Papst: Lebensgeschichten der älteren Menschen sind ein Schatz
Mario Galgano – Vatikanstadt
Im biblischen Buch Deuteronomium wird dieser Lobgesang vorgestellt, der – wie Franziskus hervorhob – „ein schönes Glaubensbekenntnis“ sei. Es sei eine persönliche Beschreibung, die von Moses vor seinem irdischen Ableben gemacht wurde:
„Als Mose dieses Glaubensbekenntnis ablegt, steht er an der Schwelle zum verheißenen Land, aber auch zu seinem Abschied vom Leben. Er war hundertzwanzig Jahre alt, heißt es im Bericht, ,aber seine Augen waren nicht trübe“`(Dtn 34,7). Die Vitalität seines Blicks ist ein kostbares Geschenk: Sie ermöglicht es ihm, das Erbe seiner langen Lebens- und Glaubenserfahrung mit der nötigen Klarheit weiterzugeben.“
Lebens- und Glaubenserfahrungen seien ein „kostbares Geschenk“ für die nachfolgende Generationen. Denn es sei „unersetzlich, die Geschichte des gelebten Glaubens mit all seinen Höhen und Tiefen persönlich und direkt zu hören“, führe Franziskus aus:
„Dies in Büchern zu lesen, in Filmen zu sehen oder im Internet nachzuschlagen, wie nützlich es auch sein mag, wird nie dasselbe sein. Diese Übertragung - das ist die eigentliche Tradition! - ist bei den neuen Generationen kaum vorhanden. Die direkte Erzählung von Mensch zu Mensch hat einen Ton und eine Art der Kommunikation, die durch kein anderes Medium ersetzt werden kann. Ein alter Mann, der lange gelebt hat und das Geschenk eines klaren und leidenschaftlichen Zeugnisses seiner Geschichte erhält, ist ein unersetzlicher Segen. Sind wir in der Lage, dieses Geschenk zu erkennen und zu würdigen? Folgt die Weitergabe des Glaubens - und des Sinns des Lebens - heute diesem Weg?“
Geschichtsunterricht nicht abschaffen
Der Papst prangerte abermals die sogenannte „Cancel Culture“ an. Es sei auch nicht hinnehmbar, dass es Vorschläge gibt, den Geschichtsunterricht abzuschaffen. Doch auch bei der Weitergabe des Glaubens fehle oft die Leidenschaft einer „gelebten Geschichte“, kritisierte der Papst. Er betonte: Die Lebensgeschichten der älteren Menschen seien ein Schatz.
„Den Glauben weitergeben ist nicht blablabla, es ist eine Glaubenserfahrung weitergeben. Da ist es dann schwierig, Menschen dazu zu bewegen, sich für die ewige Liebe, die Treue zum gegebenen Wort, die Beharrlichkeit in der Hingabe, das Mitgefühl für verletzte und entmutigte Gesichter zu entscheiden. Natürlich müssen die Geschichten des Lebens in ein Zeugnis umgewandelt werden, und das Zeugnis muss aufrichtig sein. Eine Ideologie, die die Geschichte nach ihren eigenen Vorstellungen zurechtbiegt, ist gewiss nicht aufrichtig; eine Propaganda, die die Geschichte zur Förderung der eigenen Gruppe anpasst, ist nicht aufrichtig; es ist nicht Recht, die Geschichte in ein Tribunal zu verwandeln, in dem die Vergangenheit verurteilt und von jeder Zukunft abgeraten wird.“
Auch die Evangelien erzählten „aufrichtig“ und benennen auch die Fehler der Jünger und der Zeitgenossen Jesu, erinnerte der Papst. „Es wird uns gut tun, uns zu fragen: Wie viel Wert legen wir auf diese Art der Weitergabe des Glaubens, auf die Weitergabe des Staffelstabs zwischen den Älteren der Gemeinschaft und den jungen Menschen, die sich der Zukunft öffnen?“
„Manchmal denke ich über diese seltsame Anomalie nach. Heute stützt sich der Katechismus der christlichen Initiation großzügig auf das Wort Gottes und vermittelt genaue Informationen über Dogmen, die Moral des Glaubens und die Sakramente. Was jedoch oft fehlt, ist ein Wissen über die Kirche, das aus dem Hören und Bezeugen der wirklichen Geschichte des Glaubens und des Lebens der kirchlichen Gemeinschaft von den Anfängen bis zur Gegenwart stammt. Als Kinder lernen wir das Wort Gottes im Katechismusunterricht; aber als junge Menschen „lernen“ wir die Kirche im Klassenzimmer und in den globalen Informationsmedien.“
Papst Franziskus verdeutlichte seine Ausführungen auch anhand eines eindinglichen, persönlichen Beispiels. Franziskus, der Sohn italienischer Auswanderer ist, berichtete, dass er seit seiner Kindheit schon Hass und Wut auf Kriege habe:
„Das habe ich von meinem Großvater gelernt, der bei der Piave-Schlacht 1914 dabei war. Er hat mir diese Wut auf den Krieg weitergegeben, denn er hat mir vom Leiden der Kriege erzählt. Und das ist etwas, das man nicht aus Büchern lernt oder sonst wo. Es wird von den Omas und Opas an die Enkel weiter gegeben. Und das ist unersetzlich: Die Weitergabe der Lebenserfahrung der Großeltern an die Enkel. Heute ist das leider nicht mehr so. Da werden Großeltern als Ausschussmaterial angesehen. Nein! Sie sind das lebendige Gedächtnis des Volkes und Kinder und Jugendliche sollten ihre Großeltern anhören.“
Nicht scheuen, auch Emotionen und Versagen weiterzugeben
Deshalb richtete der Papst einen Vorschlag an alle: Die Weitergabe der Geschichte des Glaubens sollte wie das Hohelied des Mose, wie das Zeugnis der Evangelien und der Apostelgeschichte sein. Man solle sich nicht scheuen, den Glauben auch „mit Emotionen und Erinnerung an unser Versagen“ wach zu halten und weiterzugeben.
„Es wäre gut, wenn die Katechese von Anfang an die Gewohnheit des Zuhörens einschließen würde, von der gelebten Erfahrung der Älteren ausgehend zum klaren Bekenntnis der von Gott empfangenen Segnungen, die wir bewahren müssen, bis zum treuen Eingeständnis unserer eigenen Fehler in der Treue, die wir ausbessern und korrigieren müssen. Die Älteren betreten das gelobte Land, das Gott sich für jede Generation wünscht, wenn sie den Jüngeren die schöne Initiation ihres Zeugnisses anbieten und ihre Glaubenserfahrung weitergeben, der Glaube im Dialekt, dieser vertrauten Sprache der Älteren an die Jüngeren. Dann treten ältere und junge Menschen unter der Führung des Herrn Jesus gemeinsam in sein Reich des Lebens und der Liebe ein.“
(vatican news-mg/sst)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.