Kardinal Tagle: China-Abkommen löst nicht alle Probleme
Ein Teil der Gläubigen freue sich über die vor vier Jahren zustande gekommene Einigung, ein anderer sei bestürzt, „das gehört zum Prozess“, so der philippinische Kurienkardinal, der selbst chinesische Vorfahren hat. Im Vatikan sei klar, „dass die Vereinbarung selbst zu Missverständnissen und Orientierungslosigkeit führen kann“, räumte Tagle ein. Viele chinesische Katholiken seien aber auch „dankbar und getröstet durch einen Prozess, der vor aller Augen ihre volle Gemeinschaft mit dem Papst und der Weltkirche bestätigt.“ Der Heilige Stuhl halte das Abkommen auch nicht für „die Lösung für alle Probleme“, es gehe darin ausschließlich um die Ernennung von Bischöfen; der Weg sei lang und anstrengend.
Im Folgenden eine Übersetzung weiter Teile des Interviews mit Kardinal Tagle, das der neue Leiter der vatikanischen Missionsnachrichtenagentur Fides, Gianni Valente, mit Kardinal Tagle geführt hat. Fides ist selbst dem Dikasterium für Evangelisierung angegliedert, das innerhalb der Römischen Kurie für die Agenden der katholischen Kirche in China zuständig ist.
Herr Kardinal, welche Kriterien haben den Heiligen Stuhl dazu bewogen, an der vor vier Jahren getroffenen Entscheidung festzuhalten?
Kardinal Tagle: Das 2018 unterzeichnete Abkommen zwischen dem Heiligen Stuhl und der chinesischen Regierung betrifft die Verfahren für die Auswahl und Ernennung chinesischer Bischöfe. Es handelt sich hierbei um ein spezifisches Thema, das einen Nerv im Leben der katholischen Gemeinschaft in China berührt. In diesem Land hatten die historischen Ereignisse zu schmerzhaften Rissen innerhalb der Kirche geführt, so dass das sakramentale Leben selbst mit einem Schatten des Misstrauens behaftet war. Es ging also um Dinge, die das innerste Wesen der Kirche und ihren Heilsauftrag berührten. Mit der Vereinbarung soll sichergestellt werden, dass die chinesischen katholischen Bischöfe ihre bischöflichen Aufgaben in voller Gemeinschaft mit dem Papst ausüben können. Der Grund dafür ist der Schutz der gültigen apostolischen Sukzession und des sakramentalen Charakters der katholischen Kirche in China. Und das kann die getauften Katholiken in China beruhigen, trösten und erfreuen. Der Heilige Stuhl hat immer wieder auf den begrenzten Charakter des Abkommens hingewiesen, das eine für die Kirche lebenswichtige Frage berührt und auch aus diesem Grund nicht auf ein Rahmenthema einer diplomatischen Strategie reduziert werden kann. Jede Überlegung, die diese einzigartige Physiognomie des Abkommens ignoriert oder verschleiert, führt zu einer verzerrten Darstellung des Abkommens.
Es ist noch nicht an der Zeit, eine Bilanz zu ziehen, nicht einmal eine vorläufige. Aber wie sehen Sie von Ihrem Standpunkt aus den Weg und die Auswirkungen des Abkommens?
Kardinal Tagle: Seit September 2018 wurden sechs Bischöfe nach den Verfahren der Vereinbarung geweiht. Die Kanäle und Räume für den Dialog bleiben offen, und das ist in der gegebenen Situation an sich schon wichtig. Indem der Heilige Stuhl auf die chinesische Regierung, aber auch auf Bischöfe, Priester, Ordensfrauen und Laien hört, wird er sich dieser Realität bewusster, in der die Treue zum Papst auch in schwierigen Zeiten und Kontexten als ein wesentliches Merkmal der kirchlichen Gemeinschaft bewahrt wurde. Wenn wir uns die Argumente und Einwände der Regierung anhören, müssen wir auch die Kontexte und die „forma mentis" unserer Gesprächspartner berücksichtigen. Wir stellen fest, dass Dinge, die für uns absolut klar und fast selbstverständlich sind, für sie neu und unbekannt sein können. Für uns ist dies auch eine Herausforderung, neue Worte, neue überzeugende und vertraute Beispiele für ihre Sensibilität zu finden, damit sie leichter verstehen, worum es uns wirklich geht.
