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Der Papst in Triest Der Papst in Triest

Papst in Triest: Die Ansprache im Wortlaut

Papst Franziskus nimmt in der Adria-Hafenstadt am Abschluss der 50. Sozialwoche der italienischen Katholiken teil. Radio Vatikan dokumentiert an dieser Stelle in einer Arbeitsübersetzung die Ansprache, die Franziskus vor den Kongressteilnehmern gehalten hat.

Verehrte Behördenvertreter, liebe Brüder im Bischofsamt, meine Herren Kardinäle, Brüder und Schwestern, guten Tag!

Ich danke Kardinal Zuppi und Monsignor Baturi für die Einladung, an dieser Abschlusssitzung teilzunehmen. Ich grüße Monsignore Renna und das wissenschaftliche und organisatorische Komitee der Sozialwochen. Im Namen aller danke ich Monsignore Trevisi für den herzlichen Empfang der Diözese Triest. (...)

Die 50. Sozialwoche geht nun zu Ende. Die Geschichte der „Sozialwochen“ ist eng mit der Geschichte Italiens verwoben, und das besagt schon viel: Es sagt etwas aus über eine Kirche, die für die Veränderungen in der Gesellschaft empfänglich ist und sich bemüht, zum Gemeinwohl beizutragen. Auf der Grundlage dieser Erfahrung wollten Sie ein hochaktuelles Thema aufgreifen: „Im Herzen der Demokratie. Partizipation zwischen Geschichte und Zukunft“.

Der selige Giuseppe Toniolo, der diese Initiative 1907 ins Leben rief, hat betont, dass Demokratie definiert werden könne als „jene bürgerliche Ordnung, in der alle sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Kräfte in der Fülle ihrer hierarchischen Entwicklung proportional zum Gemeinwohl zusammenwirken, wobei sie letztendlich zum überwiegenden Vorteil der unteren Klassen beitragen“ (G. TONIOLO, Democrazia cristiana. Concetti e indirizzi, I, Vatikanstadt 1949, 29). Im Licht dieser Definition ist es - seien wir ehrlich - offensichtlich, dass es um die Demokratie in der heutigen Welt nicht gut bestellt ist. Das ruft uns auf den Plan und gibt Grund zur Sorge, denn es geht um das Wohl des Menschen, und nichts wahrhaft Menschliches darf uns fremd sein (Vgl. ZWEITES VAT. KONZIL, Past. Konst. Gaudium et spes, 1).

Die demokratische Ordnung ist in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg gereift, auch dank des entscheidenden Beitrags der Katholiken. Wir können stolz sein auf diese Geschichte, in die auch die Erfahrung der Sozialwochen eingeflossen ist. Ohne die Vergangenheit mythologisieren zu wollen, müssen wir aus ihr lernen, um die Verantwortung zu übernehmen, in unserer Zeit etwas Gutes aufzubauen. Diese Haltung geht auch aus der Pastoralen Note hervor, mit der der italienische Episkopat 1988 die Sozialwochen eingeführt hat. Und zwar mit folgenden Zielen: „Dem Engagement aller für die Umgestaltung der Gesellschaft einen Sinn zu geben; den Menschen Aufmerksamkeit zu schenken, die außerhalb oder am Rande der Prozesse und der gewinnbringenden wirtschaftlichen Mechanismen stehen; der sozialen Solidarität in all ihren Formen Raum zu geben; die Rückkehr einer fürsorglichen Ethik des Gemeinwohls zu unterstützen [...]; der Entwicklung des Landes einen Sinn zu geben, verstanden [...] als globale Verbesserung der Lebensqualität, des kollektiven Zusammenlebens, der demokratischen Teilhabe und der echten Freiheit” (ITAL. BISCHOFSKONFERENZ, Wiederherstellung und Erneuerung der Sozialen Wochen der italienischen Katholiken, 20. November 1988, Nr. 4).

Diese Vision, die in der Soziallehre der Kirche verwurzelt ist, umfasst bestimmte Dimensionen des christlichen Engagements und eine evangeliumsgemäße Lesart der sozialen Phänomene, die nicht nur für den italienischen Kontext gültig sind, sondern eine Warnung für die gesamte menschliche Gesellschaft und den Weg aller Völker darstellen. So wie sich die Krise der Demokratie in den verschiedenen Realitäten und Nationen widerspiegelt, so ist auch die Haltung der Verantwortung den sozialen Veränderungen gegenüber ein Aufruf an alle Christen, wo immer sie leben und arbeiten, in allen Teilen der Welt.

Es gibt ein Bild, das alles zusammenfasst und das Sie als Symbol für dieses Event gewählt haben: das Herz. Ausgehend von diesem Bild schlage ich zwei Reflexionen vor, um den vor uns liegenden Weg zu illustrieren.

