Wortlaut: Papst Franziskus bei der Gebetsbegegnung in Malta
Die Homilie beim Gebetstreffen am Heiligtum von Ta’ Pinu
Gozo, 2. April 2022
Bei dem Kreuz Jesus stehen Maria und Johannes. Die Mutter, die den Sohn Gottes zur Welt gebracht hat, trauert über seinen Tod, und Dunkelheit umgibt die Welt; der geliebte Jünger, der alles verlassen hatte, um Jesus nachzufolgen, steht nun zu Füßen seines gekreuzigten Meisters. Alles scheint verloren, alles scheint für immer vorbei. Und während Jesus die Wunden der Menschheit auf sich nimmt, betet er: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mt 27,46; Mk 15,34). Das ist auch unser Gebet in den Momenten des Lebens, die von Leid geprägt sind; es ist das Gebet, das täglich aus euren Herzen zu Gott aufsteigt. Sandi und Domenico, ich danke euch für die Ausdauer in eurer Liebe und für euer Glaubenszeugnis!
Doch die Stunde Jesu – das Johannesevangelium meint damit die Stunde seines Todes am Kreuz – ist nicht das Ende der Geschichte, sondern sie markiert den Beginn eines neuen Lebens. Wenn wir auf das Kreuz blicken, betrachten wir die barmherzige Liebe Christi, der seine Arme weit für uns öffnet und uns durch seinen Tod die Freude des ewigen Lebens ermöglicht. Von seiner letzten Stunde her tut sich neues Leben auf; mit dieser Stunde des Todes beginnt eine neue Zeit voller Leben, die Zeit der Geburt der Kirche. Aus dieser Urzelle wird sich der Herr ein Volk versammeln, das die steinigen Wege der Geschichte weitergehen und den Trost des Geistes in seinem Herzen tragen wird, mit dem es die Tränen der Menschheit abwischen kann.
Brüder und Schwestern, hier an diesem Heiligtum von Ta’ Pinu wollen wir gemeinsam über den neuen Anfang nachdenken, der aus dieser Stunde Jesu hervorgeht. Auch an diesem Ort stand, bevor das prächtige Gebäude errichtet wurde, das wir heute sehen, nur eine kleine, verlassene Kapelle. Ihr Abriss war beschlossene Sache, ihr Ende schien gekommen. Doch eine Reihe von Ereignissen änderte den Lauf der Dinge, als wollte der Herr den Menschen hier sagen: »Nicht länger nennt man dich die Verlassene und dein Land nicht mehr Verwüstung, sondern du wirst heißen: Ich habe Gefallen an dir und dein Land wird Vermählte genannt« (Jes 62,4). Diese kleine Kirche ist zum Nationalheiligtum, zu einem Pilgerziel und einer Quelle neuen Lebens geworden. Daran hast du uns erinnert, Jennifer: Hier vertrauen viele Menschen ihr Leid und ihre Freuden der Gottesmutter an, und jeder fühlt sich willkommen. Auch der heilige Johannes Paul II., dessen Todestag wir heute begehen, ist als Pilger hierhergekommen. Ein Ort, der verloren schien, lässt nun den Glauben und die Hoffnung im Volk Gottes wiederaufleben.
Versuchen wir also in diesem Sinne die Einladung, die mit dieser Stunde Jesu, der Stunde des Heils, einhergeht, auch für uns zu begreifen. Sie besagt, dass wir, um unseren Glauben und die Sendung der Gemeinschaft zu erneuern, zu diesem Anfang zurückkehren sollen, zur werdenden Kirche, die wir dort am Kreuz in der Gestalt von Maria und Johannes sehen. Aber was bedeutet es, zu diesem Anfang zurückzukehren? Was bedeutet es, zu den Ursprüngen zurückzukehren?
In erster Linie geht es darum, das Wesentliche des Glaubens wiederzuentdecken. Zurückzugehen zu den Ursprüngen der Kirche bedeutet nicht, das Kirchenmodell der ersten christlichen Gemeinschaft zu kopieren. Wir können nicht „die Geschichte überspringen“, als ob der Herr nicht auch in späteren Jahrhunderten große Dinge im Leben der Kirche kundgetan und gewirkt hätte. Es bedeutet auch nicht, zu idealistisch zu sein und sich einzubilden, dass es in dieser Gemeinschaft keine Schwierigkeiten gab. Im Gegenteil: wir lesen, dass die Jünger diskutierten und auch miteinander in Streit gerieten und dass sie die Lehren des Herrn nicht immer verstanden. Zu den Ursprüngen zurückzukehren bedeutet vor allem, den Geist der ersten christlichen Gemeinschaft wieder zu wecken, d.h. zum Wesentlichen zurückzukehren und die Mitte des Glaubens wiederzuentdecken: die Beziehung zu Jesus und die Verkündigung seines Evangeliums an die ganze Welt. Das ist das Wesentliche!