Und was ist dem Heiligen Stuhl wirklich wichtig?
Kardinal Tagle: Die Absicht des Heiligen Stuhls besteht lediglich darin, die Wahl guter chinesischer katholischer Bischöfe zu fördern, die würdig und geeignet sind, ihrem Volk zu dienen. Die Förderung der Auswahl würdiger und geeigneter Bischöfe liegt aber auch im Interesse der nationalen Regierungen und Behörden, einschließlich derjenigen in China. Eines der Anliegen des Heiligen Stuhls war es immer, die Versöhnung zu fördern und die Wunden und Gegensätze zu heilen, die in der Kirche durch die erlittenen Prüfungen entstanden sind. Bestimmte Wunden brauchen Zeit und den Trost Gottes, um zu heilen.
Besteht nicht die Gefahr, die Probleme unter dem Schleier eines vorauseilenden Optimismus zu verbergen?
Kardinal Tagle: Seit Beginn dieses Prozesses hat niemand jemals einen naiven Triumphalismus geäußert. Der Heilige Stuhl hat nie davon gesprochen, dass das Abkommen die Lösung für alle Probleme wäre. Er hat immer wahrgenommen und bekräftigt, dass der Weg lang ist, anstrengend sein kann und dass die Vereinbarung selbst zu Missverständnissen und Orientierungslosigkeit führen kann. Der Heilige Stuhl ignoriert nicht die Vielfalt der Reaktionen der chinesischen Katholiken auf das Abkommen, bei denen sich die Freude vieler mit der Bestürzung anderer mischt, und spielt sie auch nicht herunter. Das ist Teil des Prozesses. Aber man muss sich immer „die Hände schmutzig machen" mit der Realität der Dinge, wie sie sind. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass viele chinesische Katholiken die vom Heiligen Stuhl in diesem Prozess verfolgte Inspiration begriffen haben. Sie sind dankbar und getröstet durch einen Prozess, der vor aller Augen ihre volle Verbundenheit mit dem Papst und der Weltkirche bestätigt.
Zivile Behörden sind an der Auswahl der chinesischen Bischöfe beteiligt. Aber das scheint keine Neuheit noch eine Besonderheit der chinesischen Situation zu sein...
Kardinal Tagle: Die Beteiligung der zivilen Behörden an der Wahl der Bischöfe hat sich in der Geschichte mehrfach und in verschiedenen Formen gezeigt. Selbst auf den Philippinen, meinem Heimatland, galten lange Zeit die Regeln des "Patronato Real", mit denen die Organisation der Kirche der spanischen Königsmacht unterstellt wurde. Franz Xaver und die Jesuiten führten ihre Mission in Indien auch unter der Schirmherrschaft der portugiesischen Krone durch... Dies sind sicherlich unterschiedliche Dinge und Zusammenhänge, da jeder Fall seine eigene Besonderheit und historische Erklärung hat. In solchen Situationen kommt es jedoch darauf an, dass das Verfahren der Bischofsernennung das garantiert und schützt, was die Lehre und Disziplin der Kirche als wesentlich anerkennt für das Leben der hierarchischen Gemeinschaft zwischen dem Nachfolger Petri und den anderen Bischöfen, den Nachfolgern der Apostel. Dies ist auch bei den derzeit in China angewandten Verfahren der Fall.
Die chinesische Regierung ruft die lokale Kirche immer wieder zu den Forderungen der „Sinisierung" auf...
Kardinal Tagle: Das Christentum hat im Lauf der Geschichte Inkulturationsprozesse immer auch als Anpassung an kulturelle und politische Kontexte erlebt. Auch in China kann die Herausforderung darin bestehen, zu bezeugen, dass die Zugehörigkeit zur Kirche kein Hindernis ist, ein guter chinesischer Bürger zu sein. Es gibt keinen Widerspruch, es gibt keine Eigenmächtigkeit, und in der Tat ist es gerade das Wandeln im Glauben der Apostel, das dazu beitragen kann, dass gute Christen auch gute Bürger sind.
Worauf kann sich der Heilige Stuhl in diesem Stadium des Prozesses und angesichts möglicher Verzögerungen und Komplikationen verlassen? Worauf kann er vertrauen?
