„Gott ist Liebe“: Der Schlüssel des Pontifikats
ANDREA TORNIELLI
Vatikanstadt
Seit 1417 ist es nicht mehr vorgekommen, dass ein Pontifikat nicht mit dem Tod eines (ehemaligen) Papstes endete. Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, ist heute im Vatikan gestorben, fast 10 Jahre nach seinem Rücktritt, den er den erstaunten Kardinälen am 11. Februar 2013 mit dem Verlesen einer kurzen Erklärung in lateinischer Sprache bekannt gegeben hatte. In zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte hatte noch nie ein Papst den Stuhl Petri verlassen, weil er sich körperlich nicht mehr in der Lage sah, die Last des Pontifikats zu tragen. Andererseits hatte Benedikt XVI. aber schon in dem drei Jahre zuvor erschienenen Interview-Buch „Licht der Welt“ dem Journalisten Peter Seewald gegenüber erklärt, ein Papst habe nicht nur das Recht, sondern mitunter auch die Pflicht, zurückzutreten, wenn seine physischen oder psychischen Kräfte nicht mehr ausreichen. Obwohl seine Regierungszeit also schon vor seinem Tod zu Ende ging, was einen historischen Präzedenzfall von enormer Bedeutung darstellt, wäre es wirklich kleinmütig, sich nur aus diesem Grund an Benedikt XVI. zu erinnern.
Theologischer „Teenager“ beim Konzil
Joseph Ratzinger, der 1927 als Sohn eines Gendarmen das Licht der Welt erblickte und in einer einfachen, aber tiefkatholischen Familie in Bayern aufwuchs, war eine der führenden Persönlichkeiten der Kirche des 20. Jahrhunderts. Die Priesterweihe empfing er 1951 zusammen mit seinem Bruder Georg; zwei Jahre später promovierte er zum Doktor der Theologie; 1958 erfolgte seine Ernennung zum Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik. Er lehrte in Freising, Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. Mit ihm ist der letzte Papst von uns gegangen, der noch persönlich an den Arbeiten des Zweiten Vatikanischen Konzils beteiligt war. Als blutjunger, aber bereits hoch geschätzter Theologe hatte Ratzinger als Berater des Kölner Kardinals Frings, der dem reformwilligen Flügel nahestand, die Konzilsarbeiten aus nächster Nähe verfolgt. Er gehörte zu denen, die die von der Römischen Kurie vorbereiteten und dann durch die Bischöfe verworfenen Textentwürfe heftig kritisiert hatten. Der junge Theologe Ratzinger war der Meinung, dass die Texte Antworten auf dringliche Fragen geben müssten, und zwar nicht, indem man urteilte und verurteilte, sondern indem man sich einer mütterlichen Sprache bediente. Joseph Ratzinger begrüßte die bevorstehende Liturgiereform und die Gründe für ihre providentielle Unvermeidbarkeit. Um das wahre Wesen der Liturgie wiederzuentdecken, müsse man – wie er meinte – „die Mauer der Latinität aufbrechen“.
Hüter des Glaubens an der Seite Wojtylas
Aber der spätere Papst Benedikt XVI. war auch ein direkter Zeuge der postkonziliaren Krise, der Proteste an den Universitäten und theologischen Fakultäten und hat die Infragestellung wesentlicher Glaubenswahrheiten, die wilden Experimente im Bereich der Liturgie miterlebt. Bereits 1966, ein Jahr nach dem Ende des Konzils, konnte er das Voranschreiten eines Christentums feststellen, das zum Billigpreis angeboten wird.
1977 ernannte Paul VI. den damals Fünfzigjährigen zum Erzbischof von München; nur wenige Wochen später zum Kardinal. Johannes Paul II. betraute ihn im November 1981 mit der Leitung der Glaubenskongregation. Es sollte der Beginn einer tiefen Verbundenheit zwischen dem polnischen Papst und dem bayerischen Theologen sein, die bis zum Tod Wojtylas andauerte. Johannes Paul II. hatte das Rücktrittsgesuch Ratzingers bis zuletzt abgelehnt, weil er ihn nicht verlieren wollte. Es waren die Jahre, in denen das ehemalige Heilige Offizium in vielen Dingen ein Machtwort sprach: Es bremste die Befreiungstheologie aus, die marxistische Deutungsmuster gebrauchte, und bezog angesichts des Auftretens großer ethischer Probleme Stellung. Das wichtigste Werk war sicherlich der neue Katechismus der katholischen Kirche, der nach sechs Jahren Arbeit 1992 veröffentlicht werden konnte.
„Einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn“
Nach dem Tod Wojtylas wählte das Konklave 2005 in weniger als 24 Stunden einen bereits 78-Jährigen zu dessen Nachfolger: einen allseits geachteten Mann, der auch von seinen Gegnern respektiert wurde. Von der Loggia des Petersdoms aus stellte sich Benedikt XVI., dem jeder Geltungsdrang fremd war, als „einfacher und bescheidener Arbeiter im Weinberg des Herrn“ vor, der kein „Regierungsprogramm“ vorlegen, sondern „gemeinsam mit der ganzen Kirche auf Wort und Wille des Herrn lauschen“ wollte.
Auschwitz und Regensburg
Obwohl er eigentlich gar nicht reisen wollte, hat er dann doch viele Länder besucht. Auch sein Pontifikat sollte – wie schon das seines Vorgängers – ein „Wanderpontifikat“ sein. Zu den bewegendsten Momenten gehörte sein Besuch in Auschwitz im Mai 2006. Damals sagte der deutsche Papst: „An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen – Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden?“ 2006 war auch das Jahr der Regensburger Rede, als der Papst an der Universität, an der er einst selbst unterrichtete, einen antiken Satz über Mohammed zitierte, der nicht Ausdruck seiner eigenen Position war, dann aber instrumentalisiert wurde und in der islamischen Welt Proteste auslöste. Danach sollte der Papst vermehrt Zeichen der Aufmerksamkeit gegenüber den Muslimen setzen. Benedikt XVI. hat schwierige Reisen absolviert, sich mit der galoppierenden Säkularisierung entchristlichter Gesellschaften und Dissens innerhalb der Kirche auseinandergesetzt. Er hat seinen Geburtstag im Weißen Haus mit George Bush Jr. gefeiert und nur wenige Tage später, am 20. April 2008, am Ground Zero gebetet und Angehörige der Opfer des 11. September umarmt.
Die Enzyklika über die Liebe
Obwohl er als Präfekt des ehemaligen Heiligen Offiziums oft als „Panzerkardinal“ etikettiert worden war, sprach er als Papst immer wieder von der „Freude, Christ zu sein“. Seine erste Enzyklika widmete er der Liebe Gottes: „Deus caritas est“. „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person,“ heißt es dort. Er fand auch Zeit, ein Buch über Jesus von Nazareth zu schreiben, ein einzigartiges Werk, das in drei Bänden erschienen ist. Zu den Maßnahmen, an die man sich erinnern sollte, gehören das Motu proprio, das das vorkonziliare römische Messbuch liberalisiert, und die Einrichtung eines Ordinariats, das den anglikanischen Gemeinschaften die Rückkehr zur Gemeinschaft mit Rom ermöglicht. Im Januar 2009 beschloss der Papst, die Exkommunikation der vier von Monsignore Marcel Lefebvre unrechtmäßig geweihten Bischöfe aufzuheben, darunter auch Richard Williamson, ein Leugner der Gaskammern. Das sorgte in der jüdischen Welt für Aufruhr, der Papst nahm Stift und Papier, schrieb an Bischöfe in der ganzen Welt und übernahm die Verantwortung.
Die Antwort auf die Skandale
Die letzten Jahre waren geprägt vom Wiederaufleben des Pädophilie-Skandals und von Vatileaks: dem Durchsickern von Dokumenten, die vom päpstlichen Schreibtisch gestohlen und in einem Buch veröffentlicht worden waren. Im Umgang mit dem Problem des „Schmutzes“ in der Kirche zeigte Benedikt XVI. Entschlossenheit und Härte. Er führte strenge Regeln gegen Kindesmissbrauch ein und forderte Kurie wie Bischöfe auf, ihre Mentalität zu ändern. Ja, er ging sogar so weit zu sagen, dass die größte Verfolgung der Kirche nicht von äußeren Feinden komme, sondern aus dem Inneren, aus der Sünde in der Kirche selbst. Eine weitere wichtige Reform war die Finanzreform: Benedikt XVI. war es, der im Vatikan Anti-Geldwäsche-Vorschriften einführte.
Für eine Kirche ohne materielle und politische Last
Angesichts von Skandalen und kirchlichem Karrierismus rief der betagte deutsche Papst unermüdlich zu Umkehr, Buße und Demut auf. Bei seiner letzten Reise nach Deutschland im September 2011 forderte er die Kirche auf, weniger weltlich zu sein:
„Die geschichtlichen Beispiele zeigen: Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein…“
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