Kardinal Kasper: „Deutschland ist nicht der allerlebendigste Teil der Weltkirche“
DOMRADIO.DE: Sie haben im März Ihren 86.Geburtstag gefeiert und begehen am 17. Juni Ihr dreißigjähriges Bischofsjubiläum. Wenn Sie auf Ihr Leben zurückschauen, was hat sich in der Kirche in dieser Zeit alles getan?
Walter Kardinal Kasper: Ich bin nach dem Krieg als Gymnasiast aufgewachsen. Damals bin ich in die liturgische Bewegung, die Bibelbewegung und die ökumenische Bewegung hineingewachsen. Das war eine Zeit großer Erwartungen und des Aufbruchs in der Kirche und das Konzil war für uns – da war ich junger Priester – wirklich eine großartige Erfahrung des Frühlings und großer Hoffnungen in der Kirche. Das hat mich bis heute geprägt.
Dann kam die nachkonziliare Zeit, die oft ein bisschen holprig und schwierig war. Während der Bischofszeit durfte ich die Kirche vor Ort erfahren und feststellen, dass es Gott sei Dank noch viel lebendigen Glauben gibt.
Als ich nach Rom berufen wurde, konnte ich mit Johannes Paul II. sehr gut zusammenarbeiten. Auch mit Benedikt XVI. gab es nie eine Schwierigkeit während seiner Papstzeit. Gut, wir sind auch verschiedene Persönlichkeiten, das ist halt so. Aber wir haben gut zusammengearbeitet. Franziskus hat dann wieder einen neuen Schwung gebracht. Das hat jetzt teilweise zu Irritationen geführt, aber das gehört ja auch zur Kirchengeschichte. Mit Franziskus bin ich innerlich sehr verbunden, aber ich bin nicht sein Berater, wie das oft dargestellt wird.
Ich muss hinzufügen, dass ich in Rom die Weltkirche neu entdeckt habe. Das erfährt man hier jeden Tag, dass die Kirche größer ist als Deutschland. Deutschland ist nur ein Teil und momentan auch gar nicht der allerlebendigste Teil der Weltkirche. Ich bin dann viel in der Welt herumgefahren, weil ich gewusst habe, Ökumene, das kannst du nicht am Schreibtisch machen. Du musst Menschen treffen, mit denen beten, mit ihnen reden, auch essen.
Zum Eindruck von der Weltkirche gehören auch die Orte, an denen die Kirche verfolgt wird, andererseits Orte, wo die Kirche aufblüht. Daneben bin ich in vielen Slums der Welt gewesen, auch so, meine ich, ist mir die Kirche nahegekommen. Jetzt im Alter reise ich nicht mehr so oft. Ich versuche noch durch Bücher und durch Vorträge – soweit es geht – zu wirken und ich habe sehr viel Besuch. Dazu habe ich jetzt mehr Zeit, und so fühle ich mich eigentlich ganz wohl und zu Hause in Rom.
DOMRADIO.DE: Die Ökumene ist Ihnen ein großes Anliegen und war lange Zeit auch Ihre Hauptaufgabe. Auf welchem Stand sind wir hier jetzt? Sie sagten einmal in einem Interview, es sei eigentlich noch viel mehr möglich. Was genau zum Beispiel?
Kasper: Wir haben sehr viel erreicht, das muss man sagen. Es ist einfach nicht wahr, dass nichts vorangegangen ist. Das Reformationsjahr hat uns schon emotional auch durch viele Zeichen, durch viele schöne Gottesdienste, den Besuch des Papstes in Lund, aber auch schöne Gottesdienste in Deutschland – auch hier in Italien ist sehr viel aufgebrochen – weitergebracht. Jetzt muss man weitermachen. Die Rechtfertigungslehre hat man in den Grundfragen gelöst. Das war auch die Grundlage, um ein gemeinsames Christusfest zu feiern.
Jetzt geht es weiter über Kirche, Eucharistie und Amt. Das hat sich der Einheitsrat jetzt vorgenommen. Das ist kein Projekt, das sich heute oder morgen lösen lässt. Das braucht ein paar Jahre. Da gibt es schon viele Vorbereitungen vor allem in Amerika und ich habe den Eindruck, dass wir da zumindest mit den Lutheranern im Kirchenverständnis sehr viel weitergekommen sind. Auch im Eucharistieverständnis mit den Lutheranern, die auf der Grundlage ihrer Bekenntnisschriften stehen, ist der Unterschied nicht mehr sehr groß, und auch im Amtsverständnis gibt es Annäherungen, wenn auch noch nicht eine volle Einheit. Und so hoffe ich, dass wir weiter kommen in diesen Fragen.
