Wortlaut: Papst an Ureinwohner aus Kanada
Das ist eine Arbeitsübersetzung von Radio Vatikan. Die offizielle Fassung in deutscher Sprache wird in einigen Tagen auf der Internetseite des Heiligen Stuhls publiziert.
Liebe Brüder und Schwestern, guten Morgen und herzlich willkommen!
Ich danke Erzbischof Poisson für seine Worte und jedem von Ihnen für Ihre Anwesenheit und für die Gebete, die an den Himmel gerichtet wurden. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie trotz der Unannehmlichkeiten, die die Pandemie mit sich bringt, nach Rom gekommen sind. In den letzten Tagen habe ich mir Ihre Berichte aufmerksam angehört. Ich habe sie in mein Nachdenken und Beten mitgenommen und mir Ihre Geschichten und Situationen vor Augen geführt. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie Ihre Herzen geöffnet haben und dass Sie mit diesem Besuch den Wunsch geäußert haben, gemeinsam zu gehen.
Ich möchte einige der vielen Aspekte aufgreifen, die mir aufgefallen sind. Lassen Sie mich mit einer Redewendung beginnen, die zu Ihrer Weisheit gehört und die nicht nur ein Sprichwort ist, sondern eine Lebenseinstellung: ‚Man muss sieben Generationen vorausdenken, wenn man heute eine Entscheidung trifft‘. Dieser Satz ist weise, er ist weitsichtig, und er ist das Gegenteil von dem, was in unserer Zeit oft geschieht, wo wir nützliche und unmittelbare Ziele verfolgen, ohne an die Zukunft der nächsten Generationen zu denken. Vielmehr ist die Verbindung zwischen älteren und jungen Menschen unverzichtbar! Sie muss gepflegt und bewahrt werden, denn sie sorgt dafür, dass die Erinnerung nicht ausgelöscht wird und die Identität nicht verloren geht. Und wenn das Gedächtnis und die Identität geschützt sind, dann wird die Menschheit besser.
Auch hier ist in den letzten Tagen ein wunderschönes Bild aufgetaucht. Sie haben sich selbst mit den Ästen eines Baumes verglichen. Wie solche Äste sind auch Sie in verschiedene Richtungen gewachsen, haben verschiedene Jahreszeiten durchlebt und wurden auch von starken Winden umtost. Aber Sie haben sich fest über die Wurzeln verankert. Und so tragen Sie auch weiterhin Früchte, denn die Zweige reichen nur hoch, wenn die Wurzeln tief sind.
Ich möchte einige Früchte erwähnen, die es verdienen, dass man sie kennt und wertschätzt. Zuallererst Ihre Sorge um das Land, das Sie nicht als ein Gut betrachten, das beliebig ausgebeutet werden kann, sondern als ein Geschenk des Himmels; für Sie bewahrt es die Erinnerung an die Ahnen, die dort ruhen, und es ist ein Lebensraum, in dem man sein Dasein in einem Beziehungsgeflecht mit dem Schöpfer, mit der menschlichen Gemeinschaft, mit den Arten und mit dem gemeinsamen Haus, das wir bewohnen, leben kann. All dies führt zu einem Streben nach innerer und äußerer Harmonie, zu einer großen Liebe zur Familie und einem lebendigen Gemeinschaftssinn. Hinzu kommt der besondere Reichtum Ihrer Sprachen, Ihrer Kulturen, Ihrer Traditionen und Kunstformen, ein Erbe, das nicht nur Ihnen, sondern der ganzen Menschheit gehört, da es Ausdruck der Menschlichkeit ist.
Aber Ihr Baum, der Früchte trägt, hat eine Tragödie erlitten, von der Sie mir in den letzten Tagen erzählt haben: die Entwurzelung. Die Kette, die das Wissen und die Lebensweise in Verbindung mit dem Land weitergab, wurde durch die Kolonisierung unterbrochen, die viele von Ihnen ohne Rücksicht aus ihrem Lebensumfeld riss und versuchte, Ihnen eine andere Mentalität aufzuzwingen. Auf diese Weise wurden Ihre Identität und Ihre Kultur verletzt, viele Familien wurden getrennt, viele Kinder wurden Opfer dieser vereinheitlichenden Aktion, die von der Idee getragen wurde, dass der Fortschritt durch ideologische Kolonisierung nach planbaren Programmen erfolgt, anstatt das Leben der Völker zu respektieren. Leider ist dies auch heute noch auf verschiedenen Ebenen der Fall: ideologische Kolonisierungen. Wie viele politische, ideologische und wirtschaftliche Kolonisierungen gibt es in der Welt, die von Gier und Profitstreben getrieben werden und die Völker, ihre Geschichte und Traditionen sowie das gemeinsame Haus der Schöpfung missachten. Leider ist diese koloniale Mentalität immer noch weit verbreitet. Lassen Sie uns gemeinsam helfen, sie zu überwinden!
Durch Ihre Stimmen konnte ich die Berichte über das Leid, die Entbehrungen, die diskriminierende Behandlung und die verschiedenen Formen des Missbrauchs, die einige von Ihnen insbesondere in den Internaten erlitten haben, anhören und mit großer Traurigkeit im Herzen bewegen. Es ist erschreckend, wenn man sieht, wie daran gearbeitet wurde, Menschen ein Gefühl der Minderwertigkeit einzuflößen, ihnen ihre kulturelle Identität zu nehmen, ihre Wurzeln zu kappen, mit all den persönlichen und sozialen Folgen, die dies mit sich brachte und bringt: unbewältigte Traumata, die zu Traumata zwischen den Generationen wurden.
