Abscheulich: Missbrauch von Kindern Abscheulich: Missbrauch von Kindern 

Missbrauchs-Überlebende: „Ich wusste lange nicht, was passiert war“

Den Menschen zuzuhören, die in der Kirche Opfer von Misshandlungen geworden sind, die Tiefe ihres Schmerzes zu ermessen, das ist eine der Prioritäten des beispiellosen viertägigen Kinderschutz-Gipels, der im Vatikan die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen der ganzen Welt sowie die Ordensoberen zusammenführt. Vatican News sprach mit einer Französin, die als Kind von einem Priester missbraucht wurde.

Hélène Destombes und Claudia Kaminski - Vatikanstadt

Die heute 70 Jahre alte Französin wurde in ihrer frühen Kindheit, im Alter von vier oder fünf Jahren, sexuell missbraucht. Nach vielen Jahren der Unterdrückung, des Schweigens und des Leidens, mit Hilfe von Verwandten und einem Therapeuten, kann sie mittlerweile über das Erlebte sprechen. Dabei will sie auch eine Botschaft der Hoffnung vermitteln: 

Zeugnis einer Missbrauchsüberlebenden


„Meine Geschichte ist auch mit der Geschichte meiner Schwester verbunden. Wir wurden in den 1950er Jahren von einem Priester sexuell missbraucht. Er wurde wegen erschwerender Umstände zu 20 Jahren Haft verurteilt und starb im Gefängnis. Meine Erinnerungen sind.... Ich war ein kleines Mädchen. Ich muss vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, ich weiß nicht genau, und sehr lange Zeit wusste ich nicht, was da passiert war.

„Ich will nicht berührt werden“

Meine Schwester war sich dessen viel mehr bewusst, sie ist vier Jahre älter als ich. Mir war es nicht in Erinnerung geblieben, aber es ging mir nicht gut. Sagen wir, ich war ein zerbrechlicher Mensch, ich fühlte mich in meinem Körper nicht gut, ich war sehr ängstlich. Es ist etwas, das das ganze Leben prägt. Das hat Folgen.... es ist schwer, das alles zu sagen. Ich erkannte, dass ich nicht gerne berührt werde, dass ich es nicht mag, wenn man meinen Körper berührt. Das ging sehr lange so. Ich wusste nicht, warum. Wenn mich jemand berührte, sagte ich: ,Ich will nicht berührt werden'. Es war eine körperliche Reaktion. Ich denke, dass der Körper Schaden genommen hat. Dann gibt es Vertrauen und Zweifel. Ich habe gezweifelt und ich zweifle viel, so sehr ist man innerlich betroffen.

„Die Erinnerung habe ich verdrängt“

Vatican News: Getroffen auf eine sehr tiefe Art und Weise. Welche Abwehrmechanismen gibt es, um eine solche Verletzung zu überleben?

„Ich glaube, ich habe diese Erinnerung verdrängt und dann bin ich weggelaufen. Ich wählte einen Beruf, der es mir erlaubte, bei Kindern zu sein, ich war Lehrerin in einer Grundschule. Heute denke ich, ich bin vor Erwachsenen weggelaufen. Dann trat ich in eine Kongregation ein, aber ich blieb nicht. Ich traf Leute, die verstanden, dass es mir nicht gut ging, und mich fragten, ob ich nicht eine Therapie machen wolle. Schließlich habe ich vier Jahre lang Psychoanalyse gemacht, aber die Verteidigungshaltung war immer noch da. Ich kann nicht sagen, dass es nicht geholfen hat, aber die Erinnerungen kamen nicht hoch. 

Dann, als ich das Kloster verließ, habe ich Sitzungen gemacht. In einem Sommer machte ich eine Sitzung über den Körper und träumte während dieser Sitzung. Ich träumte, dass er auf der Kanzel, in einer Kirche war und dass er meine Schwester und mich um Vergebung bat. Im Traum. Ich habe das geträumt! Auf einmal wurde mir das bewusst. Aber ich war 35 Jahre alt.“

Heirat? Unmöglich...

 

Vatican News: Welche Folgen hatte dieses Trauma für Ihr Leben? Ihr Leben als Frau?

„Ich bin nicht verheiratet. Ich konnte nicht, ich glaube nicht, dass ich dieses Stadium überwinden kann..... Das ist wirklich eines der schwierigsten Dinge.“

Vatican News: Weil Sie nicht heiraten konnten? Eine Familie gründen?

„Ja, eine Familie zu gründen. Irgendwie bin ich zutiefst in meiner Sexualität verletzt. Aber ich sage mir, dass ich jetzt damit leben muss. Mit einer Beinamputation, mit einem Unfall, mit einer Krankheit – man muss damit leben. Du tust, was du kannst, aber du lebst damit. Und ich denke, ich habe die Chance, jetzt reden zu können. Wenn ich aussage, dann nur, weil ich will, dass andere da herauskommen. Es ist möglich, da rauszukommen. Weil ich in den letzten Jahren einige Opfer getroffen habe, die sich in einem sehr ernsten Zustand befinden. Wir sind sehr tief verletzt.“

Vatican News: Die Opfer bezeugen sehr oft die Isolation, von einem Schweigen, das sie in Schmerz einschließt. Wie können wir das Unvermögen, über diese Tragödie zu sprechen, erklären?

„Ich erinnere mich, dass der Therapeut mir in der Therapie einmal gesagt hat: ,Du bist in einem Kino. Du schaffst deinen eigenen Film und schaust ihn dir an.' Und diesen Film nannte ich ,Die Scham'. Das ist etwas, was viele Missbrauchsopfer gemeinsam haben, denke ich. Es ist alles im Unterbewusstsein eingegraben. Sie sehen, wie gravierend das sein kann.“

„Die instiutionelle Kirche ist schwierig für mich. Aber ich gehöre ihr an, ich bin die Kirche“

Vatican News: Wie kann jemand, der als Kind von einem Priester missbraucht wurde, den Glauben bewahren?

„Der Glaube ist für mich etwas anderes, es ist meine Beziehung zu Gott. Ich konnte nie wütend auf Gott sein. Ich konnte ihm nie für irgendetwas die Schuld geben. Für mich ist Gott die Liebe. Vielleicht hat mich das auch gerettet. Und so geht der Glaube über all das hinaus. Religion ist etwas anderes, und die Kirche ist etwas anderes. Ich gebe der Kirche die Schuld, da bin ich wütend. Ich habe Gruppen gefunden, die es mir ermöglicht haben, meinen Glauben mit Laien zu leben. Aber die institutionelle Kirche, es ist wahr, das ist schwierig, aber ich gehöre ihr an, ich bin die Kirche.“

Vatican News: Können wir angesichts eines Traumas dieser Größenordnung über Heilung sprechen? Fühlen Sie sich in irgendeiner Weise erleichtert, geheilt?

„Ich fühle mich beruhigt. Ich hatte Glück, ich stieß auf einen Therapeuten.....den ich wählte. Ich bin besänftigt, manchmal wütend. Ich denke, dass es mir in den letzten Jahren, seit ich mehr spreche, ja vielleicht sogar bezeugen konnte, geholfen hat. Es verschafft Sinn. Zu versuchen, zu helfen, sich selbst zu sagen, dass es den Menschen vielleicht erlaubt, sich zu befreien, das macht viel Sinn für mich. Und das bedeutet auch, zu versuchen, das Evangelium zu leben, so gut wie ich kann, mit dem, was ich bin.“

(vatican news)

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23. Februar 2019, 13:53