In der Tat sehen wir nach der Todesstunde Jesu, dass die ersten Jünger wie Maria Magdalena und Johannes, nachdem sie das leere Grab gesehen hatten, ohne Zeit zu verlieren, mit klopfendem Herzen losliefen, um die frohe Botschaft von der Auferstehung zu verkünden. Die Trauer unter dem Kreuz verwandelt sich in die Freude der Verkündigung. Und ich denke auch an die Apostel, von denen es heißt: »Und sie ließen nicht ab, Tag für Tag im Tempel und in den Häusern zu lehren, und verkündeten das Evangelium von Jesus, dem Christus.« (Apg 5,42). Das Hauptanliegen der Jünger Jesu war nicht das Ansehen der Gemeinde und ihrer Amtsträger, der gesellschaftliche Einfluss, die Erlesenheit des Kultes. Nein. Das Anliegen, das sie bewegte, war die Verkündigung und die Bezeugung des Evangeliums Christi (vgl. Röm 1,1), denn die Freude der Kirche ist die Evangelisierung.
Brüder und Schwestern, die Kirche in Malta hat eine wertvolle Geschichte, aus der sie viele geistliche und pastorale Reichtümer schöpfen kann. Das Leben der Kirche – das sollten wir uns immer vor Augen halten – ist jedoch niemals nur „eine vergangene Geschichte, die nur der Erinnerung dient“, sondern auch eine „große Zukunft, die nach Gottes Plänen gestaltet werden will“. Ein Glaube, der nur aus überlieferten Bräuchen, großen Feiern, schönen volkstümlichen Anlässen, starken und emotionalen Momenten besteht, kann uns nicht genügen; wir brauchen einen Glauben, der in der persönlichen Begegnung mit Christus, im täglichen Hören auf sein Wort, in der aktiven Teilnahme am Leben der Kirche, in der Seele der Volksfrömmigkeit gründet und erneuert.
Die Krise des Glaubens, die insbesondere seit der Pandemie nachlassende Glaubenspraxis und die Gleichgültigkeit so vieler junger Menschen gegenüber der Gegenwart Gottes sind keine Themen, die wir verniedlichen sollten, indem wir denken, dass alles in allem ein gewisser religiöser Geist noch weiterbestünde. Nein. Manchmal kann die äußere Struktur religiös bleiben, aber unter diesem Kleid wird der Glaube alt. Eine elegante religiöse Garderobe entspricht nämlich nicht immer einem lebendigen Glauben, der von der Dynamik der Evangelisierung beseelt ist. Wir müssen darauf achten, dass die religiösen Praktiken nicht einfach zu einer Wiederholung eines Repertoires aus der Vergangenheit verkommen, sondern Ausdruck eines lebendigen, offenen Glaubens sind, der die Freude des Evangeliums ausstrahlt, denn die Freude der Kirche ist die Evangelisierung.
Ich weiß, dass ihr durch die Synode einen Prozess der Erneuerung begonnen habt, und ich danke euch für diesen Weg. Brüder und Schwestern, es ist an der Zeit, zu diesem Anfang zurückzukehren, der sich dort unter dem Kreuz ereignete, und auf die erste christliche Gemeinschaft zu schauen. Dies ist nötig, damit wir eine Kirche sind, der die Freundschaft mit Jesus und die Verkündigung seines Evangeliums ein Herzensanliegen ist und nicht die Suche nach Räumen und Aufmerksamkeit; eine Kirche, für die das Zeugnis im Mittelpunkt steht und nicht die ein oder andere religiöse Gewohnheit; eine Kirche, die mit dem Licht des Evangeliums auf alle zugehen und kein geschlossener Kreis sein will. Scheut euch nicht, neue, vielleicht sogar riskante Wege der Evangelisierung und Verkündigung zu beschreiten, die das Leben berühren – wie ihr das ja bereits tut: denn die Freude der Kirche ist die Evangelisierung.
Schauen wir wieder auf die Ursprünge, auf Maria und Johannes unter dem Kreuz. Am Ursprung der Kirche werden sie einander anvertraut. Der Herr vertraut einen der Obhut des anderen an – Johannes der Maria und Maria dem Johannes – so dass der Jünger sie in jener Stunde zu sich nahm (vgl. Joh 19,27). An den Anfang zurückzukehren bedeutet auch, eine Kultur der Annahme zu entwickeln. Zu den letzten Worten Jesu am Kreuz gehören auch die an seine Mutter und an Johannes gerichteten Sätze, die uns dazu auffordern, die Annahme zum beständigen Stil der Jüngerschaft zu machen. Es war nämlich nicht einfach nur eine Geste der Fürsorge, als Jesus seine Mutter dem Johannes anvertraute, damit sie nach seinem Tod nicht allein war, sondern es war ein konkreter Hinweis darauf, wie das erste Gebot, das der Liebe, zu leben ist. Die Anbetung Gottes vollzieht sich in der Nähe zu den Brüdern und Schwestern.
