Wortlaut: Papstbotschaft zum 4. Welttag der Großeltern
Liebe Brüder und Schwestern!
Gott lässt seine Kinder nicht im Stich, niemals. Auch dann nicht, wenn das Alter fortschreitet und die Kraft nachlässt, wenn das Haar weißer wird und die soziale Stellung abnimmt, wenn das Leben weniger produktiv wird und droht, als nutzlos zu erscheinen. Er achtet nicht auf Äußerlichkeiten (vgl. 1 Sam 16,7) und scheut sich nicht, diejenigen auszuwählen, die vielen unbedeutend erscheinen. Er wirft keinen Stein weg; im Gegenteil, die „ältesten“ sind das sichere Fundament, auf das sich die „neuen“ Steine stützen können, um gemeinsam das geistige Haus zu bilden (vgl. 1 Petr 2,5).
Die Heilige Schrift ist in ihrer Gesamtheit eine Erzählung von der treuen Liebe des Herrn, aus der sich eine tröstliche Gewissheit ergibt: Gott zeigt uns weiterhin sein Erbarmen, immer, in jeder Lebensphase und in jeder Lage, in der wir uns befinden, auch in unserer Untreue. Die Psalmen sind voll vom Staunen des menschlichen Herzens über Gott, der sich trotz unserer Dürftigkeit um uns kümmert (vgl. Ps 144,3-4); sie versichern uns, dass Gott jeden von uns bereits im Mutterschoß gewoben hat (vgl. Ps 139,13) und dass er uns auch in der Totenwelt nicht im Stich lassen wird (vgl. Ps 16,10). Deshalb können wir gewiss sein, dass er uns auch im Alter nahe sein wird, zumal in der Bibel das Älterwerden ein Zeichen des Segens ist.
Doch in den Psalmen finden wir auch diese inständige Bitte an den Herrn: »Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin« (Ps 71,9). Ein starker, sehr harter Ausdruck. Er erinnert an das extreme Leiden Jesu, der am Kreuz schrie: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mt 27,46).
In der Bibel finden wir also die Gewissheit, dass Gott uns in jedem Lebensalter nahe ist, und gleichzeitig die Furcht vor dem Verlassenwerden, besonders im Alter und in Zeiten des Leids. Dies ist kein Widerspruch. Wenn wir uns umschauen, können wir leicht erkennen, dass solche Äußerungen eine mehr als offensichtliche Realität widerspiegeln. Nur allzu oft ist die Einsamkeit die bittere Begleiterin im Leben von uns älteren Menschen und Großeltern. Als Bischof von Buenos Aires besuchte ich häufig Altenheime und musste feststellen, wie selten diese Menschen Besuch bekamen: Manche hatten ihre Lieben seit vielen Monaten nicht mehr gesehen.
Die Ursachen für diese Einsamkeit sind vielfältig: In vielen Ländern, vor allem in den ärmsten, sind die älteren Menschen allein, weil ihre Kinder zum Auswandern gezwungen sind. Oder wenn ich an die vielen Krisengebiete denke: Wie viele ältere Menschen bleiben allein zurück, weil die Männer – junge und alte – in den Kampf ziehen müssen und die Frauen, vor allem die Mütter mit kleinen Kindern, das Land verlassen, um für die Sicherheit ihrer Kinder zu sorgen. In den vom Krieg verwüsteten Städten und Dörfern bleiben viele alte und ältere Menschen allein zurück, als einzige Zeichen des Lebens in Gebieten, in denen Verlassenheit und Tod zu herrschen scheinen. In anderen Teilen der Welt gibt es einen in manchen lokalen Kulturen tiefsitzenden Irrglauben, der Feindseligkeit gegenüber älteren Menschen hervorruft. Sie werden verdächtigt, sich der Hexerei zu bedienen, um den jungen Menschen ihre Lebenskraft zu entziehen, so dass im Falle eines vorzeitigen Todes, einer Krankheit oder eines widrigen Schicksals, das einem jungen Menschen widerfährt, die Schuld auf irgendeinen alten Menschen geschoben wird. Diese Mentalität muss bekämpft und ausgemerzt werden. Sie gehört zu den grundlosen Vorurteilen, von denen uns der christliche Glaube befreit hat, und schürt einen anhaltenden Generationenkonflikt zwischen Jung und Alt.
