiten steckt; andererseits gibt es das künftige Heil, das ihn erwartet, d.h. die Begegnung mit dem Herrn, der kommt, um uns von allem Übel zu befreien. Betrachten wir diese beiden Aspekte mit den Augen Jesu.
Der erste Aspekt: das gegenwärtige Leid. Wir sind Teil einer Geschichte, die von Sorgen, Gewalt, Leid und Ungerechtigkeit geprägt ist, und warten auf eine Befreiung, die nie zu kommen scheint. Es sind vor allem die Armen, die schwächsten Glieder dieser Kette, die verletzt, unterdrückt und manchmal zerdrückt werden. Der Welttag der Armen, den wir heute begehen, fordert uns auf, nicht wegzuschauen und uns nicht zu scheuen, das Leid der Schwächsten, für die das heutige Evangelium sehr aktuell ist, aus der Nähe zu betrachten: Die Sonne ihres Lebens ist oft von der Einsamkeit verdunkelt, der Mond ihrer Erwartungen ist erloschen, die Sterne ihrer Träume sind in Resignation verfallen und ihre ganze Existenz ist erschüttert. All dies aufgrund der Armut, zu der sie oft gezwungen sind, Opfer der Ungerechtigkeit und Ungleichheit einer Wegwerfgesellschaft, die sie in ihrer Schnelllebigkeit übersieht und ohne Skrupel ihrem Schicksal überlässt.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch den zweiten Aspekt: die Hoffnung auf die Zukunft. Jesus will uns Hoffnung schenken, uns aus der Angst und der Furcht angesichts des Leids der Welt herausreißen. Deshalb sagt er, dass er uns gerade dann, wenn die Sonne sich verdunkelt und alles unterzugehen scheint, nahe sein wird. Im Stöhnen unserer leidvollen Geschichte sprießt bereits eine Zukunft des Heils. Die Hoffnung auf Zukunft erblüht im Leid der Gegenwart. Ja, Gottes Heil ist nicht nur eine Jenseits-Verheißung, sondern es wächst bereits jetzt in unserer verwundeten Geschichte – wir haben ein krankes Herz, wir alle, eine verwundete Geschichte – und es bahnt sich seinen Weg durch die Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten der Welt. Mitten im Weinen der Armen sprießt das Reich Gottes wie die zarten Blätter eines Baumes und führt die Geschichte an ihr Ziel, zur endgültigen Begegnung mit dem Herrn, dem König des Universums, der uns endgültig befreien wird.
Fragen wir uns an dieser Stelle: Was wird von uns Christen verlangt, angesichts dieser Realität? Es wird von uns verlangt, die Hoffnung auf Zukunft zu nähren, indem wir das gegenwärtige Leiden heilen. Die Hoffnung, die aus dem Evangelium erwächst, besteht nämlich nicht darin, passiv darauf zu warten, dass die Dinge eines Tages besser werden – das ist nicht möglich – , sondern darin, Gottes Heilsverheißung schon heute Wirklichkeit werden zu lassen. Heute und jeden Tag. Die christliche Hoffnung ist in der Tat nicht der naive, ja unreife Optimismus derjenigen, die hoffen, dass sich die Dinge ändern werden, dann aber einfach ihr Leben so weiterleben. Sie errichtet vielmehr jeden Tag mit konkreten Gesten das Reich der Liebe, der Gerechtigkeit und der Geschwisterlichkeit, das Jesus erschlossen hat. Die christliche Hoffnung wurde etwa (im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, Anm.) nicht vom Leviten und auch nicht dem Priester gesät, die an dem von Räubern Verwundeten vorbeigingen. Sie wurde von einem Fremden gesät, einem Samariter, der anhielt und half. Und heute ist es, als würde die Kirche zu uns sagen: „Haltet inne und sät Hoffnung in die Armut. Komm den Armen nahe und säe Hoffnung“. Seine Hoffnung, Ihre Hoffnung und die Hoffnung der Kirche.
Das wird von uns verlangt: inmitten der alltäglichen Verfallserscheinungen der Welt unermüdliche Baumeister der Hoffnung zu sein; Licht zu sein, während sich die Sonne verfinstert; Zeugen des Mitgefühls zu sein, während ringsum Zerstreuung vorherrscht; inmitten der weit verbreiteten Gleichgültigkeit achtsam präsente Liebende zu sein. Zeugen des Mitgefühls. Ohne Mitgefühl können wir niemals Gutes tun. Wir werden höchstens gute Dinge tun, aber sie berühren nicht den christlichen Weg, weil sie nicht das Herz berühren. Was unser Herz berührt, ist das Mitgefühl: Wir kommen uns nahe, wir fühlen Mitleid und wir machen Gesten der Zärtlichkeit. Ganz im Sinne Gottes: Nähe, Mitgefühl und Zärtlichkeit. Das ist es, was er heute von uns verlangt.
