Unser Buchtipp: „Michelangelo“, ein großer Wurf
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
Jahrzehntelang hat sich Horst Bredekamp mit Michelangelo beschäftigt. In einem monumentalen Band legt der deutsche Kunsthistoriker, von dem auch das – aus meiner Sicht – bemerkenswerteste Buch über den Petersdom stammt („Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung“), nun die Summe seiner Forschungen über den Ausnahmekünstler aus Florenz vor: ein großer Wurf.
Gleich zu Beginn räumt der Autor mit einigen hartnäckigen Klischees über Michelangelo auf. Danach war dieser weder unbeherrscht, noch lief er in zerfetzter Arbeitskleidung herum; auch die angebliche Homosexualität Michelangelos hält Bredekamp für kaum belegt. Stattdessen zeichnet er das Bild eines atemberaubend modernen Künstlers: Er experimentiert von Kindheit an, gibt sich selten zufrieden, entdeckt den Reiz des scheinbar Unvollendeten und Fragmentarischen, streitet für die Republik – und tritt Päpsten mit ähnlichem Selbstbewusstsein gegenüber wie Luther, auf der anderen Seite der Alpen, Kaiser Karl dem Fünften.
Detailverliebte Analysen
Bestechend ist vor allem, wie genau Bredekamp die Genese der einzelnen Werke Michelangelos nachvollzieht und die Werke selbst in allen Einzelheiten untersucht: den David am Palazzo Vecchio in Florenz (wo Papst Franziskus am nächsten Sonntag an einer Mittelmeer-Konferenz teilnehmen wird), die Pietà in Sankt Peter, das Julius-II.-Grabmal mit dem Mose (in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli), die Fresken der Sixtinischen Kapelle. Dem scharfen Blick des Autors entgehen auch nicht die kleinsten Details – ja gerade aus ihnen entwickelt er schlüssige Thesen, etwa wenn er Ähnlichkeiten zwischen einem „Sterbenden Gefangenen“ aus Marmor mit einer Figur im Deckenfresko der Sixtina feststellt.
Überraschung: Michelangelo, der Empfindsame
Am meisten überrascht, wie sich der scheinbar aufs Kolossal-Übersteigerte versessene Michelangelo in Bredekamps Analyse als empfindsamer, sensibler Künstler herausstellt. Bei näherem Hinsehen wird offenbar, dass Michelangelo in Marmor und Freskofarben häufig gegensätzliche Emotionen gleichzeitig zum Ausdruck bringt – gerade dadurch sprechen seine Werke uns Heutige unmittelbar an. Sein David drückt das Hin- und Hergerissensein zwischen Kampfesmut und Angst in seinem ganzen Körper aus; sein Mose ist ein gemeißelter Widerstreit von Zaudern und Erregung. Nicht auf Überwältigung zielt Michelangelo, sondern auf umfassende Empathie – eine atemberaubende, aber überzeugend herausgearbeitete Interpretation.
Brillante Darstellung, verschwenderische Ausstattung
Bredekamp trägt seine Erkenntnisse flüssig und stilistisch brillant vor; souverän baut er Spannung auf und zieht den erzählerischen Bogen. Seinen Ausführungen sind Hunderte von Fotos beigegeben, die das Gesagte gleich plausibel machen. Überhaupt ist der Band von verschwenderischer Ausstattung. Hier werden wirklich Maßstäbe gesetzt. Nie wieder ohne Bredekamp nach Florenz oder nach Rom!
Horst Bredekamp, Michelangelo, Verlag Wagenbach, ca. 89 Euro
(vatican news)
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