Kardinal Bertone: Erinnerung an einen sanften Menschen
Dies ist die gekürzte Fassung eines Artikels, den Bertone unter dem Titel: „Der Mann und der Papst“ in der italienischen Ausgabe der Vatikanzeitung „L’Osservatore Romano“ veröffentlicht hat.
Kardinal Tarcisio Bertone – Vatikanstadt
Meine Bekanntschaft mit Joseph Ratzinger begann zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils, als er ein sehr junger deutscher Theologe war, einer der schärfsten Köpfe der vorkonziliaren theologischen Szene. Obwohl er weder Mitglied noch offizieller Experte war, gehörte er dennoch zu den aktivsten Beratern der Konzilsväter und wurde auch außerhalb des deutschen Kreises angesprochen. Yves Congar erinnerte sich an ihn wie folgt: „Zum Glück gab es Ratzinger. Er ist vernünftig, bescheiden, uneigennützig, eine gute Hilfe“.
Als Student habe ich während meiner Doktorarbeit häufig die Konzilsaula betreten, um den Reden zuzuhören, und ich bin ihm zufällig begegnet, ohne ihn jedoch näher zu kennen. Stattdessen begann ich, ihn häufiger zu besuchen, nachdem ich zum Berater der Glaubenskongregation ernannt worden war, deren Präfekt Ratzinger (inzwischen Kardinal) war.
Das gegenseitige Verständnis und die Wertschätzung waren unmittelbar. Er rief mich oft in sein Büro, um über spezifische Probleme zu reden. Nach meiner Ernennung zum Sekretär der Glaubenskongregation 1995 intensivierten sich die Beziehungen, auch weil wir im selben Gebäude an der „Piazza della Città Leonina“ wohnten. Das Vertrauen reichte vom Austausch über Arbeitsprobleme bis hin zur Geselligkeit beim gemeinsamen Essen, auch mit den Schwestern des Hauses oder einigen Familienmitgliedern.
Aus der Einfachheit und Vertrautheit, die sich zwischen uns entwickelte, ist eine echte Freundschaft entstanden, die über die Zeit hinweg stabil geblieben ist – auch in den schwierigen Zeiten, die folgten. Gerade die Freundschaft mit einem diskreten Ton, der aber auch den einen oder anderen Witz oder die eine oder andere spitzfindige Bemerkung nicht scheute, war ein Charakteristikum Joseph Ratzingers.
Diejenigen, die ihn stereotyp als strengen, unflexiblen Mann, als Panzerkardinal usw. beurteilt haben, haben offenbar nicht seine milde Seite wahrgenommen, wenn es darum ging, den anderen, die Gründe des anderen zu verstehen, selbst in Konfrontationen und Gesprächen, die über wichtige Lehrfragen stattfanden. Wenn er bei der Lektüre der Protokolle der Korrespondenz zwischen der Glaubenskongregation und Bischöfen oder Theologen einen harten Ausdruck fand, korrigierte er ihn und empfahl, die Ausdrücke „abzumildern“, um die Gesprächspartner nicht zu verletzen und ihre Aufgabe zu respektieren, wobei er in aller Aufrichtigkeit dem besonderen Amt der Übermittlung des Glaubensgutes treu blieb. Eine Treue, die ihm bei manchen heftige Kritik und Beleidigung eingebracht hat, aber auch die Wertschätzung und Dankbarkeit vieler auch außerhalb des katholischen Kreises.
Präfekt Joseph Ratzinger sagte oft, dass es seine Aufgabe sei, den Glauben der Kleinen zu schützen, der Demütigen, die nicht über das kulturelle Rüstzeug verfügen, um den Fallstricken der zunehmend entchristlichten und säkularisierten Welt zu begegnen.
Diese Sanftmut gegenüber den Menschen durchdrang das gesamte Netz seiner Beziehungen. Oft ging er am Donnerstagmorgen zum Frühstück zu der früheren Hausmeisterin der Glaubenskongregation, die sich nach Gesellschaft sehnte. Als er Papst wurde, kümmerte er sich weiterhin um sie und ihre Gesundheit und setzte sich für ihre Aufnahme in einem Altersheim ein. Die Wertschätzung für den Präfekten, Kardinal Ratzinger, war unter den Mitarbeitern der von ihm geleiteten Behörde einhellig, nicht nur wegen der Weisheit seiner Beiträge, sondern auch wegen der Freundlichkeit und Aufmerksamkeit, die er allen entgegenbrachte.