Die Kirche wird bei uns zahlenmäßig immer geringer und marginalisierter. Sie muss heute möglichst mit einem Mund reden. Wir können uns nicht mehr gegeneinander profilieren. Das ist Blödsinn, da verlieren wir nur! Deshalb ist Ökumene auch von diesem Gesichtspunkt aus sehr, sehr wichtig und ich denke, Schritte nach vorn sind möglich.
DOMRADIO.DE: Wie war Ihr Verhältnis zu Johannes Paul II.? War das ein wichtiges Zeichen, dass er jemanden aus einem von der Reformation geprägten Land holt und zum Präsidenten des Einheitsrats macht?
Kasper: Soviel ich weiß, war das sein Argument: Das muss einer sein, der Ökumene aus dem Leben kennt. Man kann ja den Unterschied der Konfessionen nicht bloß am Schreibtisch studieren. Man muss ihn erfahren haben. Dazu kam, dass der Papst meine Christologie gelesen und sie auch mal zitiert hat. Es war bei ihm einfach, wenn man ein Problem hatte und man dachte "Da musst du erst mit dem Papst reden", hat man beim Sekretär angerufen. Nach zwei, drei Tagen hat er zurückgerufen: "Na, können Sie nicht zum Essen kommen?" Und da konnte man beim Essen – einem Pranzo auf Italienisch – alles mit ihm besprechen.
Er hat dann oft bloß zugehört, aber er wollte wissen, was andere Menschen denken. Er war neugierig und es ist ja auch vernünftig: Einer, der leitet, muss wissen, was andere denken. So war es ein sehr vertrauensvolles und gutes Verhältnis mit ihm. Er war schon ein großer Papst.
DOMRADIO.DE: Wie war das ab 2005 dann mit Benedikt XVI.?
Kasper: Das war ganz anders. Benedikt XVI. kannte ich ja seit 1963, also bevor ich nach Münster kam. Ich habe mit ihm als Professor, später als Bischof, als Kardinal und dann als Papst, immer zu tun gehabt. Wir sind verschiedene Personen, das ist klar, und wir haben manchmal in der Theologie einen verschiedenen Zugang oder eine verschiedene Methode. Aber in der Sache waren wir uns immer einig.
Wir haben einige sehr ausführliche Gespräche gehabt, weil es ja auch schwierige Fragen waren. Aber wir haben uns immer geeinigt. Schwierig war es an sich nie mit ihm in der Ökumene. Zweimal ist es mit den Juden sehr schwierig geworden. Aber das waren keine Schwierigkeiten zwischen mir und Benedikt XVI. Da haben andere Dikasterien den Papst in die Falle laufen lassen und ich konnte mit dazu beigetragen, ihn einigermaßen wieder rauszuhauen.
DOMRADIO.DE: Das war die Sache mit der Karfreitagsfürbitte?
Kasper: Das war die Karfreitagsfürbitte und dann vor allem die Aufhebung der Exkommunikation von Richard Williamson. Das war natürlich eine Fehlentscheidung, aber seine Berater haben den Papst zuvor nicht informiert. Ich hatte ein langes Gespräch mit jüdischen Vertretern, etwa zwanzig kamen angereist aus den USA. Ich saß allein da, konnte die Entscheidung zwar nicht verteidigen, versuchte aber den Papst herauszuhalten und klar zu machen, dass ihm das Gespräch mit den Juden weiterhin sehr wichtig ist. Das war ein schwieriger Spagat. Doch nachdem die Kritik bei mir abgeladen war, verlief dann die Begegnung mit dem Papst sehr gut. Beide Seiten waren an der Weiterführung der guten Beziehungen interessiert.
DOMRADIO.DE: Sie kannten Benedikt XVI. schon als Professor Ratzinger sehr gut. Was war das für ein Mensch, dieser Theologe Ratzinger?
