Handelsware Mensch: Eine Bestandsaufnahme zu Corona-Zeiten
Silvia Kritzenberger und Fausta Speranza – Vatikanstadt
Verschleppt, verkauft und als Zwangsarbeiter ausgebeutet: Das Phänomen der modernen Sklaverei wurde mit der Pandemie noch verstärkt und muss nun auf allen Ebenen der Gesellschaft bekämpft werden. Das fordert Kardinal Michael Czerny, seit Januar 2017 Untersekretär der direkt dem Papst unterstellten Abteilung für Migranten und Flüchtlinge des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen, im Interview mit Radio Vatikan.
Fast ein Drittel der Betroffenen ist minderjährig, 71% sind Frauen und Mädchen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) berichtet, dass 21 Millionen Menschen Opfer von Zwangsarbeit wurden, oft auch in Verbindung mit sexueller Ausbeutung. Dazu kommt noch das dramatische Phänomen des Organhandels, das sich Schätzungen entzieht, aber eine unbestreitbare Tatsache bleibt.
Talitha Kum: Im Kampf gegen den Menschenhandel an vorderster Front
Eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung dieser Verbrechen komme vor allem Talitha Kum zu, dem internationalen Netzwerk von Generaloberinnen, die sich gegen den Menschenhandel stellen, führt Czerny aus. Sie hätten mit der Hilfe des Heiligen Geistes auch während des Lockdowns immer Mittel und Wege gefunden, um ihren Dienst weiterzuführen.
„Das Traurige ist, dass es in diesen Monaten der Pandemie zu einer erschreckenden Zunahme des Menschenhandels gekommen ist,“ beklagt der Kardinal. „Und das muss uns schockieren: Wie kommt es, dass die Nachfrage in dieser Zeit, in der wir alle – „die Guten“ – zu Hause eingesperrt sind, steigt und nicht abnimmt? Das zeigt doch, dass wir die Wurzeln des Problems in den Häusern, in den Herzen der Menschen suchen müssen! Die Verbindung zwischen Menschenhandel und dem scheinbar normalen Leben scheinbar normaler Menschen ist ein Skandal, der uns zu denken geben, uns klarmachen sollte, dass wir alles tun müssen, um die Nachfrage – die der Motor des Menschenhandels ist, – ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen.“
Dass die Vereinten Nationen seit 2013 an den Internationalen Tag gegen den Menschenhandel erinnern und sich die Regierungen der Welt 2015 verpflichtetet haben, dieses „Phänomen“ zu bekämpfen, bewertet der Kardinal positiv: „Interessant ist hier die Zunahme des Bewusstseins. Wir haben auch viele neue Dienste der Kirche, die sich mit dieser Geißel befassen: Das geht von der Prävention über die Rehabilitierung bis zur Integration der Betroffenen. Unsere Verpflichtung darf sich aber nicht darin erschöpfen, Zahlen aufzulisten – wir müssen erkennen, dass auch unsere Entscheidungen zum Menschenhandel beitragen können...“
Ausbeutung billiger Arbeitskräfte: Die eigene Verantwortung hinterfragen...
Für die Ausbeutung anderer seien nämlich nicht nur die „Bösewichte“ verantwortlich, sondern auch wir selber, gibt Czerny zu bedenken. Auch alltägliche Entscheidungen – der Kauf eines Mobiltelefons, die Planung der nächsten Urlaubsreise – könne der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte Vorschub leisten. Es gelte also, auch unser soziales Verhalten zu hinterfragen, das die „Nachfrage“ nach Ausbeutung erst schürt.
Doch auch die Corna-Krise habe das Ihre dazu beigetragen, dass sich eine ohnehin schon dramatische Situation noch verschlechtert hat. Wie der Generalsekretär von Caritas Internationalis, Aloysius John, betonte, seien „in dieser Zeit der Ausbreitung von Covid-19 gefährdete Menschen einem größeren Risiko ausgesetzt, Opfer von Menschenhandel zu werden“. Das Netzwerk der 162 nationalen Caritas-Verbände und das christliche Netzwerk zur Bekämpfung des Menschenhandels (COATNET) beklagen, dass man in der Corona-Krise vergessen habe, die verheerenden Folgen zu berücksichtigen, die diese Pandemie vor allem für Migranten und Gastarbeiter hat. Daher der gemeinsame Appell von Caritas Internationalis und COATNET, die am meisten gefährdeten Arbeitnehmer zu unterstützen, also beispielsweise Hausangestellte und Beschäftigte in der Landwirtschaft und im Baugewerbe, unter denen oft Migranten zu finden sind.
Eine Erfahrung, die Talitha Kum nur teilen kann. Wie Sr. Gabriella Bottani, die internationale Koordinatorin der Organisation, betont, hat der Lockdown vor allem Menschen, die in extremer Armut leben, zu leichten Opfern von Menschenhändlern gemacht. Betroffen seien hauptsächlich Frauen, Kinder, ethnische Minderheiten und indigene Völker. Neben der Verbreitung des Virus sei der Verlust von Arbeitsplätzen der Hauptfaktor, den sich skrupellose Menschenhändler zunutze machen.
Nach Angaben von Talitha Kum hat auch die häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder zugenommen. Obwohl nicht Teil des Menschenhandels als solchem, könne sie ihn indirekt verursachen: schließlich könne auch häusliche Gewalt Menschen dazu zwingen, jeden nur möglichen Fluchtweg zu akzeptieren. Die weltweit durchgeführten sozialen und gesundheitlichen Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 hätten auch für Migranten verheerende Folgen, insbesondere für solche ohne Papiere und Aufenthaltsgenehmigung, gibt Talitha Kum zu bedenken.
Der traurige Stand der Dinge
Weltweit sind bis zu 10 Millionen Menschen, die Opfer von Menschenhandel werden, unter 18 Jahre alt; jedes 20. Opfer hat noch nicht einmal das 8. Lebensjahr erreicht. Die am weitesten verbreitete Form der Ausbeutung ist nach wie vor sexuelle Ausbeutung (84,5%), wobei Frauen und Mädchen die Hauptopfer sind. 95% sind zwischen 15 und 17 Jahre alt: Ein Phänomen, das mit dem Covid-19-Notstand neue Formen angenommen hat. Laut „Save the Children“ haben kriminelle Gruppen, die sich insbesondere der sexuellen Ausbeutung verschrieben haben, ihre Vorgehensweise der Lockdown-bedingten intensiveren Nutzung der Online-Kommunikation angepasst und die Präventionsarbeit der Institutionen und Nichtregierungsorganisationen damit deutlich erschwert. Besonders traurig: Die Daten von „Save the Children“ zeigen auch, dass Kinderpornographie in Europa gerade einen wahren „Boom“ erlebt.
(vatican news)
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