In der ersten können wir uns die Krise der Demokratie als verwundetes Herz vorstellen. Was die Partizipation einschränkt, steht uns vor Augen. Wenn Korruption und Gesetzlosigkeit ein „verwundetes“ Herz zeigen, müssen auch die verschiedenen Formen der sozialen Ausgrenzung Anlass zur Sorge geben. Jedes Mal, wenn jemand ausgegrenzt wird, leidet der ganze soziale Körper. Die Wegwerf-Kultur steht für eine Stadt, in der kein Platz ist für die Armen, die Ungeborenen, die Schwachen, die Kranken, die Kinder, die Frauen, die jungen Menschen, die alten Menschen. (...) Die Macht wird selbstbezogen - das ist eine häßliche Krankheit! -, unfähig, den Menschen zuzuhören und ihnen zu dienen. Aldo Moro hat daran erinnert, dass „ein Staat nicht wirklich demokratisch ist, wenn er nicht im Dienst des Menschen steht; wenn sein oberstes Ziel nicht die Würde, die Freiheit und die Autonomie der menschlichen Person ist; wenn er nicht jene sozialen Gebilde achtet, in denen sich die menschliche Person frei entfalten und ihre Persönlichkeit einbringen kann“ (A. MORO, Il fine è l’uomo, Edizioni di Comunità, Rom 2018, 25).

Schon das Wort „Demokratie“ selbst ist nicht einfach mit Volksentscheid gleichzusetzen (...), sondern verlangt, dass die Bedingungen geschaffen werden, damit sich jeder äußern und beteiligen kann. Und Partizipation kann nicht improvisiert werden: Man lernt sie als Kind, als Jugendlicher. Sie muss „trainiert“ werden, und das schließt auch einen kritischen Sinn gegenüber ideologischen und populistischen Verlockungen mit ein. In dieser Perspektive ist es – wie wie ich vor Jahren bei meinem Besuch im Europäischen Parlament und beim Europarat betonen konnte –, wichtig, „den Beitrag zu verstehen, den das Christentum heute zur kulturellen und gesellschaftlichen europäischen Entwicklung im Rahmen einer rechten Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft leisten kann“ (Ansprache vor dem Europarat, Straßburg, 25. November 2014). Und zwar durch die Förderung eines fruchtbaren Dialogs mit der Zivilgesellschaft und den politischen Institutionen, damit wir, indem wir uns gegenseitig aufklären und uns vom Ballast der Ideologien befreien, ein gemeinsames Nachdenken insbesondere über Fragen des menschlichen Lebens und der Menschenwürde anstoßen können. (...)

In diesem Sinne bleiben die Grundsätze der Solidarität und der Subsidiarität auch weiter fruchtbar. Ein Volk wird nämlich durch die Bande zusammengehalten, die es ausmachen. Und diese Bande werden gestärkt, wenn jeder einzelne wertgeschätzt wird. (...) Demokratie erfordert immer einen Wechsel von der Anhängerschaft zur Partizipation, von der Begeisterung zum Dialog. „Solange unser Wirtschafts- und Sozialsystem auch nur ein Opfer hervorbringt und solange auch nur eine Person ausrangiert wird, kann man nicht von universaler Geschwisterlichkeit sprechen. Eine menschliche und geschwisterliche Gesellschaft ist in der Lage, auf effiziente und stabile Weise dafür zu sorgen, dass alle Menschen auf ihrem Lebensweg begleitet werden, nicht nur, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, sondern damit sie das Beste geben können, selbst wenn ihre Leistung dann vielleicht nicht hervorragend ist, auch wenn sie nur langsam vorankommen, auch wenn ihre Effizienz von geringer Bedeutung sein wird“ (Enz. Fratelli tutti, 110). Jeder muss sich als Teil eines Gemeinschaftsprojekts verstehen; niemand darf sich nutzlos fühlen. Bestimmte Formen des Wohlfahrtsstaates, die die Würde der Menschen nicht anerkennen ... Ich höre bei dem Wort Wohlfahrtsstaat auf. Der Welfarismus, das allein, ist der Feind der Demokratie und der Feind der Nächstenliebe. Und bestimmte Formen der Fürsorge, die die Würde des Menschen nicht anerkennen, sind soziale Heuchelei. Das sollten wir nicht vergessen. Und was steckt hinter dieser Distanzierung von der sozialen Wirklichkeit? Es ist die Gleichgültigkeit, und die Gleichgültigkeit ist ein Krebsgeschwür der Demokratie, eine Nichtbeteiligung.

Die zweite Überlegung ist eine Ermutigung zur Partizipation, damit die Demokratie einem geheilten Herzen gleichen kann. (...) Und dafür muss man Kreativität walten lassen. Wenn wir uns umschauen, sehen wir viele Zeichen des Wirkens des Heiligen Geistes im Leben von Familien und Gemeinschaften – selbst in den Bereichen Wirtschaft, Technik, Politik und Gesellschaft. Wir müssen nur an jene denken, die in einem Unternehmen Platz gemacht haben für Menschen mit Behinderungen; an Arbeitnehmer, die auf eines ihrer Rechte verzichtet haben, um die Entlassung anderer zu verhindern; an Gemeinschaften für erneuerbare Energien, die die integrale Ökologie fördern und sich dabei auch um Familien kümmern, die in Energiearmut leben; an Administratoren, die die Steigerung der Geburtenrate fördern, die Beschäftigung, Schulen, das Bildungswesen, barrierefreien Wohnraum, Mobilität für alle und die Integration von Migranten. (...)