Kasper: Er ist ein spiritueller, hochintelligenter Mensch, aber auch ein sehr freundlicher und einfacher, eher introvertierter Mensch mit einem milden Humor. Er ist ein Mann der Kirche, aber alles andere als ein Fundamentalist oder gar ein Panzerkardinal, wie er dummerweise manchmal bezeichnet wurde. Er ist ein differenzierter Denker, mit dem man diskutieren kann. Das haben wir auch getan. Aber es war nie so, dass wir Gegner geworden wären. Disputation gehört nach meinem Dafürhalten zur Theologie. Anders kann man die Probleme nicht klären. Man kann diskutieren und doch Freunde bleiben. Wir haben uns das "Du" gegeben und schickten uns immer wieder Grüße und Veröffentlichungen.
DOMRADIO.DE: Ein theologisches Knackthema zwischen Ihnen und Ratzinger ist ja das Verhältnis von der Ortskirche zur Weltkirche.
Kasper: Ja, das war eine lebhafte und auch nötige Diskussion um die Frage, dass die Ortskirche nicht nur eine Provinz der Universalkirche, sondern wirklich Kirche am Ort ist und ihr jeweils eigenes Gesicht hat. Dabei waren wir uns einig, dass die Ortskirche nur in der Universalkirche existiert und die Universalkirche sich in Ortskirchen verwirklicht. Die eine Kirche ist keine Einheitskirche, sondern eine Einheit in der Vielfalt und eine Vielfalt in der Einheit des einen Glaubens und der Gemeinschaft in denselben Sakramenten.
Dabei ging es mir mehr aufgrund der praktischen Erfahrung als Bischof um das praktische Problem, dass innerhalb der einen Universalkirche die Ortskirchen mehr Spielraum haben müssen als es gegenwärtig der Fall ist. Wenn das nicht der Fall ist, dann schadet das nicht nur den Ortskirchen, sondern auch der Lebendigkeit der Universalkirche. Das hat Kardinal Ratzinger damals nicht so gesehen. Jetzt hat Papst Franziskus dieses Problem neu aufgegriffen und ich hoffe, dass es bei der geplanten Kurienreform zum Zug kommt.
DOMRADIO.DE: Dass Franziskus mehr Verantwortung an die Ortskirchen geben will, hat man auch bei "Amoris laetitia" gemerkt. Das Dokument hat aber auch für einigen Wirbel gesorgt. Kritiker sagen, das Papier sei nicht eindeutig genug. Sie haben "Amoris laetitia" hingegen verteidigt. Wie sehen Sie das, wenn Bischöfe dieses Schreiben zum Teil völlig unterschiedlich interpretieren?
Kasper: Solche Diskussionen hat es in der Geschichte der Kirche schon öfters gegeben und wird es auch in Zukunft geben. Das sollte man nicht allzu sehr dramatisieren. Papst Franziskus hat ja die Lehre von der Sakramentalität und von der Unauflöslichkeit überhaupt nicht in Frage gestellt. Er steht völlig auf dem Boden der Tradition. Gerade deshalb hat er auf traditionelle, von manchen vergessene Interpretationsprinzipien der Lehre zurückgegriffen und damit gewisse neuscholastische Verengungen wieder überwunden.
Ein solches Prinzip ist die Unterscheidung zwischen objektiv schwerer Sünde, die nicht unbedingt und in jedem einzelnen Fall subjektiv schwere Sündhaftigkeit bedeuten muss. Natürlich gilt das Gebot Gottes immer und überall. Die Kirche muss den Einzelnen auf den Weg der Gebote Gottes führen; sie kann sich aber nicht an die Stelle des persönlichen Gewissens des Einzelnen setzen. Das verlangt bei der Frage der wiederverheiratet Geschiedenen jeweils ein differenziertes Urteil. Es gibt ja nicht DIE wiederverheiratet Geschiedenen, die nun pauschal alle zur Kommunion zugelassen werden.
Papst Franziskus geht es um ein "discernimento", ein geistliches Unterscheidungsvermögen, das unterhalb der Lehre in der konkreten Praxis einen Spielraum lässt. Das war im Übrigen auch die Position des jungen Theologen Joseph Ratzinger.
DOMRADIO.DE: Benedikt XVI. hat Sie als Präsident des Einheitsrates erst einmal nicht gehen lassen, bis dann Kurt Koch als Nachfolger feststand. Haben Sie das als Wertschätzung empfunden?