Wie wichtig ist in der Kirche die gegenseitige Liebe und die Annahme des Nächsten! Daran erinnert uns der Herr in der Stunde des Kreuzes durch diesen gegenseitigen Akt der Annahme bei Maria und Johannes, und er mahnt die christliche Gemeinschaft aller Zeiten, diese Priorität nicht zu verlieren. »Siehe, dein Sohn«, »siehe, deine Mutter« (V. 26.27); das ist, als würde man sagen: Ihr seid durch dasselbe Blut gerettet, ihr seid eine Familie, also nehmt euch gegenseitig an, liebt einander, versorgt einander die Wunden. Ohne Verdächtigungen, Spaltungen, Gerüchte, Klatsch und Misstrauen. Macht eine „Synode“, d.h. „geht gemeinsam“. Denn Gott ist da, wo die Liebe herrscht!
Liebe Freunde, sich einander anzunehmen, nicht nur im Sinne einer reinen Formalität, sondern im Namen Christi, ist eine ständige Herausforderung. Die gilt in erster Linie für unsere Beziehungen in der Kirche, denn unsere Mission trägt nur Früchte, wenn wir in Freundschaft und geschwisterlicher Gemeinschaft zusammenarbeiten. Ihr seid zwei wunderbare Gemeinschaften, Malta und Gozo – so wie Maria und Johannes auch zu zweit waren! Mögen die Worte Jesu am Kreuz euer Leitstern sein: nehmt einander an, entwickelt eine Vertrautheit miteinander und arbeitet zusammen! Auf geht’s, immer gemeinsam bei der Evangelisierung, denn die Freude der Kirche ist Evangelisierung!
Aber dieses Annehmen ist auch der Lackmustest dafür, wie sehr die Kirche tatsächlich vom Geist des Evangeliums durchdrungen ist. Maria und Johannes werden einander nicht im heimeligen Zufluchtsort des Abendmahlssaals anvertraut, sondern unter dem Kreuz, an jenem düsteren Ort, wo Übeltäter verurteilt und gekreuzigt wurden. Und auch wir können uns nicht damit begnügen, im Schatten unserer schönen Kirchen für einander da zu sein, während draußen so viele Brüder und Schwestern unter dem Kreuz von Schmerz, Elend, Armut und Gewalt leiden. Ihr befindet euch in einer bedeutenden geografischen Lage zum Mittelmeer hin, euer Land ist Anziehungspunkt und rettender Landungsplatz für viele Menschen, die von den Stürmen des Lebens hin und her geworfen werden und aus unterschiedlichen Gründen an euren Küsten ankommen. In diesen armen Menschen kommt Christus selbst zu euch. Das war die Erfahrung des Apostels Paulus, der nach einem schrecklichen Schiffbruch von euren Vorfahren herzlich aufgenommen wurde. In der Apostelgeschichte heißt es: Die Einheimischen »zündeten ein Feuer an und holten uns alle zu sich, weil es zu regnen begann und kalt war« (Apg 28,2).
Das ist das Evangelium, das wir leben sollen: aufnehmen, Experten für Menschlichkeit sein, Feuer der Liebe entzünden, wenn die Kälte des Lebens über den Leidenden hängt. Und auch in diesem Fall führte ein dramatisches Ereignis zu etwas Wichtigem, denn Paulus verkündete und verbreitete das Evangelium, und später folgten viele Verkünder, Prediger, Priester und Missionare seinen Fußstapfen. Diesen möchte ich ein besonderes Dankeschön sagen: den vielen maltesischen Missionaren, die die Freude des Evangeliums in der ganzen Welt verbreiten, den vielen Priestern, den Ordensleuten und euch allen. Wie euer Bischof Teuma sagte, ihr seid eine kleine Insel, aber mit einem großen Herzen. Ihr seid ein Schatz in der Kirche und für die Kirche. Um ihn zu bewahren, müssen wir zum Wesen des Christentums zurückkehren: zur Liebe zu Gott, dem Antrieb unserer Freude, der uns dazu bringt, auf die Straßen der Welt zu gehen und unsere Mitmenschen anzunehmen, darin besteht unser einfachstes und schönstes Zeugnis vor der Welt.
Der Herr geleite euch auf diesem Weg und die heilige Jungfrau möge euch führen. Sie, die uns bat, drei „Ave Maria“ zu sprechen, um uns an ihr mütterliches Herz zu erinnern, entfache in uns, ihren Kindern, wieder neu das Feuer der Mission und den Wunsch, füreinander da zu sein. Die Gottesmutter behüte euch und begleite euch auf dem Weg der Evangelisierung!
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