Wenn wir genauer darüber nachdenken, ist dieser Vorwurf an die Alten, sie würden „der Jugend die Zukunft stehlen“, heute überall zu hören. Auch in den modernsten und fortschrittlichsten Gesellschaften findet er sich in anderer Form wieder. So ist es zum Beispiel eine weit verbreitete Überzeugung, dass die Älteren den Jungen die Kosten für ihre Pflege aufbürden und auf diese Weise Ressourcen von der Entwicklung des Landes und damit von den Jungen abziehen. Dies ist eine verzerrte Wahrnehmung der Realität. Es ist, als würde das Überleben der Älteren das der Jungen gefährden. So als ob man, um die Jungen zu fördern, die Älteren vernachlässigen oder sogar beseitigen müsste. Die Entgegensetzung der Generationen ist eine Irreführung und eine vergiftete Frucht der Kultur der Konfrontation. Die Jungen gegen die Alten auszuspielen ist eine inakzeptable Manipulation: »Die Einheit der Lebensabschnitte steht auf dem Spiel, also der wahre Bezugspunkt für das Verständnis und die Wertschätzung des menschlichen Lebens insgesamt« (Katechese am 23. Februar 2022).
Der oben zitierte Psalm – wo einer fleht, im Alter nicht verlassen zu werden – spricht von einer Verschwörung in Bezug auf das Leben der älteren Menschen. Das scheinen übertriebene Worte zu sein, aber man versteht sie, wenn man bedenkt, dass die Einsamkeit und die Ausrangierung älterer Menschen weder zufällig noch unausweichlich sind, sondern das Ergebnis von Entscheidungen – politischer, wirtschaftlicher, sozialer und persönlicher Art – , die die unendliche Würde eines jeden Menschen »unabhängig von allen Umständen und in welchem Zustand oder in welcher Situation sie sich auch immer befinden mag« (Erklärung Dignitas infinita, 1), nicht anerkennen. Das geschieht, wenn die Wertschätzung für jeden Menschen verloren geht und Menschen nur noch als Kostenfaktor betrachtet werden, der in manchen Fällen zu hoch ist, um ihn zu bezahlen. Noch schlimmer ist, dass die älteren Menschen oft selbst dieser Mentalität verfallen und sich nur noch als Last empfinden, und am liebsten selber verschwinden möchten.
Auf der anderen Seite gibt es heute viele Frauen und Männer, die versuchen, sich in einem möglichst autonomen und von anderen unabhängigen Leben selbst zu verwirklichen. Gemeinsame Zugehörigkeiten stecken in der Krise und die Individualität setzt sich durch; die Verschiebung vom „Wir“ zum „Ich“ scheint eines der deutlichsten Zeichen unserer Zeit zu sein. Die Familie, die als erste und am radikalsten die Vorstellung in Frage stellt, dass wir uns selbst retten können, ist eines der Opfer dieser individualistischen Kultur. Doch wenn man älter wird und die Kräfte nachlassen, entpuppt sich das Trugbild des Individualismus, die Illusion, niemanden zu brauchen und ohne Bindungen leben zu können, als das, was es ist; man stellt fest, dass man alles braucht, aber jetzt allein ist, ohne Hilfe, ohne jemanden, auf den man sich verlassen kann. Das ist eine traurige Entdeckung, die viele erst machen, wenn es zu spät ist.
Einsamkeit und Ausgrenzung gehören mittlerweile zu den geläufigen Phänomenen in unserer Lebenswelt. Ihre Ursachen sind vielfältig: In einigen Fällen sind sie das Ergebnis eines geplanten Ausschlusses, einer Art trauriger „sozialer Verschwörung“; in anderen Fällen handelt es sich leider um die eigene Entscheidung. Wieder andere Male werden sie in Kauf genommen, indem man so tut, als sei es eine autonome Entscheidung. Mehr und mehr haben wir »den Geschmack an der Geschwisterlichkeit verloren« (Enzyklika Fratelli tutti, 33) und es fällt uns schwer, uns überhaupt etwas anderes vorzustellen.