All dies hat in mir zwei Gefühle geweckt: Empörung und Scham. Empörung, weil es ungerecht ist, das Böse zu akzeptieren, und es ist noch schlimmer, sich an das Böse zu gewöhnen – als wäre es eine unausweichliche Dynamik, die durch die Ereignisse der Geschichte hervorgerufen wird. Nein, ohne entschiedene Empörung, ohne Erinnerung und ohne die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, lassen sich Probleme nicht lösen und kehren zurück! Das haben wir in den letzten Tagen in Bezug auf den Krieg gesehen. Die Erinnerung an die Vergangenheit darf niemals auf dem Altar des vermeintlichen Fortschritts geopfert werden.
Und ich empfinde auch Scham – ich habe es Ihnen gesagt, und ich wiederhole es: Scham, Trauer und Schande über die Rolle, die einige Katholiken, insbesondere mit pädagogischer Verantwortung, bei all dem gespielt haben, was Sie verletzt hat, bei dem Missbrauch und der Missachtung Ihrer Identität, Ihrer Kultur und sogar Ihrer geistigen Werte. All dies steht im Widerspruch zum Evangelium Jesu. Für das beklagenswerte Verhalten dieser Mitglieder der katholischen Kirche bitte ich Gott um Vergebung und ich möchte Ihnen von Herzen sagen: Es tut mir sehr leid. Und ich schließe mich meinen Brüdern, den Bischöfen Kanadas, an und bitte Sie um Entschuldigung. Es liegt auf der Hand, dass man die Inhalte des Glaubens nicht auf eine Weise vermitteln kann, die dem Glauben selbst fremd ist: Jesus hat uns gelehrt, aufzunehmen, zu lieben, zu dienen und nicht zu richten; es ist schrecklich, wenn man gerade im Namen des Glaubens ein Gegenzeugnis zum Evangelium ablegt.
Ihre Geschichte lässt mich an die sehr aktuellen Fragen denken, die der Schöpfer am Anfang der Bibel an die Menschheit richtet. Zuerst fragt er den Menschen nach der begangenen Sünde: ‚Wo bist du?‘ (Gen 3:9). Kurz darauf stellt er ihm eine weitere Frage, die nicht von der vorherigen zu trennen ist: ‚Wo ist dein Bruder?‘ (Gen 4:9). Wo bist du, wo ist dein Bruder? Das sind Fragen, die wir uns immer stellen müssen, es sind die wesentlichen Fragen unseres Gewissens, damit wir nicht vergessen, dass wir als Hüter der Heiligkeit des Lebens auf dieser Erde sind und damit als Hüter unserer Brüder und Schwestern, jedes Bruder- und Schwestervolkes.
Zugleich denke ich mit Dankbarkeit an so viele gute Gläubige, die im Namen des Glaubens, mit Respekt, Liebe und Freundlichkeit Ihre Geschichte mit dem Evangelium bereichert haben. Ich freue mich zum Beispiel, wenn ich an die Verehrung denke, die sich bei vielen von Ihnen für die heilige Anna, die Großmutter Jesu, verbreitet hat… Heute sollten wir ein Bündnis zwischen Großeltern und Enkeln, zwischen Älteren und Jüngeren wiederherstellen, eine Grundvoraussetzung für eine größere Einheit der menschlichen Gemeinschaft.
Liebe Brüder und Schwestern, ich hoffe, dass die Begegnungen dieser Tage uns weitere Wege eröffnen, die wir gemeinsam erkunden, die Mut machen und das Engagement auf lokaler Ebene stärken. Ein wirksamer Heilungsprozess erfordert konkrete Maßnahmen. Im Geiste der Geschwisterlichkeit ermutige ich die Bischöfe und die Katholiken, weiterhin Schritte zur transparenten Suche nach der Wahrheit und zur Förderung der Heilung von Wunden und der Versöhnung zu unternehmen; Schritte auf dem Weg zur Wiederentdeckung und Wiederbelebung Ihrer Kultur, indem Sie in der Kirche die Liebe, den Respekt und die besondere Aufmerksamkeit für Ihre echten Traditionen stärken. Ich möchte Ihnen sagen, dass die Kirche auf Ihrer Seite steht und Sie weiterhin begleiten möchte. Der Dialog ist der Schlüssel zum Wissen und zum Austausch, und die kanadischen Bischöfe haben deutlich ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, gemeinsam mit Ihnen einen erneuerten, konstruktiven und fruchtbaren Weg zu beschreiten, bei dem Begegnungen und gemeinsame Projekte hilfreich sein können.
Liebe Freunde, Ihre Worte und noch mehr Ihr Zeugnis haben mich sehr bereichert. Sie haben den lebendigen Sinn Ihrer Gemeinschaften hierher nach Rom gebracht. Ich würde mich freuen, Sie wieder zu treffen und Ihre Heimat zu besuchen, wo Ihre Familien leben. Aber ich werde Sie nicht gerade im Winter besuchen… Ich verabschiede mich von Ihnen mit einem ‚Auf Wiedersehen in Kanada‘! Dort werde ich meine Verbundenheit mit Ihnen besser zum Ausdruck bringen können. In der Zwischenzeit versichere ich Sie meiner Gebete und erbitte den Segen des Schöpfers für Sie, Ihre Familien und Ihre Gemeinschaften.
Und ich will nicht enden, ohne auch Ihnen, meine Brüder Bischöfe, ein Wort zu sagen: Danke! Danke für Ihren Mut. Danke. In der Demut offenbart sich der Geist des Herrn. Angesichts von Geschichten wie dieser, die wir gehört haben, ist die Demütigung der Kirche fruchtbar. Danke für Ihren Mut! Und Danke Ihnen allen!
(vatican news – sk)
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