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Austen Ivereigh auf einem Archivbild Austen Ivereigh auf einem Archivbild 

Austen Ivereigh: „Normale Leute verstehen Papst besser als Experten"

Der britische Journalist Austen Ivereigh hat Jorge Mario Bergoglio schon lange vor seiner Wahl zum Papst 2013 beobachtet – und mittlerweile mehrere Biografien über ihn verfasst. 2020 haben sie sogar ein gemeinsames Buch geschrieben. Seitdem haben sie ein „kollegiales Verhältnis", „Freund wäre zuviel gesagt“, so Ivereigh im Gespräch mit dem Podcast Himmelklar.

Als Franziskus 2013 auf die Loggia des Petersdoms getreten war, habe er gewusst, dass die Wahl eines Papstes aus Lateinamerika „einen signifikanten Richtungswechsel für die Kirche bedeutet“, betont Ivereigh in dem langen Gespräch für die Reihe Podcast Himmelklar: „Es wäre aber vermessen zu behaupten, ich hätte all das erwartet, was dann auf uns zugekommen ist. Mich hat aber von Anfang an die Frage gereizt, wie dieses Pontifikat auf sein Wirken in Lateinamerika, als Provinzial der argentinischen Jesuiten und als Erzbischof, zurückzuführen ist.“

Hunger nach Reformen im Vorkonklave

Ivereigh hatte bereits seine Doktorarbeit über die Kirche in Argentinien geschrieben, so dass er für seine bald nach der Papstwahl veröffentlichte Biografie auf reiches Vorwissen zurückgreifen konnte: „Im Vordergrund stand für mich aber immer die Faszination für diese Person. Von Anfang an war das für mich eine mitreißende Persönlichkeit, ein Mensch von einer unerwarteten Tiefe“, würdigt Ivereigh Jorge Mario Bergoglio.

Bereits in den Treffen vor dem Konklave habe es einen riesigen Hunger“ nach Reformen in der Kirche gegeben, so dass dies damals als große Aufgabe vor dem zukünftigen Papst gelegen sei: „Vor allem die Kurie musste reformiert werden, da gab es so riesengroße Baustellen. Franziskus hat das auch selbst oft angesprochen, dass seine Reformen eigentlich nur auf das Mandat seiner Brüder zurückzuführen sind, dass sie ihn genau dafür gewählt haben.“

Doch wie er mittlerweile verstehe, gehe es letztlich bei einer Papstwahl vor allem um eines: Die Evangelisierung, so Ivereigh: „Die große Frage für die Kardinäle war 2013: Warum funktioniert das nicht mehr? Weshalb erreichen wir die Menschen nicht mehr mit unserer Botschaft, ganz besonders in der westlichen Welt? Bergoglio hat damals eine kurze, aber inzwischen sehr berühmte Rede an seine Brüder gehalten. Er hat eine spirituelle Diagnose des Zustands der Kirche abgeliefert, das war keine theologische Argumentation. Er hat kritisiert, dass sich die Kirche nur noch mit sich selber befasst und nicht mehr mit den Menschen. Das hat seine Brüder anscheinend tief bewegt und hat am Ende auch zu seiner Wahl geführt. Die Kardinäle haben gespürt: Hier erkennt einer die Zeichen der Zeit.“

„Hier erkennt einer die Zeichen der Zeit“

Lesart je nach Kultur

Franziskus habe nun „ein neues Kapitel für diese Kirche aufgeschlagen“ und sie „in eine neue Ära geführt“, so die Einschätzung des Papstkenners. Die Kritik und Würdigung, die Papst Franziskus aus verschiedenen Kulturkreisen gleichermaßen bekomme, liege letztlich wohl darin begründet, durch „welche Linse“ der Papst betrachtet werde, meint Ivereigh: „Es stimmt, in Deutschland sieht man ihn im Moment als Hindernis auf dem nötigen Weg einer Liberalisierung der Kirche. In Osteuropa und in konservativen Kreisen Nordamerikas sieht man ihn als gefährlichen Linken. Wie bringt man diese zwei Sichten unter einen Hut? Beides hat mit Ängsten und Hoffnungen in den jeweiligen Kulturen zu tun. Wenn man ihn als Hindernis für die eigenen Hoffnungen sieht, oder als Element, dass die eigene Angst befüttert, dann hat man ganz klar ein negatives Bild von Franziskus.“