Geschwisterlichkeit lässt die sozialen Beziehungen gedeihen, und die gegenseitige Fürsorge erfordert andererseits den Mut, sich als Volk zu verstehen. (...) Leider wird diese Kategorie – „Volk“ - oft falsch interpretiert und „könnte dazu führen, das Wort “Demokratie” – nämlich die „Herrschaft des Volkes“ – selbst auszulöschen. Aber der Begriff “Volk” ist notwendig (...), um auszusagen, dass die Gesellschaft mehr ist als die bloße Summe von Individuen.“ (ebd. 157). In der Tat „ist es sehr schwierig, etwas Großes langfristig zu planen, wenn man nicht erreicht, dass es zu einem kollektiven Traum wird“ (ebd). Eine Demokratie mit geheiltem Herzen kultiviert weiter Träume für die Zukunft, ruft uns auf den Plan, fordert persönliches und gemeinschaftliches Engagement. (...)

Lassen wir uns nicht von einfachen Lösungen täuschen. Gehen wir stattdessen eine Verpflichtung zum Gemeinwohl ein. Es ist unsere Pflicht, das Wort Demokratie nicht zu manipulieren oder mit leeren Titeln zu deformieren, die jede Handlung rechtfertigen können. Die Demokratie ist keine leere Hülle – sie ist an die Werte der Person, der Geschwisterlichkeit und der integralen Ökologie gebunden.

Als Katholiken können wir uns in diesem Horizont nicht mit einem marginalen oder privaten Glauben zufriedengeben. Und das bedeutet nicht, zu fordern, gehört zu werden, sondern vor allem den Mut zu haben, in die öffentliche Debatte Vorschläge für Gerechtigkeit und Frieden einzubringen. Wir haben etwas zu sagen, aber nicht, um Privilegien zu verteidigen. Wir müssen eine Stimme sein, die anprangert und Vorschläge macht in einer Gesellschaft, die oft tonlos ist und in der zu viele keine Stimme haben. (...) Das ist die politische Liebe (ebd., 180-182), die sich nicht damit begnügt, die Auswirkungen zu pflegen, sondern versucht, die Ursachen zu bekämpfen. Es ist eine Form der Nächstenliebe, die es der Politik ermöglicht, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und sich von Polarisierungen zu lösen, die uns verarmen lassen und nicht helfen, die Herausforderungen zu verstehen und zu bewältigen. Die gesamte christliche Gemeinschaft ist zu dieser politischen Nächstenliebe gerufen, in der Unterscheidung der Ämter und Charismen. Schulen wir uns in dieser Liebe, um sie in einer Welt, der es an ziviler Leidenschaft mangelt, in Umlauf zu bringen. (...) Lernen wir immer mehr und immer besser, gemeinsam als Volk Gottes zu gehen, um ein Sauerteig der Teilhabe inmitten des Volkes zu sein, zu dem wir gehören. (...)

Giorgio La Pira schwebte ein Protagonismus der Städte vor, die nicht die Macht haben, Kriege zu führen, aber den höchsten Preis dafür zahlen. Und so hat er sich ein System von „Brücken“ zwischen den Städten der Welt vorgestellt, um Möglichkeiten für Einheit und Dialog zu schaffen. Dem Beispiel La Piras folgend, sollte es den katholischen Laien in Italien nicht an dieser Fähigkeit fehlen, „die Hoffnung zu organisieren“: Frieden und gute politische Projekte können von der Basis aus wiedergeboren werden. Warum also sollten wir die Bemühungen um eine soziale und politische Bildung, die von der Jugend ausgeht, nicht wiederaufnehmen, unterstützen und vervielfachen? Warum sollten wir nicht den Reichtum der Soziallehre der Kirche teilen? Wir können Orte des Austausches und des Dialogs sein und Synergien für das Gemeinwohl fördern. Wenn uns der synodale Prozess in der gemeinschaftlichen Unterscheidung geschult hat, so möge uns der Horizont des Heiligen Jahres als Pilger der Hoffnung für das Italien von morgen aktiv werden lassen. Als Jünger des auferstandenen Herrn dürfen wir nie aufhören, die Zuversicht zu nähren; in der Gewissheit, dass die Zeit dem Raum überlegen ist (...) und dass es klüger ist, Prozesse in Gang zu bringen als Räume zu besetzen. (...) Das ist die Aufgabe der Kirche: die Hoffnung zu nähren, denn ohne sie verwaltet man die Gegenwart, baut aber nicht die Zukunft. (...)

Brüder und Schwestern, ich danke Ihnen für Ihr Engagement. Ich segne Sie und wünsche Ihnen, dass Sie Handwerker der Demokratie und ansteckende Zeugen der Partizipation sein mögen. Und ich bitte Sie, für mich zu beten, denn meine Arbeit ist nicht einfach. Danke. (...)

(vaticannews - übersetzung: silvia kritzenberger)

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07. Juli 2024, 10:02