Kasper: Es handelte sich um einen völlig normalen Vorgang. Jeder Bischof und Kardinal bietet mit 75 Jahren seinen Amtsverzicht an. Bei Kardinälen wird dann die Zeit fast immer noch etwas verlängert. Der Papst hat in dieser Zeit mit mir über die Nachfolge gesprochen. Als ich dann etwas über 77 Jahre alt war, also in einem Alter, in dem man im bürgerlichen Leben längst im Ruhestand ist, habe ich die Mitteilung bekommen, dass der Papst den Amtsverzicht angenommen hat.
Bei meiner letzten offiziellen Audienz hatte ich den Eindruck, dass der Papst mich fast darum beneidet hat, dass ich jetzt weggehe und frei bin, um Theologie zu machen. Das hätte er selbst wohl auch gerne getan. Zweieinhalb Jahre später hat er dann seinen eigenen Amtsverzicht angekündigt.
DOMRADIO.DE: Wie haben Sie diese Situation erlebt?
Kasper: Es war ein normales Konsistorium, in dem es um Heiligsprechungen ging. Wir sind am Schluss dagestanden, es wäre eigentlich der vorgesehene Zeitpunkt für den Päpstlichen Segen gekommen. Doch Papst Benedikt hat sich wieder hingesetzt, wir dann auch. Dann hat er auf Lateinisch begonnen: "Ich habe euch noch zu einem anderen Anlass zusammengerufen" und hat dann die bekannte, vorbereitete Rede gehalten. Seine Stimme war sehr schwach und die Akustik im Konsistoriensaal ist nicht sehr gut. Die meisten, auch ich, haben kaum richtig verstanden, aber doch innerlich fassungslos geahnt, um was es geht. Erst als nachher Kardinal Sodano als Dekan des Kardinalskollegiums laut vernehmlich auf Italienisch sprach, war es klar und die Fassungslosigkeit perfekt.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie wussten auch im Vorfeld überhaupt nicht, dass es da in diese Richtung gehen könnte?
Kasper: Es gab Zeichen, die aber erst im Nachhinein eindeutig zu interpretieren waren. Das gilt von der Tatsache, dass Papst Benedikt bei seinem Besuch am Sarkophag von Papst Coelestin V. sein Pallium, das Zeichen des Metropoliten, niedergelegt hat. Das zeigt, dass er offensichtlich schon lange mit dem Gedanken umging, damit gerungen und darüber gebetet hat. Es war seine Entscheidung, die er mit sich und mit Gott ausgemacht hat. Ich jedenfalls halte nichts von den Spekulationen, die jetzt angestellt werden.
Ein paar Wochen vor dieser Entscheidung hatte er mich zum Abendessen eingeladen. Dabei war ich erschüttert über den physischen Verfall, den ich bei aller vollen geistigen Luzidität wahrnahm. Als wir einige Jahre zuvor gemeinsam einen Karfreitagsgottesdienst verließen, den Johannes Paul II. schon nicht mehr halten konnte, sagte er zu mir: "Ja, wohin soll das jetzt noch führen?" Als Kardinal hat er die letzte Zeit der schweren Krankheit des Papstes ganz aus der Nähe miterlebt. Er hat mit großer Achtung von diesem Zeugnis gesprochen. Aber er wollte der Kirche eine zweite solche schwierige Zeit ersparen. Seine Entscheidung war auch Ausdruck seiner Verantwortung für die Kirche und der Liebe für die Kirche.
DOMRADIO.DE: Hat man sich hier jetzt im Vatikan an den Papa emeritus gewöhnt?
Kasper: Ich denke, ja. Franziskus und Benedikt haben ja ein sehr gutes, ein wirklich brüderliches, Verhältnis zueinander. Wenn es überall so in der Kirche zwischen Vorgänger und Nachfolger ginge, wäre es schön.
DOMRADIO.DE: Aber dennoch kommen Stimmen, die Regularien für den Umgang mit einem emeritierten Papst fordern, zum Beispiel wer ihn beerdigt. Typisch deutsch?
Kasper: Nein, diese Überlegungen gibt es auch sonst. Es wäre aber wenig rücksichtsvoll, das jetzt zu diskutieren. Da kann auch bis nach dem Tod von Benedikt warten. Der Titel "Papa emeritus" hat seine Probleme, und man wird ihn sicher nochmals diskutieren. Man kann einen emeritierten Bischof und einen emeritierten Papst nicht auf eine Linie stellen. Das Bischofsamt ist ein Sakrament, das bleibt auch wenn man nicht mehr Leiter einer Diözese ist. Das Amt des Papstes erlischt mit seinem Tod oder mit seinem Amtsverzicht. Doch diese Diskussion mögen andere führen.