Ähnliches sei auch Jesus mit den Pharisäern passiert, gibt Ivereigh zu bedenken: „Sie haben ihn als Lehrer mit einer wichtigen Autorität gesehen, aber sie hatten auch große Vorbehalte. Das gleiche kann man eben auch über die Kritiker von Franziskus sagen. Ich glaube, ich kenne niemanden, der seine Führungsfähigkeit bezweifelt. Ob man aber die Richtung gutheißt, die die Kirche unter ihm eingeschlagen hat, das hängt von der persönlichen Linse ab, unter der man ihn betrachtet.“

Keine Experten

Doch nach elf Jahren Pontifikat sei in ihm die Erkenntnis gereift, dass Franziskus und seine Botschaft vor allem von den „normalen Leuten“, mehr noch als von den „Experten", verstanden würden, während die Opposition, auch unter Kardinälen und Bischöfen, sich auf eine kleine, wenn auch lautstarke Minderheit beschränke. In Franziskus sehe er wiederum „ein besonderes Talent“ dafür, das zu tun, was alle Päpste tun müssten, nämlich eine Fähigkeit, die Spannungen „zwischen rechts und links“ auszuhalten und fruchtbar werden zu lassen. Dabei komme ihm zugute, dass er die Auseinandersetzung nicht scheue und diese sogar einfordere:

„Er will, dass die Leute die Wahrheit so aussprechen, wie sie sie sehen. Erst dann kann man diese Spannungen definieren und nach dem Willen des Heiligen Geistes suchen. Was ist die größere Aufgabe, der wir uns heute als Kirche stellen müssen? Ich glaube das ist seine Kernbotschaft, das erklärt auch seine Bemühungen zu Synodalität und alles andere, was er in diesen elf Jahren angestrebt hat. Wir brauchen die Demut, um zu verstehen, dass unser Standpunkt vielleicht nicht die volle und einzige Wahrheit ist. Der Wahrheit können wir uns nur öffnen, wenn wir zusammenkommen und auch die andere Seite sehen.“

„In Argentinien hat man ihn damals auch den ,Sturmpiloten‘ genannt“

Den Papst näher kennengelernt („Freund wäre zuviel gesagt, es ist in der Tat vor allem eine Arbeitsbeziehung“) habe er im Corona-Lockdown, als er mit ihm gemeinsam das Buch „Wage zu träumen!“ verfasst hat, um die Botschaft des Papstes aus der Corona-Pandemie weiter zu streuen, erzählt Ivereigh weiter. Es gebe da nämlich eine Sache, „für die er ein ganz besonderes Talent“ habe: „In Argentinien hat man ihn damals auch den ,Sturmpiloten‘ genannt. In der Krise ist Bergoglio dein Mann. Er weiß, wie man die stürmische See navigiert, er sieht, wo die Felsen unter der Oberfläche liegen. Und er sieht den Horizont in der Ferne, auf den wir zusteuern. Als die Corona-Krise kam, hatte er also eine wichtige Botschaft für die Menschheit, wie wir aus der Krise besser herauskommen als wir hineingegangen sind.“

Cover des gemeinsam geschriebenen Buches
Cover des gemeinsam geschriebenen Buches

Für die Menschen nahbar und offen

„Wenn es um die Kirche geht, sollen die Menschen als erstes sehen und verstehen, dass hier jemand Gottes Liebe verkörpern will“

