Kinderschutzexperte: Missbrauchsfälle wie ein langsames Gift
Mario Galgano - Vatikanstadt
Vatican News: Zu diesem Bericht* aus Pennsylvania hat der Vatikan mit Scham und Trauer darauf reagiert. Wie haben Sie die Berichte wahrgenommen, die aus Pennsylvania kamen? Hat Sie das überrascht oder haben Sie es so erwartet?
P. Zollner: Auf der einen Seite war ja schon seit Wochen angekündigt, dass dieser Bericht kommen würde und in etwa war auch der Inhalt klar. Es war klar, dass es sich um horrende Zahlen handeln wurde in Bezug auf Missbrauch in den letzten 70 Jahren in diesen sechs Diözesen geschehen ist. Und es war klar, dass das ein großes Medienecho finden wird und dass natürlich wieder die Frage gestellt wird, warum muss sich so etwas wiederholen? Warum wird wieder und wieder diese Art von Verbrechen bekannt gemacht werden müssen? Weil es so viele Priester gab, die Kinder oder Jugendliche missbraucht haben.
Vatican News: Wo stehen die USA in der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Vergleich zu anderen Ländern?
P. Zollner: Die USA sind natürlich weit voraus. Nicht nur, weil dieses Thema dort schon seit 30 ‚Jahren sehr stark in der Öffentlichkeit steht, anders als bei uns, wo es erst vor ungefähr neun Jahren an die Öffentlichkeit drang. Zweitens hat das Rechtssystem der USA befördert, dass Menschen zu den Gerichten gehen, weil dort völlig andere Summen an Entschädigungszahlen möglich sind, als es in fast allen anderen Ländern der Fall ist. Das liegt an dem speziellen Rechtssystem und den verschiedenen Möglichkeiten, strafrechtlich und zivilrechtlich vorzugehen. Insofern ist bei den Zahlen aus Pennsylvania auch interessant, darauf hinzuweisen, dass kaum eine der jetzt als Opfer bekannten Personen die Möglichkeit haben wird, straf- oder zivilrechtlich vorzugehen, weil die Straftaten nach dem dortigen Gesetz bereits verjährt sind. Das heiß aber nicht, dass sie kirchenrechtlich verjährt sind. Im Kirchenrecht gibt es ja besondere Möglichkeiten, die Verjährung aufzuheben.
Vatican News: Heißt das, dass die Arbeit der Grand Jury jetzt hauptsächlich für die Kirche gemacht wurde? Warum hat man die Aufarbeitung sonst auch nach der Verjährung gemacht?
P. Zollner: Man hat es sicherlich gemacht, weil sich sehr viele Betroffene von Missbrauch gemeldet haben. Ich kann nicht sagen, wieso speziell dieser Report und die Grand Jury einberufen wurden, um die katholischen Diözesen in Pennsylvania zu durchleuchten. Aber ich vermute, dass dies mit der Gesamtsituation in den USA zusammenhängt, wo tausende protestantische Kirche existieren und nur eine katholische Kirche. Darauf ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit stark auf den Missbrauch in der katholischen Kirche fokussiert.
Vatican News: In Deutschland hat der Missbrauchsbeauftragte der Regierung, Johannes-Wilhelm Rörig, die katholische Kirche und konkret die Bischöfe kritisiert, dass sie Archive zum Teil nicht öffnen würden. Der entsprechende Beauftragte der Bischofskonferenz Bischof Ackermann, hat das zurückgewiesen. Wo steht denn Deutschland heute, 2018, bei der Aufarbeitung?
P. Zollner: Ich lebe nicht in Deutschland und bin direkt mit der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen kaum befasst. Ich glaube durchaus, was der Bischof Ackermann sagt: Dass die Bischöfe kooperieren und das, was getan werden muss, geschieht. Dass es bei einzelnen Fällen nicht auf eine große Kooperationsbereitschaft stößt, kann ich mir auch vorstellen. Ich habe selbst vor einigen Jahren, als das Forschungsprojekt der Bischofskonferenz zu diesen Fragen vorgestellt wurde, von den entsprechenden Professoren auch gehört, dass sie sich nicht erwarten, dass in den Diözesanarchiven alle Akten von vor 70, 60, 40 Jahren korrekt geordnet sind. Das wird erst in den letzten Jahren mit Konsequenz gemacht. Es wurde auch in anderen Bereichen ähnlich gehandhabt. Daher ist das Potential, dass sich aus den Akten von Diözesen und Ordensgemeinschaften ergibt sehr unterschiedlich und sicher keine durchgängig verlässliche Basis für die Aufarbeitung – einfach, weil vielleicht Akten damals nicht aufgenommen wurden oder bei gesetzlich vorgeschriebenen Aktenvernichtungsmaßnahmen vernichtet wurden.
Vatican New: Die Art und Weise, wie man in Pennsylvania vorgegangen ist, mit einer Grand Jury, würden Sie das auch für uns in Europa empfehlen? Ein staatliches Vorgehen, um diese Fälle zu untersuchen?
P. Zollner: Ich glaube, dass das durchaus ein Modell ist und sein kann, um das Geschehene ans Licht zu bringen, denn es muss ans Licht kommen. Es wirkt wie ein langsames Gift, dass dann an einem bestimmten Punkt, wie wir jetzt sehen, auch ganz massive Folgen hat und massiv Schaden anrichtet. Deshalb muss es frühzeitig erkannt und auch wirklich aufgedeckt werden. Die große Schwierigkeit ist: Wer soll das bezahlen? In der angelsächsischen Rechtstradition gibt es Kommissionen, die über Jahre viele Mitarbeiter, logistischen Aufwand haben. Es kostet dutzende Millionen, über Jahre hinweg. In Deutschland und in andren Rechtssystemen gibt es diese Möglichkeit der staatlich eingesetzten Untersuchungskommissionen nur sehr begrenzt. In Deutschland wäre das zum Beispiel eine Enquête-Kommission des Bundestages. Das passiert aber sowieso kaum und es wäre nicht klar, wer es bezahlt.
In den USA und auch in Australien war es dem Staat die Bezahlung wert. Ich glaube, in Deutschland wären wir überfordert. Aber es muss alles getan werden, damit diese Möglichkeit besteht, dass Menschen ,die missbraucht worden sind, angehört werden und dass sie dann die Hilfe erfahren, die man ihnen zudenken kann.
(vatican news)
*Der Bericht, der diese Woche veröffentlicht wurde, betrifft sechs der acht Diözesen, in die Pennsylvania aufgeteilt ist, und umfasst die letzten rund siebzig Jahre. Demnach hat die Untersuchungsbehörde glaubwürdige Indizien gegen mehr als dreihundert identifizierte Priester zusammengetragen. Über tausend Kinder und Jugendliche sind als Opfer bekannt, allein dank Unterlagen der Kirche selbst.
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