DOMRADIO.DE: Benedikt hatte zunächst versprochen, im Verborgenen zu bleiben. Diese Rechnung ist ja nicht ganz aufgegangen. Obwohl mit Franziskus abgestimmt, hat vor allem sein letzter Text zu den Ursachen des Missbrauchsskandals zu einigen Irritationen geführt.
Kasper: Die Frage des Missbrauchs und der dadurch ausgelöste Skandal reichen in das Pontifikat von Papst Benedikt zurück. So kann ich verstehen, dass ihn diese Frage persönlich bewegt und er sich dazu in Abstimmung mit Papst Franziskus nochmals äußern wollte. In diese Äußerung sind aus seiner persönlichen Erinnerung einige geschichtliche Wertungen eingeflossen, die man unterschiedlich bewerten kann.
Ein Aspekt, den Benedikt beigetragen hat, scheint mir jedoch wichtig und auch richtig zu sein: Dort, wo die Ehrfurcht vor Gott schwindet, ist auch die Ehrfurcht unter Menschen in Gefahr. Diese Gefahr ist in unserer Gesellschaft offenkundig, und sie spielt auch eine Rolle bei der Frage des Missbrauchs von Menschen im Allgemeinen und des sexuellen Missbrauchs im Besonderen. Dieser theologische Gesichtspunkt schließt selbstredend vielfältige andere Aspekte allgemein-gesellschaftlicher wie spezifisch innerkirchlicher Art in keiner Weise aus.
Irritationen entstehen immer dann, wenn man ein so komplexes und im einzelnen Fall auch unterschiedlich gelagertes Phänomen wie den sexuellen Missbrauch mit einem einzigen Gesichtspunkt erklären und sich selbst dann aus der Verantwortung herausstehlen will. Ich habe nicht den Eindruck, dass Papst Benedikt das beabsichtigt hat.
DOMRADIO.DE: Sie sind jetzt 30 Jahre Bischof. Wird sich die Ämterstruktur der Kirche angesichts der gegenwärtigen Krise mittelfristig radikal ändern, jetzt wo Frauen den Zugang zu allen Ämtern fordern?
Kasper: Als Bischof wie als Theologe gehe ich davon aus, dass die Kirche eine ihr vorgegebene und ihr damit auch bleibend aufgegebene Grundstruktur hat. Sie kann und muss sie immer wieder erneuern; aber man kann sie nicht neu erfinden. Sie ist – was die Frauenordination angeht – allen ins erste Jahrtausend zurückgehenden Kirchen, also außer der katholischen Kirche auch den orientalisch-orthodoxen wie den byzantinisch-orthodoxen Kirchen gemeinsam, und sie hatte bis ungefähr ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts auch für die anglikanischen und die lutherischen Kirchen Geltung.
Während meiner Zeit im Päpstlichen Einheitsrat habe ich es schmerzlich miterlebt, zu welchen bis heute nicht gelösten Zerreißproben entsprechende Änderungen in der Anglikanischen Gemeinschaft geführt haben. Das möchte ich in meiner Kirche nicht. Dazu bestünde in der weltweiten katholischen Kirche auch keinerlei Konsens. Ganz im Gegenteil. Ganz anders steht es mit der von Papst Franziskus angeregten Erneuerung der synodalen Struktur der Kirche. Sie soll ein autokratisches, selbst-herrliches Priester- und Bischofsverständnis ablösen und ein neues Miteinander von Bischof, Priester und Laien eröffnen.
Ein solcher Rückgriff auf die altkirchliche Kirchenstruktur wäre die konservativste Erneuerung, die man sich denken kann. Mit ihr kann jede Diözese schon morgen anfangen. Sie würde Frauen bei allen innerkirchlichen Fragen Mitsprache- und Mitwirkungsrechte geben. Dazu kommt, dass es in der Kirche schon jetzt viele einflussreiche Ämter gibt und in Zukunft noch viel mehr geben muss, die nicht an die Priester- oder Bischofsweihe gebunden sind. Da besteht noch viel zukunftsorientierter Erneuerungsbedarf. Insofern habe ich für den Unmut vieler Frauen Verständnis. Das mahnt uns vorwärts zu gehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam einen guten Weg finden werden.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.
(domradio)
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