Gorbatschow und Johannes Paul II. - zwei Charismatiker für Wandel
72 Jahre nach der Oktoberrevolution, die einen eisigen Winter für die Kirche und ihre Gläubigen eingeleitet hatte, sprachen Papst Johannes Paul II. und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow über die moralische Kraft der Religion. Kirchenverfolgung, Unterdrückung und Abqualifizierung von Religion als „Opium des Volkes" hatten jahrzehntelang kaum Ansatzpunkte für ein Gespräch geboten. Die herzliche und offene Begegnung vor 30 Jahren im Vatikan war historisch - ein Meilenstein in einem langen Annäherungsprozess.
Schon bald nach der Wahl des Reformers Gorbatschow an die Spitze des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei brachten Glasnost und Perestroika erste Erleichterungen für die Kirche in der UdSSR. Die Ost-Diplomatie des Vatikans, bislang an eine mühsame „Politik der kleinen Schritte" gewohnt, erntete plötzlich ungeahnte Erfolge. In Litauen konnte wieder eine katholische Hierarchie errichtet werden, ebenso in Weißrussland. Kirchengebäude wurden zurückgegeben, inhaftierte Geistliche entlassen, das „Image" von Kirche verbessert.
Am Rande der kirchlichen Tausend-Jahr-Feiern 1988 überreichte Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli in Moskau Gorbatschow einen Brief des Papstes. Johannes Paul II. regte an, die beiderseitigen Kontakte zu vertiefen. Gegenüber Journalisten hatte er erkennen lassen, den Kreml-Chef zu einem Gespräch zu empfangen, wenn die sowjetische Seite darum nachsuche. Moskau nahm sich für die Antwort 14 Monate Zeit, bis Gorbatschow die „herzliche und höfliche" Bitte um eine Begegnung äußerte.
Das historische Treffen von Papst Gorbatschow dauerte eineinhalb Stunden, für vatikanische Verhältnisse außergewöhnlich lang. Es rangierte als „offizieller Besuch", was mehr ist als ein privater Besuch und weniger als ein „Staatsbesuch". Es gab ein Ehrenpiket der Schweizergarde, aber keine Flaggen mit Hammer und Sichel. Beide äußerten den Wunsch, die bilateralen Beziehungen auszubauen - was in mehreren Etappen bis zum offiziellen Botschafteraustausch 2009 auch erfolgte.
Johannes Paul II. sprach gezielt die Leiden der Kirche im Kommunismus an. „Allen sind die Geschehnisse der vergangenen Jahrzehnte und die schmerzlichen Prüfungen bekannt, die so viele Bürger ihres Glaubens wegen erdulden mussten", sagte er und äußerte die Hoffnung auf weitere Verbesserungen für die Kirche. Der Kreml-Chef nahm den Ball auf: Die Menschen aller Religionen hätten das Recht, die „eigenen religiöse Bedürfnisse zu befriedigen". Das bereits geplante Gesetz für Gewissens- und Religionsfreiheit werde „in Kürze" angenommen, versprach Gorbatschow.
Begegnung zweier Charismatiker
Der sowjetisch-vatikanische Gipfel vom Dezember 1989 fiel in die Zeit des auseinanderbrechenden Ostblocks. Drei Wochen zuvor war die Berliner Mauer gefallen; es folgten die Regime in Prag, Sofia, Budapest und Bukarest. 1991 löste sich die Sowjetunion auf.
Mit Michail Gorbatschow und Johannes Paul II. waren sich zwei Charismatiker begegnet, die in ihrer je eigenen Weise Grenzen und Welten überwanden, Umbrüche einleiteten und Mauern hatten brechen lassen. Zwischen den beiden entwickelte sich eine regelrechte Freundschaft. Wiederholt traf der Friedensnobelpreisträger Gorbatschow auch im Rahmen seiner späteren Aufgaben mit dem Papst zusammen.
Die diplomatischen Kontakte zwischen dem Heiligen Stuhl und der Russischen Föderation entwickelten sich in den folgenden Jahren. Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin, später Dimitrij Medwedjew und zuletzt noch im Juli 2019 Wladimir Putin, kamen zu Papstaudienzen und Dienstgesprächen in den Vatikan. Themen waren die großen Fragen von Frieden, Gerechtigkeit, Rüstungsbegrenzung, Klimaschutz sowie die Kriegs- und Krisenherde der Welt, insbesondere im Nahen Osten.
Ein Punkt aus der Gipfel-Agenda von 1989 ist bislang immer noch nicht umgesetzt: Gorbatschow hatte den Papst zu einem Besuch in der Sowjetunion eingeladen, und Johannes Paul II. hatte spontan zugesagt - sofern die Lage es ihm möglich mache. Doch ein Moskau-Besuch des Papstes ist bis heute nicht in Reichweite. Nach Ansicht des russisch-orthodoxen Patriarchats war die Zeit dafür bislang „noch nicht reif". Und der russische Angriff auf die Ukraine und dessen Deckung durch das Moskauer Patriarchat haben die Beziehungen weit zurückgeworfen.
(kap/kna – schw)
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