Kürzlich kam mir wieder in den Sinn, was ein den Armen zugewandter Bischof, Don Tonino Bello, zu sagen pflegte: »Wir können uns nicht darauf beschränken zu hoffen, wir müssen die Hoffnung organisieren.« Wenn sich unsere Hoffnung nicht in konkreten Entscheidungen und Gesten der Aufmerksamkeit, der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Sorge um das gemeinsame Haus niederschlägt, kann das Leiden der Armen nicht gelindert werden, kann die Ökonomie der Verschwendung, die sie zwingt, am Rande zu leben, nicht überwunden werden, können sich ihre Erwartungen nicht erfüllen. Es liegt an uns, insbesondere an uns Christen, die Hoffnung zu organisieren, und sie täglich in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in sozialem und politischem Engagement konkret werden zu lassen. Das lässt mich an die Arbeit denken, die viele Christen mit den so genannten Werken der Nächstenliebe leisten, die Arbeit des apostolischen Almosendienstes: aber was wird dort getan? Dort wird die Hoffnung organisiert. Es werden keine Münze gegeben, nein: es wird Hoffnung gestaltet. Dies ist das Wirken, das die Kirche heute von uns verlangt.
Jesus schenkt uns heute dieses schöne Bild der Hoffnung, das ganz einfach und zugleich sehr aussagekräftig ist: das Bild von den Blättern des Feigenbaums, die fast unmerklich austreiben und das Nahen des Sommers anzeigen. Und diese Blätter erscheinen, wie Jesus betont, wenn die Zweige zart austreiben (vgl. V. 28). Brüder und Schwestern, hier ist das Wort, das Hoffnung in der Welt aufkeimen lässt und den Schmerz der Armen lindert: Zärtlichkeit. Mitgefühl, das zu Zärtlichkeit führt. Es liegt an uns, die Verschlossenheit, die innere Starrheit zu überwinden, die heute die Versuchung der Restauratoren ist, die eine ganz geordnete, ganz starre Kirche wollen: das ist nicht vom Heiligen Geist. Und das müssen wir überwinden und die Hoffnung in dieser Starre aufkeimen lassen. Und es liegt auch an uns, der Versuchung zu widerstehen, uns nur mit unseren eigenen Problemen zu beschäftigen. Es liegt an uns, uns angesichts der Tragödien der Welt zu erbarmen und den Schmerz mitzuempfinden. Wie die zarten Blätter des Baumes, ist es auch an uns, die Verschmutzung, die uns umgibt, aufzunehmen und sie in etwas Gutes umzuwandeln.
Es nützt nichts, über Probleme zu reden, zu streiten, sich zu empören – das kann jeder; wir müssen es den Blättern gleichtun, die jeden Tag unauffällig die schmutzige Luft in saubere Luft verwandeln. Jesus will, dass wir Menschen werden, die alles zum Guten wenden, die, eingetaucht in die stickige Luft, die jeder atmet, auf das Böse mit dem Guten antworten (vgl. Röm 12,21). Menschen, die handeln: das Brot mit den Hungrigen teilen, sich für Gerechtigkeit einsetzen, die Armen aufrichten und ihnen ihre Würde zurückgeben – wie es der Samariter getan hat.
Eine Kirche, die aus sich herausgeht und wie Jesus den Armen die gute Nachricht verkündet (vgl. Lk 4,18), ist schön, sie entspricht dem Evangelium, sie ist jung. Ich halte inne bei diesem Adjektiv, dem letzten: Sie ist jung, eine solche Kirche. Sie hat die Jugend, Hoffnung auszusäen. Sie ist eine prophetische Kirche, die durch ihre Gegenwart den Verzagten und den Verstoßenen der Welt sagt: „Habt Mut, der Herr ist nahe, denn auch für dich bricht mitten im Winter ein Sommer an. Auch aus deinem Leid kann wieder Hoffnung erwachsen“. Bringen wir diese Perspektive der Hoffnung in die Welt. Bringen wir sie zu den Armen, mit Nähe, mit Mitleid, ohne sie zu verurteilen. Wir werden beurteilt werden… Denn dort, bei ihnen, ist Jesus; denn dort, in ihnen, ist Jesus, der auf uns wartet.
(vatican news - pr)
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