Wir können bei vielen älteren Menschen jenes Gefühl der Resignation beobachten, von dem das Buch Rut spricht, wenn es von der alten Noemi erzählt, die nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Kinder ihre beiden Schwiegertöchter Orpa und Rut ermuntert, in ihr Herkunftsland und ihre Heimat zurückzukehren (vgl. Rut 1,8). Noemi hat – wie viele ältere Menschen heute – Angst davor, allein zu bleiben, doch sie kann sich nichts anderes vorstellen. Als Witwe ist sie sich bewusst, dass sie in den Augen der Gesellschaft wenig wert ist und sie ist überzeugt, dass sie den beiden jungen Frauen, die im Gegensatz zu ihr ihr ganzes Leben noch vor sich haben, zur Last fällt. Deshalb hält sie es für besser, zur Seite zu treten, und sie selbst fordert ihre jungen Schwiegertöchter auf, sie zu verlassen und sich woanders eine Zukunft aufzubauen (vgl. Rut 1,11-13). Ihre Worte sind eine Zusammenfassung gesellschaftlicher und religiöser Konventionen, die unveränderlich zu sein scheinen und die ihr Schicksal prägen.
Die biblische Erzählung stellt uns an dieser Stelle zwei verschiedene Optionen in Bezug auf die Einladung von Rut und damit in Bezug auf das Alter vor. Eine der beiden Schwiegertöchter, Orpa, die Noemi ebenfalls gernhat, küsst sie liebevoll, akzeptiert aber das, was auch ihr als die einzig mögliche Lösung erscheint, und geht ihres Weges. Rut hingegen trennt sich nicht von Noemi und sagt überraschende Worte zu ihr: »Dränge mich nicht, dich zu verlassen« (Rut 1,16). Sie scheut sich nicht, die Sitten und das allgemeine Empfinden infrage zu stellen, sie spürt, dass die alte Frau sie braucht, und bleibt mutig an ihrer Seite auf dem neuen Weg, der für sie beide beginnt. Uns allen, die wir an die Vorstellung gewöhnt sind, dass Einsamkeit ein unausweichliches Schicksal ist, lehrt Rut, dass man auf die Aufforderung „Verlass mich nicht!“ mit „Ich werde dich nicht verlassen!“ antworten kann. Sie zögert nicht, etwas scheinbar Unabänderliches zu ändern: Allein zu leben kann nicht die einzige Alternative sein! Es ist kein Zufall, dass Rut – diejenige, die der alten Noemi nahe bleibt – eine Vorfahrin des Messias ist (vgl. Mt 1,5), von Jesus, dem Emmanuel, dem „Gott mit uns“, der Gottes Nähe und Gegenwart allen – egal in welchen Umständen und in welchem Alter – zu Teil werden lässt.
Die Freiheit und der Mut von Rut laden uns ein, einen neuen Weg zu gehen: Treten wir in ihre Fußstapfen, machen wir uns mit dieser jungen Ausländerin und der alten Noemi auf den Weg, haben wir keine Angst, unsere Gewohnheiten zu ändern und uns eine andere Zukunft für unsere älteren Menschen vorzustellen. Unser Dank gilt all den Menschen, die trotz vieler Opfer dem Beispiel von Rut gefolgt sind und sich um einen älteren Menschen kümmern oder einfach täglich Verwandten oder Bekannten, die niemanden mehr haben, ihre Nähe zeigen. Rut hat sich dafür entschieden, bei Noemi zu bleiben und Segen wurde ihr zuteil: eine glückliche Ehe, Nachkommen, Land. Das gilt immer und für alle: Wenn wir älteren Menschen beistehen und die unverzichtbare Rolle anerkennen, die ihnen in der Familie, in der Gesellschaft und in der Kirche zukommt, werden auch wir viele Geschenke, viele Gnaden und reichen Segen empfangen!
Lasst uns an diesem vierten Welttag, der den Großeltern und den älteren Menschen in unseren Familien gewidmet ist, nicht versäumen, ihnen unsere Liebe zu zeigen, lasst uns die besuchen, die entmutigt sind und nicht mehr hoffen, dass eine andere Zukunft möglich ist. Entgegnen wir der egoistischen Haltung, die zu Ausgrenzung und Einsamkeit führt, mit dem offenen Herzen und dem fröhlichen Gesicht derer, die den Mut haben zu sagen: „Ich verlasse dich nicht!“ und einen neuen Weg einschlagen.
Ich segne euch alle, liebe Großeltern und ältere Menschen, und all jene, die euch nahestehen, und bete für euch. Vergesst bitte auch ihr nicht, für mich zu beten.
Rom, Sankt Johannes im Lateran, am 25. April 2024.
FRANZISKUS
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