Kardinal Tagle: Immer wieder tröstlich ist der Sensus Fidei, den so viele chinesische Katholiken bezeugen. Ein wertvolles Zeugnis, das oft nicht in gepflegten und umhegten Gärten, sondern auf unwegsamem und unebenem Boden gedeiht. Wenn ich mir die Geschichte des Katholizismus in China in den letzten Jahrzehnten ansehe, muss ich immer wieder an den Satz des heiligen Paulus im Römerbrief denken: "Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? Doch in alldem tragen wir einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat." So viele chinesische Katholiken haben am eigenen Leib erfahren, was der heilige Paulus schreibt. Die Drangsale, die Qualen, aber auch der Sieg, der ihnen durch die Liebe Christi geschenkt wurde.
Was ist denjenigen zu sagen, die behaupten, dass der Heilige Stuhl, um mit der chinesischen Regierung zu verhandeln, die Leiden und Probleme der chinesischen Katholiken verbirgt und ignoriert?
Kardinal Tagle: Vergangene und auch aktuelle Leiden und Schwierigkeiten sind dem Apostolischen Stuhl in Bezug auf die Angelegenheiten der Kirche in China stets vor Augen. Auch die heutigen Entscheidungen werden genau aus dieser Anerkennung und Dankbarkeit für diejenigen getroffen, die sich in Zeiten der Bedrängnis zu Christus bekannt haben. Der Heilige Stuhl pflegt in seinem Dialog mit den Vertretern der chinesischen Regierung einen eigenen, respektvollen Stil, ignoriert aber nie die Leidenssituationen der katholischen Gemeinschaften, die manchmal durch unangemessenen Druck und Einmischung entstehen, und macht sie immer wieder deutlich.
Was kann die Anerkennung der so genannten „klandestinen" Bischöfe durch den chinesischen politischen Apparat fördern?
Kardinal Tagle: Dies ist ein Punkt, der im Dialog stets berücksichtigt wird. Um die Lösung dieses Problems zu erleichtern, wäre es vielleicht für alle ratsam, sich vor Augen zu halten, dass Bischöfe nicht als „Beamte" gesehen werden können: Bischöfe sind keine „Beamten des Papstes" oder „des Vatikans", denn sie sind ja gerade die Nachfolger der Apostel; sie können auch nicht als „religiöse Beamte" weltlicher politischer Apparate oder, wie Papst Franziskus sagt, als „Staatskleriker" gesehen werden.
Sie wurden von Papst Franziskus als Präfekt der Kongregation für die Evangelisierung der Völker nach Rom gerufen. Welchen Eindruck haben Sie von den Formen und der Energie, mit der die chinesischen Katholiken ihre missionarische Berufung leben, gerade auch gegenüber den vielen Landsleuten, die Jesus nicht kennen?
Kardinal Tagle: Ich sehe, dass Pfarreien und Gemeinschaften in ganz China eifrig und sogar kreativ pastorale und karitative Arbeit leisten. Jedes Jahr gibt es viele neue Taufen, auch unter Erwachsenen. Es handelt sich um eine apostolische Arbeit, die von den chinesischen katholischen Gemeinschaften tagtäglich geleistet wird, immer im Einklang mit den Empfehlungen des päpstlichen Lehramtes, wenn auch mit vielen Einschränkungen. In den letzten Jahren haben die chinesischen katholischen Gemeinden das Jahr des Glaubens, das Jubiläum der Barmherzigkeit und viele karitative Initiativen während des Covid intensiv erlebt. Selbst als ich in Manila lebte, war ich immer wieder beeindruckt vom Zeugnis chinesischer Katholiken und anderer Gemeinschaften aus Ländern, in denen sie in der Minderheit sind und in schwierigen Verhältnissen leben. Die im Ausland lebenden chinesischen Katholiken helfen der Kirche in China auch weiterhin auf vielfältige Weise, indem sie beispielsweise den Bau von Kirchen und Kapellen unterstützen. Ortskirchen haben geografische Grenzen, aber es gibt einen menschlichen Raum der kirchlichen Gemeinschaft, der über Grenzen hinausgeht.
(vatican news – gs)
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