Als Papst zeigte er auch gegenüber seinem Kammerdiener Paolo Gabriele nach der traurigen und verworrenen Affäre, die unter dem Namen „Vatileaks“ bekannt wurde, seine Barmherzigkeit: Er machte sich Sorgen um Gabrieles Familie und Arbeit und empfahl ihm, eine Unterkunft und eine Beschäftigung außerhalb des Vatikans zu suchen.
In der nicht seltenen Komplexität und Dramatik der Jahre seines Amtes (zunächst als Präfekt der Glaubenskongregation, dann als Papst), das er mit der Klarheit eines tiefen Glaubens und einer großen Kultur ausübte, zeichnete sich Joseph Ratzinger auch durch seine bescheidene Einfachheit des Lebens und seinen häufigen Aufruf zur Freude aus; Freude, die er oft in seinen Reden oder Predigten erwähnte und die er aus einfachen, alltäglichen Dingen schöpfte: die Schönheit der Natur, die Zuneigung von Kindern oder Menschen, denen er auf der Straße begegnete, als er im „Borgo Pio“ spazieren ging und noch nicht Papst war, das Leben mit seiner Schwester Maria… In der Weihnachtszeit konnte man erleben, wie er staunend wie ein Kind vor der Krippe stand.
Joseph Ratzinger hat uns als Lehrer des katholischen Glaubens ein umfangreiches theologisches Werk geschenkt, angefangen mit der berühmten „Einführung in das Christentum“ (1968) und später, gegen Ende, mit der Trilogie über Jesus von Nazareth. Außerdem hat er uns als Papst in seinem, wenn auch kurzen, Pontifikat drei Enzykliken von großem Wert geschenkt. Sie zeigen uns heute die Modernität von Benedikt XVI. und seine Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu lesen.
Jeden Montag habe ich in meiner Zeit als Staatssekretär mit ihm zu Mittag gegessen. Bevor er die Tagesordnung ansprach, tauschten wir Neuigkeiten aus, und manchmal fragte er mich nach den Ergebnissen von Fußballspielen, da er meine Leidenschaft für Sport kannte.
Nur ein einziges Mal habe ich eine schmerzhafte Meinungsverschiedenheit erlebt: als er mir im Frühjahr 2012 seine über einen langen Zeitraum im Gebet gereifte Entscheidung anvertraute, auf das Papstamt zu verzichten. Vergeblich versuchte ich, ihn davon abzubringen und ihm die Bestürzung zu erklären, die das für die gesamte kirchliche Gemeinschaft und darüber hinaus bedeuten würde. Die darauffolgende Zeit war für mich voller Sorgen und Ängste (ich habe versucht, ihn dazu zu bewegen, die Ankündigung so lange wie möglich hinauszuzögern), aber gleichzeitig beeindruckten mich die Ruhe, mit der er als Papst weiterhin die Kirche führte, und seine innere Überzeugung, den Willen Gottes zu tun.
Bei dieser Gelegenheit (seinem Rücktritt) hat sich der Papst mehr denn je als ein Mann Gottes erwiesen. Mit evangeliumsgemäßer Geradlinigkeit erklärte er der ganzen Welt, die den Sinn seines Verzichts wissen wollte, der Herr rufe ihn, auf den Berg zu steigen, um sich noch mehr dem Gebet und der Betrachtung zu widmen. Aber das bedeute nicht, dass er die Kirche im Stich lasse, im Gegenteil.
Der emeritierte Papst war mit seinem Nachfolger Franziskus durch den Dienst und das Band des Gebets eng verbunden. Ich hatte das Privileg, bei meinen Besuchen in seiner Residenz im Kloster Mater Ecclesiae diese Gestimmtheit seiner Seele aus nächster Nähe zu erleben. Es waren immer intensive Momente; und es zeigte sich, dass er, solange es seine Kräfte zuließen, den Weg der Kirche liebevoll begleitete.
(osservatore romano/vatican news – sk)
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