Insgesamt werde der Papst bei seinen Entscheidungen und in seinem Führungsstil vor allem von den Worten des Evangeliums geleitet, zeigt sich Ivereigh weiter überzeugt: „Wenn es um die Kirche geht, sollen die Menschen als erstes sehen und verstehen, dass hier jemand Gottes Liebe verkörpern will. Darüber spricht er sehr viel, und ich denke deshalb ist er auch für die Menschen so nahbar und offen. Deshalb arbeitet er auch mit so Leuten wie mir, ich denke in solchen Gesten sieht er als Papst die Zeichen der Zeit. Und deshalb spricht er sich auch gegen die alten Zeiten des Klerikalismus aus, aber auch im größeren Kontext gegen die Logik der kapitalistischen Wirtschaft, wo eben nicht der Mensch im Mittelpunkt steht. Deshalb stören ihn auch Reformen in der Kirche, die hauptsächlich die Institution reformieren wollen. Die Menschen sollen sich reformieren und auf Christus ausrichten.“ 

„Er ist viel ruhiger geworden“

Doch in den vergangenen Jahren habe Franziskus – dem natürlichen Älterwerden geschuldet – einiges von seiner Energie verloren, räumt der Papstbiograf weiter ein: „Er hatte immer diesen riesigen Tatendrang und einen großen Druck dahinter, das ist jetzt nicht mehr so. Er ist viel ruhiger geworden”, meint Ivereigh. Allerdings glaube er nicht, dass das seine Fähigkeit einschränke, die Kirche weiter zu führen – anders als bei seinem Vor-Vorgänger Johannes Paul II., der aufgrund seiner Parkinson-Erkrankung in seinen letzten Lebensjahren stark eingeschränkt gewesen sei. Doch wenn es soweit käme, zöge er wohl, auch aufgrund des Beispiels von Benedikt XVI., einen Rücktritt in Betracht. Dies stehe jedoch auch trotz der derzeitigen gesundheitlichen Einschränken zeitnah wohl nicht zur Debatte: „Auf der anderen Seite weiß ich auch, dass ihm das allerwichtigste ist, Entscheidungen im eigenen Willen und in voller Freiheit zu treffen. Wenn es also so weit ist, die Zeit für den Rücktritt kommt, dann werden wir es alle wahrscheinlich nicht kommen sehen.“

„Die Menschen erwachen, entdecken eine neue Liebe für die Schöpfung. Sie kümmern sich um die Schwachen, um Randgruppen. Es gibt ein neues Bewusstsein für diese Fragen.“

Ihm bringe das Pontifikat des Papstes persönlich Hoffnung, sei er doch dankbar dafür, dass an der Spitze der Kirche jemand stehe, „der einen klaren Blick für die Zeichen der Zeit hat und kommunizieren kann, was wir als Christen und Menschen heute brauchen.“ Trotz aller Negativ-Schlagzeilen dieser Tage sehe er, dass Franziskus mit seiner Botschaft bei den Menschen ankomme: „Die Menschen erwachen, entdecken eine neue Liebe für die Schöpfung. Sie kümmern sich um die Schwachen, um Randgruppen. Es gibt ein neues Bewusstsein für diese Fragen, und das bringt mir Hoffnung, denn nur so kommen wir dem Reich Gottes ein Stück näher. Franziskus sagt gerne: Hoffnung ist nie verschwendet. “

Autor mehrerer Bücher über den Papst

Austen Ivereigh ist Autor dreier Bücher über Papst Franziskus. Kurz nach seiner Wahl erschien die Biografie „The Great Reformer“ (2014), 2019 dann „Wounded Shepherd“ sowie zuletzt das Buch „First belong to God“ (2024), in dem er sich mit den geistlichen Exerzitien von Franziskus befasst und für das der Papst selbst das Vorwort beigesteuert hat. Gemeinsam mit Franziskus hatte er das Buch „Wage zu träumen!“ von 2020 verfasst.

(podcast himmelklar - cs)

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27. März 2024, 12:41